Kapitel 01 bis 05

§. 1. Die politischen Veränderungen, welche seit den letzten großen Völkerverhandlungen in dem Innern der Staaten vorgehen, und allenthalben den Geist repräsentativer Verfassung an die Stelle unbeschränkter Herrschaft setzen, geben der öffentlichen Meinung und dem Glauben der Welt eine zuvor nie gehabte Stärke und einen wesentlichen Einfluss auf den Gang und die Maßregeln der Regierungen. Seit ihrer Erscheinung erst hat der Volkswille und die Volksansicht Wert; früher erschien dieser Volksglaube unbedeutend und, ohne Mittelpunkt, ohne Organ, durch das er sich hätte äußern können oder dürfen, keiner Rücksicht wert. Von diesem Augenblicke an ist er dem aufmerksamen Beobachter wichtig, weil mehr oder weniger seine Richtung auch die der Staaten werden muss. Von dem Augenblick an haben erst die Völker Wert und Leben; vorher waren sie Maschinen und tote Massen.

§. 2. Unter die mancherlei Gegenstände, die den Zeitglauben bewegen, gehören ganz vorzüglich die Ansichten über die Verhältnisse und Lage der Juden in unsern Staaten. Zu keiner Zeit ist mehr über diesen Teil des Volks geschrieben und gesprochen, und zwar in der Regel gegen ihn geschrieben und gesprochen worden, als in diesem Augenblicke. Eine Stimmung verbreitet sich, welche Bürger ein und desselben Staates als feindliche Prinzipe einander gegenüber stellt und Faktionen in seinem Innern erzeugt, die sich jeden Moment blutig bedrohen. Ein Hass wird rege, wie er kaum in den düstern Zeiten des Mittelalters, geherrscht haben mag und uns Erscheinungen ahnen lässt, die mit dem Geiste der Humanität und des inneren Friedens im Widerspruche stehen.

§. 3. Dieser Hass ist nicht befremdend. Einmal und im Allgemeinen affiziert es uns schon widrig, dass Menschen, die doch den geringsten Teil unter uns ausmachen, die mitten unter uns und von uns leben, sich äußerlich ewig uns gegenüberstellen, absondern und trennen durch Religion, Sitten und Gebräuche, sich nie mit der allgemeinen Masse verschmelzend. Alles hat sich doch gefügt in die Sitten und Begriffe der Welt; alles huldigt den Bedürfnissen der Zeit und ihrem Geiste; nur der Jude trägt seit Jahrtausenden das Bild der Vergangenheit fort, bleibt ewig und immer derselbe, und ist, wenn auch eine ehrwürdige – doch immer eine Reliquie, die uns an Tod, Stillstand und Zurückbleiben unangenehm erinnert, während wir überall nur Leben und Fortschreiten erblicken wollen.


§. 4. Die christliche Religion (nicht weil sie die unserige, sondern weil es Wahrheit ist), so entstellt sie auch durch die untreuen Hände, die sie uns überlieferten, sein mag, bei weitem milder, voll Liebe und Duldung, auf denselben ewigen Grundwahrheiten aufruhend, dieselben großen Gesetze der Menschheit ehrend und erkennend, wie die jüdische, und von ihr ausgehend, nur nach den Bedürfnissen eines andern höheren Zeitalters gemodelt, vom Geiste der Humanität und Sittlichkeit durchdrungen, die strengen, leeren, ausgedienten Formen nachlassend, von einem Manne gestiftet, der diesem Volke selbst, nicht uns angehört, hat nur sie nie gewinnen können, während sie den halben Erdkreis erfüllt und Völker dem milden Szepter der Sittlichkeit unterwarf, die in keiner weitern Beziehung zu ihr standen, als in der der Menschlichkeit.

§. 5. Die jüdische Religion (nicht weil sie Judentum, sondern weil es Wahrheit ist) voll strenger Prüfungen, auf die Niemand außer ihnen mehr Wert legt, voll sonderbarer Büsungen, die der Sinnlichkeit auferlegt werden, nach dem damaligen Bedürfnis eines rohen Volkes, das physisch und moralisch zugleich verdorben, aus einer Sklavenrotte zu einem andern Geschlecht, zu einer an strenge Disziplin zu gewöhnenden erobernden Generation umgeschaffen werden sollte; voll Ausschließung und Absonderung zu einer Zeit, wo es der Gründung eines eigenen selbstständigen Staates galt, wo Völker hass das Element war, aus dem die junge Republik Kraft, Mut, Nationalität saugen musste; diese Religion, in Arabiens schaudervollen unbewohnten Wüsteneien geboren, in welchen das ganze Leben der Natur im Sande erstorben, im weiten Dunstkreis eines Feuermeeres nichts mehr natürlich, sondern alles groß und wunderbar erscheint, wo die Gottheit nur aus großen, von Erdbeben herabgerollten Felsentrümmern mit dem Donner furchtbar hallender Wetter sprach; dieselbe Religion, so ganz der Abdruck und das Bild lokaler Umstände, jetzt noch im Zustand der Zivilisation, wo ihre Bekenner, unter andern Himmeln lebend, andere Wünsche und Bedürfnisse nähren, und die Idee eines eigenen Staats längst dahin geschwunden ist, mit gleicher Wärme umfassen, den Juden am kalten Bilde der Vergangenheit und des Todes noch mit Begeisterung hängen zu sehen, gewährt ein sonderbares Grausen erregendes Gefühl von der Beschränktheit der menschlichen Seele und der Macht mechanischer Empfindungen. Entbehrungen, die keinen Grund, Pflichten, die keinen Zweck, Bestrebungen, die keinen Sinn mehr haben, mit gleicher Genauigkeit zu erfüllen; die ganze Welt, die dahin geschieden ist, wie einen Traum noch mit glühendem Entzücken, den Schatten noch wie das Leben, gleich einer verwirrten Phantasie, die sich mit Verstorbenen beschäftigt, zu umarmen; bei jedem Drang eigenen Nachdenkens zurückzubeben und knechtisch jedem Wink der Vernunft sich zu verschließen, ist eine Erscheinung, die, man weis nicht, ob mehr Staunen als Erbarmen und Mitleid einfließen kann. Aus diesem Ideengebäude soll nie ein Stein weichen; im ewigen Geistesstillstand soll hier das unfruchtbare Einerlei verlebter Formen thronen! Beklagenswerter Mensch, der in dem edelsten aller Güter, der Religion, nichts Höheres sieht, als die Vergangenheit, an dem die Erscheinungen vergangener Zeiten nutzlos vorübergezogen, für den alle Jahrhunderte umsonst geforscht, umsonst gearbeitet haben!“ Die strengen asketischen Begriffe sind überall gewichen und haben allenthalben der inneren Selbsttätigkeit Platz gemacht; die Götter aller Nationen sind verschwunden, nachdem sie das Göttliche im Menschen entzündet; nur der Jude, und nur allein der Jude, kriecht noch an den Schwellen des längst geöffneten Heiligtums, während andere Völker längst das Bild der entschleierten Gottheit schauen."