Abschnitt 13 - Hat denn nicht jeder von uns einmal in müßiger Stunde sich gefragt, worauf ...

Hat denn nicht jeder von uns einmal in müßiger Stunde sich gefragt, worauf denn eigentlich die auffallende Thatsache der politischen Überlegenheit des kleinen, geographisch und moralisch vielfach gespaltenen Europa über alle anderen Stücke der bewohnten Erde beruht? Eine Tatsache, die heute immer deutlicher wird, seit europäischer Einfluss, in Japan und Kalifornien Fuß fassend, über den Ozean herüber gleichsam handgreiflich den Erdball umspannt. Unsere Zivilisation ist es, die überall siegt, und wir durch sie, - das ist ein Gemeinplatz. Aber lange nicht so allgemein wird es empfunden, wie weithin der Inhalt dieser europäischen Zivilisation bedingt und erfüllt ist von der geistigen Hinterlassenschaft des Altertums, und zwar vor allem der Römer. Denn ohne diese gäbe es für uns kein Altertum: wer immer der Herkunft jener zahllosen in die Vorzeit zurückreichenden Dinge, aus welchen unsere Kultur überwiegend besteht, forschend nachgehen mag, den führen alle Wege nach Rom, beziehungsweise durch Rom. Ist dem aber also, so liegt hier klar vor Augen, wie die denkbar weiteste, stärkste und heilsamste praktische Wirkung - welcher gegenüber alle technischen Errungenschaften, die übrigens durch sie erst ermöglicht sind, als unter-geordneter Teil verschwinden müssen - von der politischen Lebensarbeit Eines Volkes ausstrahlt. Eine Arbeit, welche Leopold Ranke einmal zu dem Ausruf hingerissen hat. „ohne die Römer hätte die Weltgeschichte keinen Wert!“ Aber freilich vermag solche Leistung, weil sie eine rein und ausschließlich politische ist, weder vor den Augen bloß ästhetischer Geschichtsbetrachtung Gnade zu finden, noch den einseitigen Kulturmaßstäben einer mechanischen Weltanschauung zu genügen. -

Woher aber kommt die einseitige Herrschaft dieser Weltanschauung und welche Aussichten auf Dauer hat sie? Es sei gestattet, bei der Kürze der Zeit nur mit Andeutungen hieraus zu antworten.


In jedem Zeitalter richten die Menschen Auge und Sinn vorzüglich dahin, von woher ihre sichtbarsten Erfolge gekommen sind. Die unserigen bestehen in der Ausbreitung und praktischen Anwendung der Ergebnisse jenes gewaltigen Aufschwunges, welchen die exakten Naturwissenschaften seit dritthalb Jahrhunderten genommen haben. Das vorige Jahrhundert, mit seinen grundlegenden Entdeckungen, enthält den Höhepunkt dieses Aufschwunges - zugleich mit dem tiefsten Stand jenes politischen Elendes, welchem seit dem dreißigjährigen Kriege die Kulturländer Mitteleuropas verfallen sind. Auf der einen Seite staatliche Zustände, keineswegs darnach geartet, Freude und Interesse an politischen Dingen zu erwecken, auf der andern Seite die strahlenden Erfolge einer kraft unfehlbarer Methoden von Sieg zu Sieg schreitenden Naturforschung: kein Wunder, wenn die öffentliche Meinung, geblendet von solchen Erfolgen, schließlich nahezu blind wurde für die soziale Hälfte der Welt und ihre besonderen Lebensbedingungen. Was lag näher, als der verzweifelte Versuch, auch die brennenden politischen Fragen nach Art physikalischer Probleme zu formulieren und mit jenen erprobten Methoden zu lösen? Das Ergebnis war zunächst für die Theorie: die atomistische Gesellschaftslehre, nach welcher nur der einzelne Mensch Realität hat und Selbstzweck ist, folgeweise die eine ganze Literatur erfüllende falsche Frage nach dem „Zweck des Staates“ - so verkehrt als eine Frage nach dem Zweck der Flüsse oder Berge - und die Antwort darauf in den Lehren vom Naturstande, Gesellschaftsvertrag u. s. w. Sodann aber für die Praxis der Nationalismus, mit seiner Richtung auf absolute, gleich mathematischen Formeln über Raum und Zeit erhabene Lösungen politischer Ausgaben, in der Gluthitze der Revolution alsbald in jenen Radikalismus übergehend, dessen Zusammenhang mit der einseitig naturwissenschaftlichen Zeitbildung jüngst der Historiker Hippolyte Taine überzeugend dargetan hat. Zugleich mit seinen befruchtenden Erfolgen hat das Revolutionszeitalter auch die Einseitigkeit seiner sozialen Grundanschauungen dem politisch erschlafften Kontinent mitgeteilt, und bis in die Mitte unseres Jahrhunderts bleibt auf politischem Boden der natur-wissenschaftliche Geist in seiner Gestalt als doktrinärer Nationalismus heerschend, trotz Burke und Savigny. Er hat, unterstützt von weiteren Fortschritten der Technik bei andauernder Versumpfung der staatlichen Zustände, den politischen Sinn im Volke zurückgedrängt und den oben geschilderten Tiefstand der politischen Bildung herbeigeführt.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung