Abschnitt 1 - Alter akademischer Sitte gemäß habe ich bei der feierlichen Übernahme des Ehrenamtes ...

Alter akademischer Sitte gemäß habe ich bei der feierlichen Übernahme des Ehrenamtes an der Spitze unserer Hochschule deren Gäste und Glieder mit einer wissenschaftlichen Ansprache zu begrüßen. Aber nicht irgendwelche Ergebnisse von Einzelforschungen erwartet diese hochansehnliche Versammlung vom antretenden Rektor in dieser Stunde, sondern eine weiter ausgreifende Darlegung allgemeineren Inhalts, darin ein Stück seines wissenschaftlichen Glaubensbekenntnisses und damit seiner Persönlichkeit zum Ausdruck gelange. So wage ich es denn, Ihnen eine Reihe von Betrachtungen vorzulegen, deren Inhalt sich mir in der Ausübung meines akademischen Berufes ergeben und im Laufe der Jahre zur Überzeugung verdichtet hat. Einiges davon, wie ich wohl weiß, steht im Gegensatze zur communis opinio unseres Zeitalters, aber der Zweifel ist ja der Vater aller Einsicht und ganz besonders da, wo er in das vermeintlich Selbstverständliche seinen Stachel bohrt. Beweis wie Gegenbeweis freilich bleiben in gewissen Dingen ewig ausgeschlossen; der Kritik aber sollen alle Thore offen stehen, denn sie erst bringt Fluss in stockende Gedankenmassen und deren Reibung erzeugt den aufklärenden Funken. Darum sei die Hoffnung gestattet, es werden auch die hier zu entwickelnden Gedanken, einmal unter Diskussion gestellt, vielleicht erst im Feuer des Widerspruches sich Freunde gewinnen.

Den Anstoß und Ausgangspunkt zu den folgenden Betrachtungen bildet die oft gehörte Mahnung und Forderung an unsere Hochschulen, sie mögen auf eine erhöhte Pflege des patriotischen Geistes in der studierenden Jugend bedacht sein. In der Tat eine Forderung, die jedem pflichtbewussten akademischen Lehrer ernsthaft zu denken gibt, in Anbetracht dessen, wer fordert und was gefordert wird. Denn erhoben wird die Forderung, von wem immer sie ausgehe, stets im Namen unseres Vaterlandes, des Staates, dessen Geschöpf und Organ wir sind, dem wir als Korporation Bestand und Gedeihen verdanken, dem deshalb jeder einzelne von uns, innerhalb der Zwecke und Mittel des Ganzen, den Einsatz seiner vollen Kraft schuldet. Und was ist der Inhalt der Forderung? Wir sollen durch unsere berufliche Tätigkeit beitragen zur Erzeugung eines der edelsten Güter in dem immateriellen Besitzstande gesitteter Völker, eines der wirksamsten Machtfaktoren im Staatsleben, wir sollen in der Brust der um uns gescharten jungen Staatsbürger eine Gemütsverfassung bewirken, welche, indem sie das Ganze stärkt, den Einzelnen nicht bedrückt, sondern erhebt, also in jedem Sinne eine ideale Leistung an den Staat darstellt. Wahrlich eine herrliche Aufgabe, des Schweißes der Edelsten wert und würdig des auf das Ideale zielenden Lebensprinzips unserer höchsten Bildungsstätten - würdig aber denn doch auch einer nüchternen und genauen Untersuchung darüber, inwiefern und nach welchen Richtungen hin sie mit den spezifischen Mitteln, die uns zu Gebote stehen, gelöst oder doch gefördert werden kann.


Und leider stellt eine solche Untersuchung, im ersten Anlaufe wenigstens, kein erfreuliches Ergebnis in Aussicht, wenn einerseits die Natur jener spezifischen Mittel erwogen und andererseits schärfer ins Auge gefasst wird, worin denn eigentlich das besteht und wie es entsteht, was wir „Patriotismus“ nennen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber politische Bildung