Über klimatische Veränderungen und ihren Einfluss auf den Menschen

Nichts ist unwahrer, als vom Klima, wie von etwas Fixem, Feststehenden, Unveränderlichen und Unwandelbaren zu sprechen
Autor: Clemens, A. Dr. med (?), Erscheinungsjahr: 1852
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Klima, Klimaveränderungen, Natur, Umwelt, kulturelle Einflüsse, Erderwärmung, Erdoberfläche, Wälder, Wetter, Niederschlag
Aus: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Robert Prutz, Hermann Rost. Zweiter Jahrgang 1852. Juli – Dezember. Von Dr. med. A. Clemens.

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Wir sind zwar ein bildsamer Ton in der Hand des Klimas. Aber die Finger desselben bilden so mannigfaltig, die Gesetze, die ihm entgegenwirken, sind so vielfach, dass vielleicht nur der Genius des Menschengeschlechts das Verhältnis aller dieser Kräfte in eine Gleichung zu bringen vermöchte. Herder

Wenn es wahr ist, dass die geschichtliche Entwicklung eines Volks auf das Innigste mit seiner umgebenden Natur zusammenhängt und gleichsam von ihr bestimmt wird, so ist es nicht minder wahr, dass der Mensch auch umgestaltend auf die äußere Natur zurückzuwirken vermag. Der erste Satz gilt von dem Menschen im Urzustände, der zweite von dem kultivierteren. Jedes Volk modifiziert sich in seiner Kindheit geistig wie körperlich nach den ersten Eindrücken seines Himmelsstrichs. Jedes vorgeschrittenere Volk ändert die klimatischen Einflüsse, unter denen es lebt, zu seinem Nutzen und Frommen so um, dass dieselben nachher wieder umstimmend auf seine eigene Individualität zurückwirken. Nichts ist unwahrer, als vom Klima, wie von etwas Fixem, Feststehenden, Unveränderlichen und Unwandelbaren zu sprechen. Jede neue Erfindung, die dem Wohle der Menschen dient und den Bürger der Erde von seinen physischen Umgebungen unabhängiger macht, verschafft ihm gleichsam ein anderes, ein besseres, ein gesünderes Klima. Daher ist es keine Paradoxie zu behaupten, die Veränderungen, welche die klimatischen Einflüsse im Laufe der Zeiten erleiden, wären — zum Teil wenigstens — ein Werk des Menschen selbst. Alles, was ihn umgibt, gehorcht der Macht seines Geistes, der Ausdauer seines Körpers, der Kraft seines Willens. Der Mensch räumt Felsen aus seiner Bahn und leitet Seen ab. Er rodet Wälder und trocknet Sümpfe aus. Er pflügt da, wo man sonst schiffte. Nebel, Nässe und Miasmen verlieren ihre verderbliche Gewalt, wo er mit sorgender Hand waltet. Krankheiten verschwinden entweder ganz oder werden wenigstens in ihrem unbeschränkten Einflüsse durch die Macht der Kultur gebrochen. Der Himmel, der sich über den Menschen hinzieht, wird heller, die Winter werden sanfter und kürzer, die Flüsse gefrieren seltener. Mit dem mildern Klima werden es auch feine Sitten. Der Urzustand des Wilden, ein kümmerliches Dasein voll Not und Entbehrungen, weicht dem behaglichen Leben des Kultivierten. Ein Land, das im Laufe von Jahrhunderten seine Physiognomie gänzlich veränderte, muss auch für den Menschen veränderte Lebensbedingungen mit sich führen. Eine Wahrheit, die unumstößlich ist. Seitdem der europäische Fleiß Besitz von Nordamerika genommen, ist der Boden, die Luft, überhaupt das Klima dieses Landes in vieler Hinsicht wesentlich verändert. Seit die Waldungen gelichtet, die Sümpfe ausgetrocknet, der Boden angebaut, ist es auch hier wärmer und gesünder zu wohnen. Nach Jeffersons Beschreibung von Virginien ist jetzt sowohl Hitze als Kälte gemäßigter, der Schnee nicht mehr so häufig und tief, das Zufrieren der Flüsse seltener. Auf der Insel Madeira ist durch das Ausbrennen der dichten Waldungen das Klima besser und wärmer geworden. Als die Portugiesen Isle de France entdeckten, war die Insel voller Wälder und Regengüsse sehr häufig. Jetzt, da die Waldungen gelichtet, der Boden urbar gemacht, leidet die Insel Mangel an Regen. Das kleine Eiland, worauf Bombay liegt, war sonst so ungesund, dass man zu sagen pflegte: zwei Moussons sind dort ein Menschenalter. Allein seit man der schädlichen Gewohnheit entsagt hat, verfaulte Fische zum Düngen zu verwenden, ist auch das Klima weniger ungesund geworden. — Auf gleiche Weise nimmt in Wallis und andern Gebirgstälern der Schweiz und Württembergs die Zahl der unglücklichen Kretinen immer mehr ab, indem einesteils stagnierende Wässer ausgetrocknet und dadurch die Luft von Miasmen befreit, andernteils die zum Kretinismus neigenden Kinder in eignen zu diesem Zwecke gegründeten segensreichen Anstalten auf freie Gebirgsgegenden verpflanzt werden. Unter den klimatischen Einflüssen, die den Kretinismus zu einer traurigen endemischen Krankheit der engen, feuchten, keinen gehörigen Durchgang der Winde erlaubenden Gebirgstäler stempeln, bezeichnet Guggenbühl eine bisher noch nicht ermittelte Abnormität der Luft und faktisch nachgewiesene Erderhalationen als die bedeutendsten. Da es erwiesen, dass der Kretinismus nie eine Höhe von 3000 Fuß übersteigt, so war damit die Möglichkeit der Heilung durch Versetzung der damit Behafteten in eine reine Gebirgsluft gegeben. Getragen von dieser Idee begründete Guggenbühl im Jahre 1840 die Anstalt auf dem Abendberg, 3600 Fuß über der Meeresfläche, in einem Klima, wo reine Alpenluft, sonnige Lage, treffliches Wasser die kretinischen Kinder umgibt. Eine gleiche segensreiche Anstalt erblüht jetzt unter Leitung tüchtiger Ärzte und beschirmt von der besonderen Gunst der Kronprinzessin Olga zu Mariaberg im Königreiche Württemberg.