Abschnitt 5 - Wenn dem nun also ist, daß Bildung sich differenziert, indem sie ihre besonderen ...

Wenn dem nun also ist, daß Bildung sich differenziert, indem sie ihre besonderen Voraussetzungen und Wirkungen hat, je nach den Gebieten seelischer Tätigkeit, aus welchen sie ihre Kraft entfaltet zur Schärfung oder Erregung eines psychischen Sinnes - so liegt nunmehr die Frage vor uns. Was ist insbesondere politische Bildung? was der spezifische Gegenstand des politischen Sinnes, wenn es einen solchen gibt?

Die Welt, in der wir leben, besteht nicht aus der Summe der vorhandenen teils belebten, teils leblosen Einzelwesen, es wäre so, wenn es keine Menschen gäbe. Der Mensch aber, seit er Mensch ist - wie weit das zurückreicht, ist unbeweisbar und hier gleichgültig - lebt und wirkt, nach dem tiefsinnigen Ausspruch des Aristoteles, als ..................... und er hat im Laufe ungezählter Jahrtausende unsere Welt erfüllt mit den Produkten seines geselligen Instinktes. Er hat sie bevölkert mit sozialen Gebilden mannigfacher Art, zumal mit jenen, welche wir politische Körper nennen und welche die gewaltigste Rolle spielen im praktischen Leben der Menschheit. Sie sind wesenhaft und wirklich, obzwar nicht greifbar; ungeheure Krafterscheinungen gehen von ihnen aus und ihr innerer Zustand greift auf das Empfindlichste ein in das Wohl und Wehe jedes Menschen; sie leben, wachsen und vergehen nach ihren besonderen Bedingungen und Gesetzen; sie sind sich selbst Zweck, wie Alles in der Natur. Denn auch der Staat ist ein Stück Natur - die ja doch wohl in den alten „drei Reichen“ sich nicht erschöpft, sondern auch das Menschenreich mit den ihm eigentümlichen Gebilden in sich schließt, wenn anders man unter „Natur“ den Inbegriff alles Gewordenen und naiv Daseienden verstehen muss im Gegensatz zum willkürlich Gemachten.


Insoferne also die Welt, in deren Mitte wir mit unserem Leiden und handeln, mit unseren Interessen und Schicksalen gestellt sind, weithin ausgefüllt erscheint von den Wirkungen und Gegenwirkungen jener realen politischen Potenzen, sprechen wir von der „politischen Welt“, als von einem bedeutsamen Teile des Weltganzen.

Wer nun für die Erscheinungen dieser Welt ein offenes Auge hat, dem schreiben wir politischen Sinn zu. Vererbt oder erworben kommt er in den verschiedensten Graden der Schärfe vor, in weiten Volksschichten fehlt er ganz oder erscheint rudimentär. Der politisch Blinde hat für die sozialen Phänomene überhaupt kein Wahrnehmungsvermögen, insbesondere an Stelle der die politische Welt erfüllenden Wesen sieht er leeren Raum, und ist ihr Name zu ihm gedrungen, so begreift er darunter eine Summe von Einzelpersonen oder ein Stück Erdboden, kurz was daran greifbar und darum für ihn wahrnehmbar ist. „Die Gemeinde“, der er angehört, bedeutet ihm die persönlich gekannten Genossen, oder aber das Gemeindegebiet; erst mit der Fähigkeit, hinter beiden zusammen ein drittes, wesentlich anderes, aber nicht minder wirkliches zu sehen und es, wenn auch durchaus unbewusst, von jenen greifbaren Dingen zu unterscheiden, erwacht der politische Sinn.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung