Abschnitt 6 - Einmal erweckt, schärft sich der Blick und gewöhnt sich an die Auffassung ...

Einmal erweckt, schärft sich der Blick und gewöhnt sich an die Auffassung jener feineren Elemente unserer Umgebung, an die Beobachtung ihrer besonderen Lebensäußerungen und Entwicklungsbedingungen. Weitere Übung unter günstigen Verhältnissen bewaffnet das Auge und befähigt es, die innere Struktur politischer Körper, gleichsam wie mit dem Mikroskop, sich zum Bewusstsein zu bringen. Und hier beginnt die politische Bildung. Sie gründet sich auf die mittelst geschärften politischen Sinnes gewonnenen Erkenntnisse, besteht aber keineswegs in der Summe des Wissens über soziale Tatsachen, sei diese Summe noch so groß, sondern in dem Ergebnis ihrer geistigen Verarbeitung. Sie stellt sich dar, analog jeder anderen und insbesondere auch der naturwissenschaftlichen Bildung, als die durch geschulte Beobachtung jener Tatsachen erworbene Einsicht in ihren Zusammenhang und in die Wirkungsweise der sie bewegenden Kräfte. Hier wie auf jedem Gebiet menschlicher Erkenntnis kommt es auf die Kausalzusammenhänge an, die nur mittelst methodischer Beobachtung des wirklichen Geschehens erkannt werden; einer Beobachtung, die freilich auf diesem Gebiete ihre besonderen Schwierigkeiten hat, wegen der Übersinnlichkeit der Objekte, wegen der Unmöglichkeit die Erscheinungen durch das Experiment zu isolieren, wegen des weiten zeitlichen Abstandes von Ursachen und Wirkungen. Kleinere Staaten, wie in unserer Nähe etwa die Schweizer Kantone, sind eben darum besonders bildende Objekte politischer Betrachtung, vermöge des kleinen Raumes, aus welchem dort das Spiel der staatlichen Kräfte im raschen Wechsel von Wirkung und Gegenwirkung sich bewegt. Immerhin ist durch bloß statistische Betrachtung des Gegenwärtigen allein politische Bildung nicht zu gewinnen. So einfach und durchsichtig ein gegebener politischer Zustand scheinen mag, er ist wirklich verstehbar und in Einsicht seiner künftigen Entwicklung übersehbar doch nur auf Grund seiner Vergangenheit. Erst ihre Geschichte lehrt uns, aus welchen Kräften eine heutige politische Tatsache entsprungen, welche Natur und Macht ihr daher eigen und welcher Verlauf von ihr zu gewärtigen sei, denn Nichts wird aus Nichts, das Gesetz von der Erhaltung und Verwandlung der Kraft gilt auch in der politischen Welt. Darum ist Geschichte, wie allbekannt, die große Lehrmeisterin in politischen Dingen, indem sie im Gegensatz zu einer blass äußerlichen Vergangenheitskunde das Gewesene nicht bloß verzeichnet, sondern aus dem Vorgewesenen erklärt und somit die Natur, Stärke und Richtung vorhandener politischer Kräfte enthüllt. Darnach erscheint historische Bildung als Voraussetzung und bestes Stück der politischen. Sie fällt aber mit dieser gleichwohl nicht zusammen: auch weite Geschichtskenntnis, so lehrt die Erfahrung, schützt nicht unfehlbar vor Beschränktheit und Verbohrtheit des politischen Blickes. Wir verlangen aber vom politisch Gebildeten, daß ihm ein gewisses - doch nur aus freier und scharfer Beobachtung der Gegenwart zu gewinnendes - Feingefühl innewohne, das ihn vor falschen geschichtlichen Analogien bewahrt, ihn deutlich unterscheiden lehrt zwischen absterbenden Resten der Vorzeit und fruchtbaren Keimen der Zukunft.

Aus dem Gesagten dürfte ohne weiteres einleuchten, warum zwei Fähigkeiten - die ich unter anderen als besonders charakteristische hier herausgreife - jedem Manne von politischer Bildung und nur einem solchen eigen sind.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung