Ueber innere Mission

Aus: Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Herausgegeben von Robert Prutz. 1ter Jahrgang 1851. Januar-Juni.
Autor: Gutzkow, Karl (1811-1878) deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist, Erscheinungsjahr: 1851
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Innere Mission, Kirche, Religion, Staat und Gesellschaft, Missionare, Glauben
Es wäre sehr betrübend, wenn wir das Heil der Welt von der Seite her erwarten sollten, wo wir in diesem Augenblicke den Markt am belebtesten, die Erörterung über die Zeit am lärmendsten geführt hören. Der Weltgeist geht seine eignen Bahnen. Er steht, ein müßiger Zuhörer, da nicht still, wo wir unsre Tribünen, unsre Gaukelbuden, ja nicht einmal da, wo wir unsre Gerichtsschranken aufgeschlagen haben. Er wohnt im Walde wie ein Einsiedler oder schläft in einer Felsenspalte, wie jene greisen deutschen Könige, die auf ihre endliche Wiederkehr aus dem Kyffhäuser oder dem Untersberge ein wenig lange warten lassen. Es wäre sehr entmutigend, wenn wir den Weltgeist und seine großen schöpferischen Gedanken vom Elysée in Paris, von Sanssouci oder dem neuen diplomatischen Delphi, von Warschau aus, erharren und erhoffen sollten.

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Der Philosoph des Universums ist der Politiker der Dachkammer. Er beobachtet die Gestirne, hört das Rauschen der Winde, das Toben der Elemente; eine knarrende Wetterfahne ist seine Börse; Sternschnuppen sind seine telegraphischen Depeschen. Er liest den wahren Nostradamus aller geheimen Politik, die Geschichte, die echten, unverfälschten Jahrbücher der Klio, vergleicht und erläutert sie sich durch die Geschichte der Religionen und der Philosophien, und sein Ohr hört in der kleinen Dachkammer, sein Auge sieht beim Schimmer der Lampe mehr vom Weltgeist, als man in den Spalten einer Zeitung, im Portefeuille eines Ministers ahnt.
Perikles war so ein Metternich des Altertums, der die Geschichte nach der Börse und den telegraphischen Depeschen beurteilte, während Sokrates, Plato, Euripides in ihren Dachkämmerchen saßen und Ahnungen vom Christentum hatten. So mit der Reformation, der Revolution. Die kleinen Feldwege, die der Weltgeist liebt, besonders über Sümpfe hinweg, wo die Irrlichter der Träume und Irrtümer als Avantgarde der Wahrheit tanzen, diese Nebenwege sahen wir in der neuesten Zeit in Fülle. Was ist nicht Alles überraschend, völlig unerwartet gekommen! Wie viel Erscheinungen im sittlichen Völkerleben und im Gedankenleben tauchten anfangs gering und fast versteckt auf und nach wenig Jahren wurden die kleinen Saatspitzen Stämme und Wälder. Ein solcher, etwas dunkler und unheimlicher Wald ist z. B. der Kommunismus gewesen, von dem man vor fünfzehn Jahren wie von einer kleinen Kuriosität sprach und der sich später als ein so gefährlicher Hebel der Ereignisse erwies, als ein Geheimnis, das plötzlich Alle kannten, eine Anekdote, die plötzlich Geschichte geworden war.
So scheint es jetzt fast mit der inneren Mission zu sein. Es wächst unter diesem Namen etwas unter uns auf, was sich jetzt noch bescheiden wie ein Veilchen am Bache gibt, es aber mit Macht darauf anlegt, eine Zeder am Libanon zu werden. Da werden Vereine gestiftet, Sendschreiben gehen hin und her; die Netze, die fast nur wie in der Nacht ausgeworfen scheinen, werden immer größer und die Maschen immer kleiner; starke, kräftige Fischerhände leisten Aposteldienste, und schon predigt man Wunder und hat die Großen der Erde für sich gewonnen. Die innere Mission ist seit den beiden Konzilien in Wittenberg und Stuttgart keine kleine Konventikel-Frage mehr. Sie hat mit voller Offenheit einen Einblick geboten auf das große, erstaunlich angewachsene Feld ihrer Tätigkeit, sie veröffentlicht fortdauernd eine Statistik ihrer scheinbaren oder wirklichen Erfolge und ist so großartig organisiert, dass wir von einem in Berlin residierenden Zentralausschuss über alle Gegenden deutscher Zunge, alle Abzweigungen deutscher Abstammung bereits gegen einhundert und zwanzig Agenturen ausgegangen erblicken. Dies Wirken wird von Tage zu Tage bedeutsamer und es ist wohl an der Zeit, die Erörterung über Ursprung, Zweck und Mittel der inneren Mission so allgemein wie möglich zu machen.
Man ist vollkommen berechtigt, die innere Mission eine Parallele des Kommunismus zu nennen. Es ist die geistliche Kehrseite einer und derselben Aufgabe. Wie der Kommunismus anknüpft an die Leiden und Gebrechen der Gesellschaft, an die physischen und moralischen Krankheiten des Lebens, an Armut, Übervölkerung, Verbrechen, physisches und sittliches Elend, so die innere Mission. Nur in der Abhilfe dieser Missstände sind sich Beide, Pole desselben moralischen Durchmessers unsrer Erdkugel, völlig entgegengesetzt.
Der Kommunismus will die Menschheit verbessern, die innere Mission den Menschen. Jener führt alles Elend auf die Verderbnis des Staates, diese zunächst auf die Verderbnis der Kirche zurück. Beide sind darin einverstanden, dass ein einzelnes Heilen und Sorgen an einer einzelnen Stelle nicht mehr hilft. Jener hat offen die Notwendigkeit einer radikalen neuen Organisation der Gesellschaft und der allgemeinen Gleichberechtigung an den Gütern der Erde ausgesprochen; diese drängt, es ist unverkennbar, nach einer viel umfassenderen Form hinaus, als bisher in dem vereinzelten Wirken ihrer Vereine lag. Mit den Frauenvereinen, Krankenvereinen, Diakonen- und Diakonissenanstalten, den Bibelgesellschaften, den geistlichen Buchhandlungen, den Besserungsanstalten verwahrloster Kinder usw. allein ist der inneren Mission nicht mehr gedient. Sie strebt dahin, ein organisches Glied des Staates und der Kirche zu werden und alles das, was am alten Staate und der alten Kirche ihr widerspricht, nach ihrem Bedürfnisse umzumodeln und das ganze Leben in ihrer Art und Weise zu verjüngen und zu erfrischen.
Zwei Heilmethoden einer und derselben Krankheit müssen wohl die Aufmerksamkeit des Denkers erregen, vor allen Dingen aber die Tatsache feststellen, dass wirklich ein großes Übel, eine schwere Krankheit vorhanden ist. Die unglücklich ausgefallene Kur, die dieser Krankheit durch den Kommunismus wurde, kennen wir. Die neueste Geschichte hat uns mit genug Blut und Jammer das scheiternde Experiment dieser Kur in Paris vergegenwärtigt. Es ist wohl der Mühe Wert, zu untersuchen, ob die innere Misston die wahre Heilung bringen wird, den Arzt, der das rechte Wort des Lebens spricht.
In dem Worte „innere Mission“ liegt zunächst eine nach innen gewandte Bekehrung zum Christentum. Nicht in die Heidenwelt jenseits der Meere allein hätte der christliche Apostel zu ziehen, sondern in unsrer eignen christlichen Welt gab' es des Heidentums genug; Unglaube, Abfall, Feindschaft gegen Christus; und diese schlimmen Mächte zu bekämpfen, wäre Predigt, Lehre und Liebeswerk bei uns selbst am nötigsten. Man müsse die Ungläubigen, Abgefallenen und Feindseligen gewinnen; man müsse sie bekämpfen, wo sie störrisch sind; man müsse sie aufsuchen, wenn sie nicht von selbst kämen. Man müsse sich Jedem zu nähern suchen, dem Gesunden und dem Kranken, dem Reichen und Armen, man müsse zwingen, wo man nicht gutwillig Gehör gäbe, man müsse im rechten Geiste geben und im rechten Geiste nehmen. Das sittliche Verderben, das Unglück, die Armut und Krankheit wären allerdings die nächsten Pforten, wo die innere Mission anzuklopfen hätte: aber anzuklopfen wäre auch da, wo man des Arztes am wenigsten zu bedürfen glaube; mit einem Worte, überall, in allen Verhältnissen, in allen Ständen müsse wieder für Christus geworben werden und mit der Rückkehr zu dem Quell des Lebens, von dem sich die heutige Welt abgewandt hätte, würde auch wieder ihr wahrer Trost, ihre Erquickung und ihr Friede einkehren.

Wenn diese Definition des inneren Missionswerkes, wie ich glaube, die richtige ist, so kann die Frage entstehen, aus welchem Drange denn überhaupt ihr Wirken und Schaffen hervorging? Ist es der Drang der Liebe oder der Drang des Glaubens? Entsprang die innere Mission einem Herzen voll Mitleid, voll Schmerz über die Leiden der Menschheit, voll Liebe für die Armen und Kranken, oder entsprang sie einemglühenden Gemüt der Überzeugung, der Leidenschaft der Andacht, dem Zorn des Gläubigen über die Irrenden und Zweifelnden dieser Welt? Ich glaube, dass diese Frage der Angelpunkt ist, um den sich der Wert oder Unwert dieser neuen Kultur-und Zeitrichtung wendet und von dem aus man unser Volk zur Teilnahme an der inneren Mission entweder auffordern oder vor ihr warnen muss.

Ein frommes Gemüt, es mag sich binden lassen durch welchen Glauben es will, verdient Verehrung. Barmherzige Samariter sollen uns gesegnet sein, selbst wenn sie nicht die neue Weisheit von Galiläa erkannt haben. Wen der Drang der Liebe treibt an die Krankenbetten zu gehen, sich die Gefängnisse erschließen zu lassen, verlorene Seelen auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, wer wollte dem nicht die Krone der Heiligen geben? Anders aber ist es mit einer Wohltätigkeit, die nicht um ihrer selbst willen zu den Hilfsbedürftigen kommt, sondern ihr Liebeswerk nur als die Veranlassung einer zweiten Absicht, der Bekehrung, nimmt. Der Gewinn für den Hilfsbedürftigen, der im gespendeten Beistand liegt, mag derselbe und immer dankenswert bleiben, aber der Duft der Gabe ist doch schon verweht, die Blüte abgestreift, wenn der innere Missionar in einer weiter hergeholten Absicht kommt. Gegen die christlichen Krankenhäuser ist schon längst dieser Einwand der Missstimmung über ihre eigentliche tendenziöse Absicht erhoben worden; aber die ganze innere Mission hat diesen Makel auf sich haften, dass sie das Produkt einer sehr zweideutigen Liebe ist, eher das Produkt des Zornes, jedenfalls einer polemischen, den Kranken und Elenden mehr drückenden als erhebenden Absichtlichkeit.

Man kann wohl sagen, das gewöhnliche kirchliche Christentum will sich durch die innere Mission bei uns, in unsrer protestantischen Welt, auf seine alten Tage einen Reiz geben, der ihm nur schön stehen würde, wenn es der Ausbruch einer jugendlichen Schwärmerei wäre. Was rührt uns an einer frommen, treuen, hingebenden Seele, die das Himmlische aus Entzückung liebt, und was stößt uns ab, wenn wir eine ermattete Weltlichkeit am Ende ihrer Laufbahn, im Unvermögen ihrer abgestorbenen Kräfte, sich plötzlich dem Glauben und der Asketik zuwenden sehen? Die Pflege der Armen und der Kranken war des Christentums kindlicher Sinn. Dann kam eine lange Herrschaft der Weltlichkeit, des Genusses, der oberflächlichsten Äußerlichkeit. Selbst die Reformation später reformierte nicht jenen naiven Sinn der Liebe, sondern den streitsüchtigen, rechthaberischen, an sich edlen Zorn des Glaubens. Ja, durch Luthers Polemik gegen die guten Werke wurde sogar die helfende Werktätigkeit der christlichen Liebe in einen gefährlichen Misskredit gebracht und das kirchliche Leben immer trockner, ausgedörrter und saftloser. Jetzt mit einem Male will das alternde protestantische Christentum sich jene Naivität seines Ursprunges wiedergeben, will lehren auf den Gassen (ich erinnere an Wicherns Verlangen nach „Straßenpredigern“!), will die Armen speisen, die Nackten bekleiden, die verlorenen Schafe zur Herde zurückführen und das Leben, wie es nun einmal geworden ist, mit tausend Liebesarmen umfassen. Warum stehen wir ungerührt bei Seite und sehen zweifelnd und ungläubig diesen immer geräuschvoller werdenden und aufdringlicheren Mühen zu? Die katholische Kirche hat sich ihre Naivität erhalten. Diese leistet ohne Mühe, ohne Agitation, freilich auch ohne polemische Absicht, in aller Stille schon den größten Teil dessen, was unsre Hamburger, Berliner, Baseler, Duisburger geistlichen Retter der Gesellschaft mit so sicherer Beflissenheit ins Werk zu richten suchen. Da sind Bruder- und Schwesterschaften, Klöster, die einen eignen Zweig der inneren Mission allein betreiben, neue Orden tun sich auf zu diesem oder jenem wohltätigen Zwecke, eine unerschöpfliche Triebkraft macht sich an dem alten, abgestorben scheinenden Stamme immer wieder aufs Neue geltend, aber es macht sich alle diese Pflege und Liebe dort natürlich, freundlich, human, frei von Seitenblicken auf vergangenes und künftiges Leben, und innerhalb der Kirche selbst. Die protestantische hat sich in einseitiger Pflege des Gedankens einmal diese Wirkung auf die Gesellschaft entgehen lassen, und jetzt wollen unsre grauen, düsteren Asketiker das nachholen, was seit Jahrhunderten bei uns versäumt worden ist?
Die innere Mission betrachtet die leidende Menschheit als einen anatomischen Körper zu einem religiösen Experiment. In der Doppelsinnigkeit ihrer Liebesdienste liegt ihre Ohnmacht, wenn auch Fürsten und Fürstinnen mit Leidenschaft für ihre Zwecke wirken. Einem Kranken, der Heilung hofft, wird es gleich sein, ob man ihn z. B. in Berlin in eine Klinik oder nach Bethanien trägt, er will nur Rettung und dankt dem, der sie bringt, und wir wollen nicht minder Jedem danken, der rettet; aber wie der Arzt über ein Mittel, selbst wenn es einmal geholfen hat, doch für alle andern Fälle den Stab brechen kann, so soll auch das einzelne Gute, höchst Dankenswerte, was uns die praktische Anwendung der inneren Mission schon gebracht hat, nicht hindern, ihr Prinzip im Allgemeinen zu prüfen und die Gefahren zu erwägen, die ihre immer mehr geförderte Wirksamkeit begleiten dürften.

Die Gefahr der inneren Mission ist umso bedenklicher, als diese geistliche Reaktion mit Geschenken in der Hand erscheint. Sie knüpft an eine unermessliche, die ganze Welt beunruhigende Aufgabe an und benutzt sie, um immer weiter für ihre polemische Tendenz Fuß zu fassen und die Massen wie die Auswahl für jene Kirchlichkeit zu gewinnen, die der wahre Stachel ihrer wohltätigen Liebe ist. Sie bekennt es offen von sich selbst. Sie sagt nicht, ich komme um der Leidenden willen, sondern um des Unglaubens willen; sie will die „satanische“ Richtung der Welt bekämpfen, den Abfall von dem Gott, der ihr der einzig wahre und lebendige scheint. Wie gefährlich ihre Geschenke sind, beweist der Dienst, den sie dem Staate und der Kirche zu leisten sich anheischig macht. Der Kirche schreibt sie zwar, was die Lehre und das Dienen am Worte anlangt, ihren bestimmt bezeichneten Kreis vor, macht auch, da die vorhandenen theologischen Bekenntnisse ihr zu vielseitig sind, nicht jedem Geistlichen die Zumutung, in seiner Gemeinde Missionar zu sein; sie fürchtet eben, dass das theologische Bekenntnis, dessen Wiederherstellung sie anstrebt, nicht immer von dem jeweiligen Geistlichen in seine Liebeswerke, in seine Pflege und Seelenzucht mit einfließe. Aber sie bietet darum doch der Kirche die ganze Unterstützung ihrer Einwurzelung in die Familie, in Schule und in Haus, in Leben und Sterben dar. Sie will das Auseinanderfalten der Gemeinde, der sichtbaren Kirche aufhalten, sie will die geistliche Seelsorge mit verlorengegangenen Rechten wieder ausstatten, sie will die Wiederherstellung alter hierarchischer Formen anbahnen. Noch größer, da ihr eine gewisse Beengung durch die vorhandene Kirche und die Scheu vor der von ihr veranlassten praktischen Brachlegung des geistlichen Amtes wohl bewusst ist, sind die Dienste, die sie dem Staate anbietet. Nicht nur der Polizei entreißt sie große Sorgen, auch der höheren Politik bietet sie sich als Agent zur Bekämpfung des revolutionären Geistes an. Sie will durch ihren Traktaten- Bücher- und Zeitschriftenverlag, der in Hamburg, Berlin, Westphalen, Franken, Württemberg, der Schweiz im blühendsten Flore ist, die Lektüre aller Stände regeln; sie will die politischen, nicht im christlichen, d. h. duldenden und sich fügenden Sinne geschlossenen Vereine durch Gegenvereine bekämpfen, wie sie deren unter Handwerkern und Fabrikanten schon viele begründet hat; ihre Sendboten, die sie „Kolporteure“ nennt, sind angewiesen, überall das politische Verderben der Zeit im Auge zu behalten und nach jener Richtung hin zu wirken, die man einfach mit der Tatsache kenntlich macht, wenn man an den General der inneren Mission in Deutschland, Herrn Oberregierungsrat von Bethmann-Hollweg in Berlin und jene Stuttgarter Kirchentüren erinnert, von denen dieser Herr eine Aufforderung, für Schleswig-Holstein zu wirken, in jeder Beziehung ein umgekehrter Luther, eigenhändig abriss!

Müssen wir nun wegen ihrer geistlichen und politischen Tendenz das eigentliche Wesen der inneren Mission verwerfen und unsere Zeit vor dieser immer mehr um sich greifenden wühlerischen Reaktion warnen, so fühlt sich freilich wohl sogleich heraus, wie schwierig hier der Widerspruch der Freiheit und Vernunft geltend zu machen ist. Der falsche Schein der „Liebeswerke“, die Pflege der Armen, Kranken, die Besserung der Gefangenen, die Versorgung entlassener Sträflinge usw. das Alles sind hochwichtige und dankenswerte Leistungen, die, sie mögen fließen aus welcher Quelle sie wollen, doch immer Tränen trocknen, Elend mildern und manche treue und mildtätige Seele bewogen haben, Werke einer so notwendigen Barmherzigkeit zu üben. Die eigentlichen Agitatoren des reaktionären Zweckes stehen im Hintergrund. Im Vordergrund steht wirklich das unermessliche menschliche Elend, und wer könnte die, die hier an Krankenbetten warten und pflegen wollen, die Jammerhöhlen der Entbehrung besuchen und nicht bloß Wohltaten vorübergehend spenden, sondern sich um die dauernde Abhilfe mühen, hinwegscheuchen wollen? Der Tellschuss der Kritik ist hier so schwierig, da sie mit dem Apfel des Landvogts auch das Auge des Kindes treffen könnte. Noch mehr: — haben wir Freidenkenden einen Ersatz zu bieten? Können wir uns rühmen, zwischen dem chimärischen Schematismus einer neuen Gesellschaftsverfassung, wie sie der Kommunismus will, und den Schafskleidern der inneren Mission in der Mitte zu stehen mit einer lebenwirkenden, segenverbreitenden, in Liebe und Aufopferung starken Hilfe und einem Ersatze für das, was wir bestreiten müssen? Ist nicht im Gegenteil unsre kritische Vernunft sehr kalt, sehr bequem? Steht der Nüchterne da, wo es zu handeln gilt, nicht immer zurück hinter dem, den eine warme Überzeugung, und war’ es ein Irrtum, spornt? Den Enthusiasmus, die Schwärmerei des Irrtums können wir, das macht unseren Widerspruch gegen die innere Mission so zaghaft, nicht künstlich ersetzen. Kein Weihrauch, kein Dreifuß macht den wahrsagenden Apollopriester, wenn der Schwung des Geistes nicht schon ursprünglich in ihm vorhanden war, und die Geschichte lehrt uns, dass keine volle Saat und Ernte schöpferischer und welthistorischer Gedanken vom Tau des nüchternen Verstandes allein befruchtet wurde.
Einen Ersatz für die alte Gläubigkeit, scheint es, hat unser Jahrhundert auf dem Gebiete des Staates wohl schon in der politischen Märtyrerschaft gefunden. Auf dem Gebiete des Staates kämpft die schwärmerische Neuerung nur noch mit dem nüchternen Verstände und der blinden unheiligen Leidenschaft des konservativen Interesses. Unsere schwärmerischen Regungen auf dem kirchlichen Gebiete dagegen flogen nur mit matten Fittichen empor. Es gibt eine enthusiastische Wahrheit in denen, die sich neuerdings zu den deutsch-katholischen und freien Gemeinden bekannten; auch zweifeln wir nicht, dass der flammende Überzeugungstrieb, der diese Gemeinden doch wohl gebildet hat, bei einem größeren religiösen Bedürfnis unsrer Zeit und bei minderer Hartnäckigkeit der polizeilichen Verfolgung sich auch nach der Seite des Lebens im Allgemeinen hin schöpferisch und in Liebe tatkräftig wirkend würde entwickelt haben. Jetzt aber bei der kühlen Neutralität, die die Bildung bei diesen kleinen Kämpfen und Hetzjagden auf diesem Gebiete beobachtet, ist kein Surrogat vorhanden, das den schwärmerischen Drang der inneren Mission bei uns ersetzen könnte. Wir lassen sie walten, weil wir wohl fühlen, dass uns der Trieb, die Kranken und die Armen aufzusuchen, fehlt und wir mit all unfern Erwägungen über die Dinge, wie sie besser sein könnten, gegen Denjenigen zurückstehen, der selbst Hand anlegt. Wo ist die Kraft von gleicher Wirkung bei den Freien und Vorurteilslosen, die es mit dem Drange der inneren Mission aufnehmen könnte?

Dennoch frage ich: warum sollen wir nicht auf uns selber hoffen? Ich denke, wenn, wie der Dichter sagt, „alle Blütenträume reifen“, wird auch jene Kraft nicht fehlen. Nur können wir sie nicht mehr von der religiösen Seite her erwarten. Sie muss von der politischen kommen. Verbunden mit jenem milden und weichen Sinne, den das Zeitalter seiner Bildung, seiner Erziehung, seiner Literatur und Kunst und der geläuterten Religion des Herzens verdankt, muss sich aus unserem Staatsleben doch zuletzt eine Tugend entwickeln, die sich der politischen Tugend der Alten in dem Grade nähern wird, je mehr der Staat die ganze Widerspiegelung unsrer Wünsche, die Erfüllung unsrer politischen Bedürfnisse wird. Die gesteigerte öffentliche Tugend wird es in dem Falle mit den Motiven der inneren Mission aufnehmen können, dass der Staat zu jener Vollendung gelangt, die es uns zur Freude macht, sein Glied zu sein. So lange wir, um nur zunächst Deutschland zu nehmen, ein zerrissenes Volk sind, hingegeben der Willkür der Fürsten, jetzt sogar abhängig von der Gnade der großen fremden Souveräne, solange wir in den Fesseln der feudalen Überlieferungen schmachten und nicht an dem Gange der öffentlichen Angelegenheiten unsre vollste Genüge finden, solange wird uns auch die Lust und das Behagen fehlen, alle unsre nachbarlichen Sittenzustände mit uns auf eine gleiche Stufe des Behagens zu bringen. Nur in einem von Beamten-, Adel- und Militärdruck freien Bürgerstaate wird die warme Liebe zum Gemeindewohl erstarken, wie man schon allein an unsrer nationalen Zersplitterung sich überzeugen kann, dass sie allein die Schuld trägt, wenn nicht sogleich ein Stamm des Südens die Leiden eines Stammes im Norden wie seine eigenen nachfühlt. Die öffentliche Tugend wusste es bei den Alten, warum sie bereit war zu allen Opfern, zu allen Tributen der Liturgien, der Gemeinwohlspenden; sie wusste, sie war an dem Bestehenden innerlichst und persönlichst interessiert. Man entferne jetzt auch bei uns den Zorn aus unserm Blute, den Missmut aus unseren Stimmungen, die Verzweiflung aus unsern Hoffnungen und wir werden Auge und Ohr für das Kleinste in der Gesellschaft haben und jedes fremde Leid um des uns liebgewordenen Staates willen wie unser eignes betrachten. Jetzt ziehen wir uns vom Allgemeinen zurück, müssen es tun, um uns zu schützen in den Schwierigkeiten, die mit einer freien Überzeugung verbunden sind. Wo bleiben da bei aller Milde unseres Herzens die Kranken und die Armen? Man überlässt sie dem Polizeistaate, wie er einmal ist und denen, die es sich zur Ehre anrechnen, diesem Polizeistaate gleichgestimmt oder aus andern Motiven zu dienen.

Aber das ist ewig wahr! Der freigewordene, vollendete, auf Menschenrecht begründete Staat wird auch den Menschen selbst veredeln. Das Menschenrecht wird das stärkere Gefühl der Menschenpflicht erwecken. Der Hass wird schwinden, die Liebe seinen Platz einnehmen. Dem Nächsten Gutes zu tun wird die gemeinsame Bürgerpflicht werden. Man wird mit Freuden Ämter der Pflege und Sorge annehmen, die uns nichts eintragen, als das Bewusstsein, dem Bestände des Allgemeinen genützt zu haben. Mit Freuden wird man zu den Armen und den Kranken gehen, wenn es unsre politische Ehre, die Notwendigkeit, einen Beweis für unsere öffentliche Tugend zu führen, erfordert. Diakonissen- Blinden- Taubstummen- Kinderbewahranstalten, die jetzt unter der Protektion der Prinzessinnen und der exklusiven Gesellschaft stehen, würden, der Bürgschaft eines glücklichen, nach allen Richtungen erlösten Staates anheimgestellt, tausendfache Gelegenheit bieten, Milde des Herzens, noch wache christliche Liebe und Aufopferung zu zeigen, auch ohne innere Mission. Das Motiv der öffentlichen Tugend würde viel reifere Früchte zeitigen, als jene schleichende Polemik eines religiösen Zornes, der die Maske der Liebe, um seinen Hass zu verbergen, vornimmt.
Schon jetzt tritt in Amerika und England, auf dessen Wohltätigkeitsanstalten sich die deutsche innere Mission so oft beruft, das Liebeswerk der Rettung und der Heilung unsrer Gesellschaftsschäden viel harmloser, viel mehr als Ausfluss eines nationalen Ehrgefühls und einer reinen mildgestimmten Humanität auf, als bei uns. Der christliche Stempel fehlt natürlich auch dort nicht; allein weit mehr als bei uns wird das innere Behagen Derer sichtbar, die das Gute tun, um sich selber zu genügen. Die werbende, wühlende, zelotische Absichtlichkeit fehlt. Man gibt und straft mit dem Geben nicht. Man hat zunächst den Himmel, dann aber auch die Ehre eines großen Volkes vor Augen, die Konsequenzen freier Institutionen, deren Misstände man auszugleichen hätte. Man will dort nicht mehr mit diesen Werken der Liebe sagen, als die Unzulänglichkeit des Staates ergänzen und eine Lücke des Weltplans ausfüllen. Man gebe England eine neue Verfassung und stürze die Verhältnisse um, auf welche sich dort das Übermaß der ungleichen Verteilung der Güter des Lebens gründet, und man würde jenem antiken Motive der Staatstugend, das allein schon ausreicht, das Elend und die Verbrechen der Gesellschaft zu überwachen, jenseits des Kanals fast völlig gleichkommen. Und von Amerika zu sprechen, so erinnern wir nur beispielsweise für die dortige Auffassung der inneren Mission an die klare, ruhige, humane Art, mit der die von dorther entsandten Friedensapostel in der Frankfurter Paulskirche sich als wirkliche Boten der Liebe zu erkennen gegeben haben.
Möge ein guter Genius über Europa walten, um uns vor dem Übersturz in einen blind experimentierenden Kommunismus und dem Rückfall in die unheimliche Dämmerung der inneren Mission zugleich zu bewahren! Zwischen zwei Extremen liegt die Wahrheit meist in einem über sie hinausragenden Dritten. Ein solches Drittes ist hier der entfesselte Staat. Aufforderung genug, stark zu bleiben in dem Kampfe für politische und nationale Freiheit! Ein großes freies Volk, das sich in seinen Institutionen selber liebt, wird sich seinen Stolz und sein Behagen nicht trüben wollen durch die Roth und das Elend, das etwa auf dem Tummelplätze seiner Freude noch Raum hätte. Wer einen schönen Palast baut, ruht nicht, bis eine baufällige Hütte, die er neben sich nicht niederreißen darf, mindestens ein gefälligeres Aussehen erhält und die Symmetrie seines eignen Besitzes nicht stört. Das eigne Behagen kommt dem Nachbarn zu Gute. Wenn Christus sagte: Den Armen wird das Evangelium gepredigt! so sollte dieser Trost nicht heißen, die Armen sollten mit dem Evangelium für das, was ihnen sonst entging, schadlos gehalten werden, sondern es hieß: Dass das Evangelium Allen gepredigt wird und die Reichen zu ihren Menschenpflichten auffordert, das eben wird auch den Armen zu Gute kommen! Erginge bald an uns die Botschaft von einem Staate, an dem unser ganzer intellektueller und sittlicher Mensch seine Genüge fände, wie sollte auch diese Botschaft wieder den Armen zu Gute kommen! Erfüllt von der Harmonie des Lebens, die nun unser Ohr mit Wohllaut zu erquicken hätte, würden wir von selbst keine Dissonanz mehr dulden, während es uns jetzt bei der Zumutung, rüstig Hand an die Schäden und Leiden der Gesellschaft zu legen, fast ist, als sollten wir nur Andern eine Harmonie des Lebens, die uns selbst noch wenig berührt, zum schmeichlerischen Kitzel ihres Ohres und zum sybaritischen Selbstbelügen ihres Gewissens herstellen! Ob die innere Mission stark genug sein wird, Denen, die auf dem Rosenbette der Selbstzufriedenheit schlummern wollen, alle störenden Träume auf immer wegzujagen, wollen wir abwarten. Die beflissene Dienerin der Sultane wird ermüden, und die wahren Schrecken, die unsre gegenwärtigen Staaten beängstigen, doch nicht beseitigen. Hier können auf die Länge keine Palliative, sondern nur neue Schöpfungen helfen.

Gutzkow, Karl (1811-1878) Schriftsteller, Journalist

Gutzkow, Karl (1811-1878) Schriftsteller, Journalist