Abschnitt 2 - Unsere einzigen Arbeitswege sind Forschung und Lehren die eigentliche Erziehung, ...

Unsere einzigen Arbeitswege sind Forschung und Lehren die eigentliche Erziehung, die unmittelbare Einwirkung auf Gemüt und Charakter, liegt außerhalb der Sphäre der Universitas litterarum nach ihrem historisch überkommenen Wesen als organisierte Verbindung jüngerer und älterer Männer zur Überlieferung, Pflege und Erweiterung aller Zweige wissenschaftlicher Erkenntnis. Patriotismus aber ist ein habituell gewordenes Gefühl; das Gefühl engster Anhänglichkeit an unser Gemeinwesen, dessen Gedeihen als unser Wohl, dessen Missgeschick als unser Wehe empfunden wird, an dessen Ziele wir unser Bestes dahingeben, weil sie zugleich unsere Ziele sind, weil wir uns in jedem Augenblicke als ein lebendiges Atom fühlen im Leibe des siegenden oder fallenden, gesunden oder kranken, vor- oder rückwärtsschreitenden Ganzen. Die Gefühle der Menschen nun aber entspringen überhaupt aus Quellen, die nicht lehrbar sind. Dieses Gefühl insbesondere hat seine Wurzel in dem der menschlichen Natur ureigenen Sozialtrieb und zieht Nahrung aus allem, was die angebornen Empfindungen der Solidarität in gegebenen Menschengruppen zu stärken und auf immer größere solche Gruppen auszuweiten geeignet ist. Die Familie ist der erste und engste dieser Kreise. Nur wenige Unglückliche oder ganz Rohe empfinden sich nicht als Glied einer Familie und bleiben unberührt von Ehre oder Schande der Ihrigen. Aber in immer weitere Gesamtheiten führt uns das Leben und so erweitert sich der Spielraum für den Sozialtrieb, der Schulknabe in seiner Klasse, der Student in seiner Verbindung entwickelt Solidaritätsgefühle zu den Genossen, dauerhaft nicht selten bis ins späte Altern indessen der Vater daheim in seiner Dorf oder Stadtgemeinde sich längst mit seinen materiellen Interessen und mit dem, was er von ideellen hat, verwachsen fühlt mit dieser Gemeinde: denn ihre Wohlfahrtseinrichtungen kommen ihm greifbar und sichtbarlich zu gute, ihr wirtschaftlicher Aufschwung gibt auch seinem Erwerb Nahrung, ihr fortschreitender Reichtum an ideellen Gütern erfüllt ihn mit Stolz und Befriedigung, indem er von dem Lob, welches etwa der Fremde seiner Heimat spendet, sofort gleichsam den aus ihn persönlich entfallenden Bruchteil behaglich genießt. Weil dieser Bruchteil des Einzelnen umso größer ist, je kleiner das Gemeinwesen, darum ist der Lokalpatriotismus die ursprüngliche, die verbreitere und im gewöhnlichen Laufe der Dinge zugleich die intensivste Form des Patriotismus, wo daher Gemeinde und Staat zusammenfallen, wie in den antiken Stadtrepubliken, ist Vaterlandsliebe eine selbstverständliche Tugend jedes Bürgers. Je ausgedehnter aber der politische Körper ist, dem wir angehören, um so abstrakter und weniger greifbar werden die Fäden der Solidarität zwischen dem Glied und dem Ganzen, zumal für den gemeinen Mann ohne politische Bildung, um so schwächer wird also der materielle Reiz zur Auslösung von Solidaritätsempfindungen gegenüber dem Ganzen. Es bedarf mächtiger idealer Faktoren, um in Gemeinwesen wie unsere heutigen Großstaaten ein lebendiges Bewusstsein der sinnlich nicht mehr wahrnehmbaren Einheit mit dem Staate hervorzurufen und zu erhalten.

Ein gewaltiger Faktor dieser Art, wie bekannt, liegt in der gemeinsamen Erinnerung an eine große staatliche Vergangenheit. Indem der Bürger von heute die Erfolge seiner Vorfahren als die eigenen empfindet, indem er die politischen Taten der Führer seines Staates - zumal die persönlichen Leistungen einer nationalen Dynastie - auf das Staatsganze beziehen lernt und beziehen muss, um durch dieses Ganze hindurch für sich und die Seinigen daran teil zu haben, erweitert sich ihm die Liebe der engsten Heimat zum Staatsgefühl, zur Empfindung feiner Solidarität mit jenen gewesenen, gegenwärtigen und künftigen Geschlechtern, welche in ihrer ideellen Einheit dieser Staat sind und verwachsen mit dem heimischen Boden sein Vaterland ausmachen. So wird dem Volke jeder Nationalheld, der ethische so gut als der historische - heiße er Prinz Eugen oder Wilhelm Tell, Nelson oder Winkelried - zum Symbol seiner Einheit und Macht, dadurch ein fortsprudelnder Quell des Patriotismus, dem Staate aber ein unverlierbares Stück politischer Kraft.


Erinnerung an gewesene Größe erwärmt, der Ausblick auf eine große Zukunft vermag zu entstammen. Daraus beruht ein anderer stärkerer, mindestens heftiger wirkender Motor patriotischer Erregung. Wir sehen solche Erregung als eine akute Massenerscheinung auftreten, wo sich in einem Staatswesen aus einem kritischen Punkt seines Lebenslaufes mit ursprünglicher Gewalt die Idee einer politischen Mission, des Berufes zu machtvoller Gestaltung der Zukunft, erhebt und die Massen der Staatsgenossen zugleicht durchdringt und fortreißt. Die Geschichte der Osmanen im Mittelalter, die Geschichte Italiens in unserem Jahrhundert zeigt solche Momente. Hier ist es die treibende Idee im Ganzen, welche sich allen Teilen bis auf die Personenatome herab mitteilt, sie wuchtig zusammenballt und bis zur Fieberglut patriotisch erhitzt. Was aber in solch besonderen Perioden des Staatslebens mit besonderem Ungestüm auftritt, ist eine Kraft, welche auch sonst vorhanden ist und in gleichem Sinne wirkt. Ich meine die patriotischen Anregungen, die sich, im Gegensatz zu den aus der Staatsvergangenheit fließenden, auch in normalen Zeitläuften aus dem Vorgefühl der Staatszukunft herleiten. Leben ist Bewegung - auch für den Staat, mag er immerhin vom Stillestehen den Namen tragen, und mit Recht, insoferne er im Vergleich zur dahinflutenden Woge der sich ablösenden Geschlechter seiner Bürger als das Beharrende dasteht. Leben ist Bewegung, darum fühlt das kleine Partikelchen im großen Staatskörper sich um so eher als Stück eines lebendigen Ganzen, wenn es dessen Bewegung mitempfindet, ihre Richtung wahrnimmt, das Ziel näher kommen sieht. Wenn man absieht von der elektrisierenden Kraft überwältigender politischer Erfolge des Augenblickes und ebenso von jenem frischen Schmerz über ein großes nationales Missgeschick, welcher eine kräftige Bürgerschaft wie ein brennender Stachel zu patriotischer Leidenschaft treibt, - wenn man also nur die chronisch wirksamen Faktoren des Staatsgefühls in Betracht nehmen will, so weiß ich darunter keinen mächtigeren als eben jenes Mitempfinden einer Bewegung unseres Staatsganzen nach erkennbaren Zielen. In denjenigen Abschnitten ihres geschichtlichen Lebens, wo solche Bewegung vor sich geht, stetig in ihrer Richtung und klar auch für das Auge der Massen, erfreuen sich die Staaten dauernd der größten Zahl patriotischer Bürger.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung