Abschnitt 12 - Wenn Chorführer verschiedener Richtungen der heutigen Geisteswissenschaft ...

Wenn Chorführer verschiedener Richtungen der heutigen Geisteswissenschaft in solcher Tonart singen, was Wunder, daß ihnen die breite Masse der Fachliteratur begeistert folgt und jeder Schriftsteller dritten Ranges für das von ihm angebaute Wissensgebiet die allein seligmachende naturwissenschaftliche Methode befolgt zu haben eifrig versichert, er vermeint, dadurch zum voraus einen Teil des wohlverdienten Prestiges der exakten Naturforschung für seine Bemühungen herangezogen zu haben, ahnt aber nicht, daß er in Wahrheit doch nur einem nichtigen und vergänglichen Zeitgeschmack seinen Tribut zollt.

Und noch ein Anderes erscheint mir in hohem Grade bezeichnend für den behaupteten Zustand unserer Zeitbildung: die Meinung über den eigentlichen Kern der Menschheitsgeschichte, wie sie bald hier bald dort, mehr oder weniger scharf ausgeprägt, in gelegentlichen Äußerungen hervorragender Führer unserer gelehrten Bildung zu Tage tritt. Denn unser inneres Verhältnis zur heutigen Welt spiegelt sich am klarsten wieder in unserer Wertschätzung der Vergangenheit, in dem, was von ihrem Inhalt in unseren Augen das wahrhast Wesentliche und Bedeutsame ist. Wenn nun einerseits wir einer ausschließlich ästhetischen Grundauffassung begegnen, die allein in den Hervorbringungen der Kunst und Literatur dieses Wesentliche erblicken will, andererseits aber vom Standpunkt der landläufigen naturwissenschaftlichen Weltansicht die Geschichte der Menschheit wesentlich zusammenfallen soll mit der Geschichte der Naturbewältigung: so ist eben das beiden sonst gegensätzlichen Anschauungen gemeinsame Negative, die Lücke, welche zwischen beiden Einseitigkeiten klafft, für die herrschende Zeitbildung so besonders charakteristisch. Denn mag man mit Herman Grimm den Faden der Universalgeschichte von Homer und Praxiteles auf Dante und Michelangelo führen, oder mit Dubois - Reymond von Archimedes auf Galilei, Kepler und Newton springen, immer bleibt das Übersprungene dasselbe: das Römerreich und seine Geschichte. Nichts ist bezeichnender für den auch in höchsten Bildungsregionen derzeit noch fühlbaren Mangel an politischem Sinn als dieses beiderseits sich ergebende bewusste Verhältnis der Ablehnung gegenüber dem römischen Abschnitt der Weltgeschichte. Sie ist, jenen Mangel vorausgesetzt, nur allzu begreiflich: haben doch die Römer in keiner Kunst Originales geleistet, haben sie doch keinen mathematischen Lehrsatz aufgestellt und kein Naturgesetz entdeckt, darum auch nicht rechtzeitig das Schießpulver erfunden, durch welches sie - nach einer bekannten, von Ottokar Lorenz meisterlich widerlegten Dilettantenidee - ihren Untergang hätten verhindern können. Sie haben ja bloß einen Staat aufgebaut, der die Welt des Altertums zusammengefasst, beherrscht, verjüngt und ihren Kulturinhalt auf uns gebracht hat, sie haben in einem tausendjährigen Staatsleben von unerhörter Kontinuität gezeigt, auf welchen Wegen und mit welchen Mitteln eine ebenso unerhörte politische Macht zu folgerechter Entwicklung gebracht wird, sie haben die politischen Traditionen geschaffen, ohne die es im Mittelalter kein Imperium gegeben hätte, so wenig als eine weltumspannende römische Kirche, Traditionen, ohne welche mithin in unserer Geschichte eben Das fehlen würde, was im spezifischen Sinne „Mittelalter“ heißt, und was unter den europäischen Völkern nur den „Russen fehlt“ sie haben endlich in Jahrhunderte lang fortgesponnener genialer Arbeit die Rechtsbegriffe gebildet, welche den Verkehr der zivilisierten Welt beheerschen, in der zu leben wir so stolz sind, und die Formen geprägt, darin ihre Rechtspflege sich bewegt bis aus den heutigen Tag. Eben diese Welt, indem sie sich „zivilisiert“ nennt, zollt durch den Instinkt der Sprache unbewusst den Römern ihren schuldigen Dank. Denn „civis“ heißt römischer Bürger! und „Civilisation“ deutet mit Grund auf eine gewisse Zugehörigkeit, wenn auch nicht mehr zur Bannmeile, so doch zum Bannkreis der politischen Gedanken und der juristischen Begriffe Roms.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung