Abschnitt 11 - Der einseitig naturwissenschaftlich Geschulte bleibt solchen Betrachtungen unzugänglich ...

Der einseitig naturwissenschaftlich Geschulte bleibt solchen Betrachtungen unzugänglich. Ihm sind die Potenzen der moralisch-politischen Welt (zwischen denen es, wie er meint, wissenschaftlich feststellbare Beziehungen nicht geben kann, weil sie nicht messbar sind) mehr oder weniger willkürlich aufgestellte und von Fall zu Fall passend einzurichtende Veranstaltungen, die rationell „gemacht“ werden können und sollen; Jurisprudenz bedeutet ihm die Kunde vieler wandelbarer, also zufälliger Paragraphe, und Politik die Fertigkeit für beabsichtigte soziale Funktionen die unfehlbaren Maschinen zu bauen. Er lächelt über ein neues Projekt des Perpetuum mobile, aber erörtert ernsthaft das „an sich richtige“ Wahlsystem und „die beste“ Verfassung; er wittert tückische Absichten bei den Machthabern, wo diese, politischen Notwendigkeiten weichend, die ,,einzig vernünftigen“, weil „natürlichen“ Zustände nicht herstellen, er ist völlig blind gegenüber politischen Kräften ohne greifbare materielle Unterlage. daß die imposanteste politische Macht Europas, die der römischen Kirche, ohne Heer bestehen und durch staatliche Verordnungen nicht gebrochen werden kann, bleibt ihm ein Rätsel. Als Wähler verlangt er von seinem Abgeordneten schlechtweg die „Durchführung“ des Programms bis zur Grenze des physisch Möglichen (wie als Bauherr von seinem Architekten die Ausführung des verabredeten Bauplanes); politische Unmöglichkeiten kennt er nicht; wenn also „das einzig Richtige“ wieder einmal nicht geschehen ist, so war der Misserfolg offenbar verschuldet, entweder durch Unverstand oder bösen Willen.
Ich will es vorsichtig dahingestellt sein lassen, wie viel von dem Gesagten für den Durchschnittsmann der in Rede stehenden Gesellschaftsklasse zutrifft; wenn auch nur Einiges, so steht es immerhin misslich mit ihrer politischen Bildung.

Sind denn aber die Höhen der wissenschaftlichen Welt und die auf ihnen voranschreitenden führenden Geister bewahrt geblieben von jener gefährlichen Verkehrtheit, welche die menschlich-sozialen Phänomene durch die Kategorien einer mechanischen Weltansicht begreifen will? Keineswegs. Sondern es wird der künftige Literaturhistoriker unseres Jahrhunderts zu verzeichnen haben, wie in fast allen Zweigen der Geisteswissenschaft eine widernatürliche - weil der Natur ihres Stoffes zuwiderlaufende - Invasion naturwissenschaftlicher Denkformen platzgegrissen, wie diese in gewissen Fällen die betroffenen Disziplinen gänzlich auf Abwege geführt, in anderen aber, mehr bloß die Oberfläche berührend, jene wunderliche Verschrobenheit in der formalen Stoffbehandlung erzeugt hat, die im Augenblick verblüfft, aber sobald der Reiz der Neuheit vorüber, als ,,Zopf“ empfunden wird. Beides tritt uns entgegen in tonangebenden Leistungen von hervorragenden Gelehrten unserer Zeit. Wir haben Henry Buckles „induktives“ Geschichtswerk und seine gewaltige Wirkung erlebt, wir sehen eine blühende Kriminalistenschule Italiens die Strafrechtswissenschaft in Psychiatrie auflösen, es werden bei uns und auswärts geistreiche Betrachtungen über Kunst, Liebe, Recht als „Physiologie“ dieser Dinge bezeichnet und behandelt (Mantegazza, Stricker), die moderne Sprachvergleichung wird als Naturwissenschaft ausgegeben (Max Müller); Ziviljurisprudenz nach der „physiologischen Methode“ (Ihering) und vollends die Staatswissenschaft in der Art reformiert, daß die Lehre vom „Bau und Leben des sozialen Körpers“ bis ins einzelne hinab nach dem Muster anatomischer und phsiologischer Systeme, unter Benützung ihrer technischen Terminologie, zur Darstellung gelangt (Bluntschli, Schäffte). Um beispielsweise in dem letzteren Fall den Zopf gleichsam greifbar erscheinen zu lassen, dürfte nur ein juristisch gebildeter Mediziner auf den Gedanken geraten die Umkehrung zu versuchen, indem er ein Handbuch der Physiologie nach zivilrechtlichem Muster verfasste, wobei sich Gelegenheit böte zu den lehrreichsten Vergleichen, wie z. B. des Blutumlaufs mit der Geldzirkulation, der Verdauung mit der Spezifikation, der Muskel und Bänder mit den Obligationen u. s. f., das Ganze könnte den Titel „Pandekten des menschlichen Körpers“ führen und zum Verständnis der wirklichen Hergänge in demselben vermöge seiner juristischen Parallelen genau ebensoviel beitragen, als die medizinische Terminologie zum Verständnis sozialer Ericheinungen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung