Abschnitt 15 - Und hiermit kehren wir zum Ausgangspunkt dieser Betrachtungen zurück, ...

Und hiermit kehren wir zum Ausgangspunkt dieser Betrachtungen zurück, indem wir die Schlussfrage stellen: Was also haben wir Universitäten zu thun, um unseren Jüngern die geistige Ausrüstung zu beschaffen, welche ihr Jahrhundert dereinst von ihnen verlangen wird? Denn es ziemt uns den geistigen Zeitläuften voranzuschreiten, nicht abzuwarten bis das Schlepptau neuer Tage uns erfasst.
Vor allem wir Lehrer selbst müssen offenen Auges der Zukunft entgegengehen, im eigenen Geiste den Bannkreis der herrschenden Ideen durchbrechen und insgesamt zu einer politischen Weltanschauung uns erheben, dann wird ganz unbewusst in unseren Hörsälen und Laboratorien auf die Schüler ein geistiges Element ausstrahlen, welches den immer noch in der Luft liegenden naturwissenschaftlichen Chauvinismus zurückdrängt, es wird dann auch bei dem letzten Jünger der Naturwissenschaft eine Ahnung davon entstehen, daß es jenseits dessen, was man schneidet, misst und wägt, eine Welt von wirklichen Größen gibt, die zu ergründen und zu beherrschen eine ebenso würdige und wichtige Ausgabe menschlicher Kraft ist, als die Erforschung der Natur.

Sodann werden wir soviel an uns liegt tun, um an unseren Bildungsstätten nur in unserem Sinne vorgebildete Schüler zu versammeln. Wir werden darum festhalten am Gymnasium als dem einzigen Zugang zur Universität und unseren ganzen Einfluss aufbieten, die alte klassische Grundlage dieser Vorbildung zu erhalten und womöglich zu vertiefen, jene Grundlage, die der abziehende Geist dieses technischen Jahrhunderts gleichwie mit einem letzten Fußtritt uns zerstören will. Nicht wegen der allerdings hoch anzuschlagenden formalen Bildung, auch nicht um der ästhetischen Eindrücke willen, die Manchem die Prosa des späteren Lebens verschönen, halten wir fest am klassischen Gymnasium, sondern in erster Linie darum, weil allein der lebendige Zusammenhang mit dem von politischen Gedanken und Empfindungen erfüllten Kulturkreis des klassischen Altertums uns den fruchtbaren Boden herstellt für den methodischen Anbau politischer Bildung.


Endlich aber - und hierauf möchte ich das größte Gewicht legen - müssen wir uns unserer alten Einheit wieder bewusst werden, von der wir den Namen Universitas tragen, und sie auch praktisch wieder verwirklichen. Denn unsere Hochschulen, obwohl glücklicherweise immer noch durch ihre Verfassung äußerlich zusammengefasst, drohen innerlich auseinanderzufallen in mindestens so viele Fachschulen, als wir Fakultäten zählen. Es fehlt heute das innerlich verknüpfende geistige Band, es fehlt, was den alten Universitäten Scholastik, Kirchensystem, Reformationsidee, Humanismus, Philosophie im Wandel der Zeiten gewesen sind. Noch vor hundert Jahren und bis in die vorige Generation herab war es die letztere, welche neben und hoch über den Fachstudien das Interesse aller Universitätshörer vereinigte, in den Zeiten Kants, Hegels, Schellings schieden sich die Universitäten nach der an ihnen vorwaltenden philosophischen Richtung, und jeder Student, mochte er sonst Theologe, Jurist, Mediziner u. s. w. sein, holte sich vor allem in den tonangebenden großen Kollegien sein Teil an philosophischer Bildung und damit einen Grundstock von Überzeugungen und Lebensanschauungen, die ihm fürderhin mit allen Genossen der nämlichen Hochschule gemein blieben. Das ist dahin mit dem Verfall der philosophischen Produktion und dem Erlöschen der ehedem so lebendigen und verbreiteten Teilnahme an philosophischen Fragen, dahin, gewiss nicht für immer, wohl aber für absehbare Zeiten, während welcher die Vertiefung und Verzweigung der Einzelforschung fortschreiten wird, bis dereinst wieder eine Epoche der Zusammenfassung, der denkenden Bewältigung des angehäuften Stückwissens, ein neues Zeitalter der Philosophie erscheinen mag. Aber muss und darf einstweilen der Thron leer bleiben, von dem jene Königin herabstieg? Sollte es nicht möglich sein, vorerst wenigstens einen Teil des Interesses, welches unsere Väter metaphysischen Problemen entgegenbrachten, bei der studierenden Jugend aller Fakultäten für die staatlichen Gestaltungen der Gegenwart und die sozialen Ausgaben der Zukunft wachzurufen? Selbstverständlich nicht im Sinne wohlfeiler Effekte durch Behandlung politischer Tagesfragen, die immer fern bleiben müssen von den Schwellen unseres Musentempels. Wohl aber so, daß durch breit angelegte, dem Verständnis aller Universitätshörer angepasste historisch-politische Darlegungen über allgemeine Probleme des staatlichen Lebens ein tieferes Verständnis politischer Dinge überhaupt angebahnt, die wissenschaftliche Teilnahme dafür erregt und somit neben der Berufsbildung zugleich politische Bildung in den Geistern der Jugend gereist werde. Kommt alsdann, wie zu erwarten, auch der Zeitgeist solchen Bestrebungen förderlich entgegen, so wird es unter uns für die große Aufgabe an den rechten Männern nicht fehlen, und den rechten Lehrern nicht an dankbaren Schülern. Wieder, wie ehemals, wird man die größten Hörsäle sich füllen sehen mit Wissbegierigen aller Fachzweige, die als echte akademische Bürger nicht bloß Brotkenntnisse suchen, sondern eine umfassende Weltanschauung und vielseitige Bildung. Auch der Theologe, der Mediziner wird am Brunnen erscheinen und nicht ungestärkt von dannen gehen an seinen Lebensberuf. Was ein auch in seinen breitesten Schichten politisch gebildeter Klerus für den Staat bedeuten würde, führe ich nicht aus. Für das Volk aber in seiner großen Masse, wie es in Dörfern zerstreut unser Vaterland bewohnt, bilden der Pfarrer und der Arzt die beiden Augen, durch welche es die Welt der geistigen Dinge wahrnimmt; Widerspruch zwischen den von ihnen entworfenen Weltbildern verwirrt und beunruhigt; ihre Harmonie bedingt den friedlichen Fortschritt in der Kultur der Gemeinde. Die geistige Brücke aber zwischen beiden wäre eine gemeinsame Bildung, welche bewirkt, daß der Arzt weiter blickt, als er sieht, der Geistliche aber auch für die menschlich - sozialen Dinge ein offenes und geübtes Auge hat.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung