Teil 2. Uebersicht und Fortschritte und Stand des vaterländischen Werkes. -

An sonstigen mundartlichen Liedern und Reimen der verschiedensten Art sind etwa 500 Stück in ca. 2500 Fassungen zusammengekommen. Da sind neben den alten Volksreimen und Volksliedern Kalender-Reime, Umgestaltungen bekannter Kirchenlieder, Reimsprüche aus der Land- und Hauswirthschaft, Dienstboten-Reime, Spinnstuben-Reime, Trinklieder, Kettenreime, Häufungsreime, Kinderpredigten, Neckmärchen u.s.w., u.s.w. Das Gemisch der Abarten der älteren werthvolleren Reime zu entwirren, wird ernste Schwierigkeiten bereiten. So sind von dem Verwunderungslied nunmehr 137, von dem Hausstandsreim 128 Fassungen in meinen Händen, d. h. mehr als bisher aus dem ganzen übrigen Deutschland zusammengenommen veröffentlicht sind. Eine reinliche Scheidung der einzelnen Reime wird vielfach unmöglich sein. Das greift hinüber und herüber, oft hat man ein seltsames Gemisch zertrümmerter Reste altererbter Dichtung vor sich, die sich um einen dem Verderben länger trotzenden Kern crystallisirt haben.

Auf Einem Gebiete ist der Stoff seit der Veröffentlichung meines ersten Berichts um mehr als das Fünffache gewachsen. Durch die Funde der Mitarbeiter in Strelitz, wo die beim Bandelieren der Tabacksblätter üblichen Zusammenkünfte alte Dichtung in lebendigem Gebrauch erhalten haben, aufmerksam gemacht, habe auch ich in den letzten Jahren nach hochdeutschen Volksliedern fleißig geforscht und dabei entdeckt, daß es auch auf diesem Gebiete nur darauf ankommt, die rechten Quellen zu finden. Balladen und Liebeslieder sind bereits in Fülle beisammen. Auch an historischen Liedern und Reimen ist manches Beachtenswerthe zum Vorschein gekommen. Soldaten-, Matrosen-, Fischer-, Handwerksburschenlieder werden weiterer Sammelarbeit zur Beute fallen. Von den Mitarbeitern haben mehrere größere Massen alter Lieder, zum Theil mit den Melodien, deren Hinzufügung sehr erwünscht ist, eingesandt.


Aber auch nach einer anderen Richtung hin haben die letzten Jahre mir große Ueberraschungen gebracht. Das Material an Sagen, Märchen, Erzählungen, abergläubischen Meinungen u.s.w. wächst bei tieferem Eindringen immer mehr über das Werk von Bartsch hinaus. Allein aus dem Munde von vier in Waren und dessen nächster Umgebung gebürtigen Männern konnte ich über 80 belangreiche Sagen aufzeichnen, die bei Bartsch fehlen. Aehnlich wird es an anderen Orten sein; hier ist freilich mehr denn sonst langsames, vorsichtiges Vorgehen von Nöthen, um das Vertrauen der Gewährsmänner zu gewinnen und sie zu rückhaltloser Hergabe ihres Wissens zu bestimmen.

Ich hebe aus den neuen Funden hervor: wichtige Teufel-, Hexen- und Kobold-Sagen, zahlreiche Sagen von der Siebfahrt des Mort nach Engelland, für die sich bei Bartsch kein Beispiel findet, neue Sagen vom Drak, vom Snakenkönig, vom Pumpfuß, vom Blick ins Paradies, von der Strafe derer, die ewig zu leben wünschten, neue Freischützsagen u. a. m. Auch der aus der Polyphem-Sage bekannte Zug, das Herbeirufen von Helfern seitens des Gegners durch Entstellung des eigenen Namens zu vereiteln, ist in bedeutsamer Weise mehrfach hervorgetreten. Die Gudrunsage dagegen hat sich bisher noch allen Nachstellungen entzogen.

Die Vertheilung der verschiedenen Namensformen Wold, Waur, Fru Goden, Fru Gosen, Fru Waus u.s.w., die Abgrenzung des Bezirks, in dem ein bestimmter Name für den wilden Jäger überall nicht auftritt, bedarf näherer Feststellung, die sich vielleicht im Zusammenhang mit der Untersuchung über waedick und arpel für die Colonisations-Geschichte unseres Landes bedeutungsvoll erweisen wird.

Auch sinnreiche Erzählungen sind in großer Zahl ans Licht gekommen, so von Gotjed, der sich aufhängen wollte, von dem, der das Weltende suchte, von dem, der die Gottheit ergründen wollte, von Gottlob und Gottsleider, von den drei Christen an der Himmelsthür u.s.w. Auch die Gruppe der lieben „Anekdoten und Schnurren“ hat ansehnliche Bereicherung erfahren.

Aus dem Gebiet des Aberglaubens machten verschiedene Freunde der Sache dankenswerthe Mittheilungen. Auch ich selbst traf auf manche bei Bartsch nicht verzeichnete, altüberkommene Vorstellung. An Sympathieformeln, Himmelsbriefen, Diebssegen, Feuersegen u.s.w. liegen etwa 400 Nummern vor, deren größter Theil den reichhaltigen Sammlungen einiger Mithelfer verdankt wird.
Die vorstehende Uebersicht wird gezeigt haben, daß der Erfolg der Sammlung alle Erwartungen übertroffen hat, und daß der Schweriner Verein alle Ursache hat, sich seines Unternehmens zu freuen. Und noch ist ja immer unendlich viel in der Tiefe verborgen und neue Massen werden zuströmen, sobald die den Eifer der Mitarbeiter lähmenden Befürchtungen zerstreut sind und die Bearbeitung der einzelnen Theile begonnen hat.

Daß den auf eine glückliche Vollendung des ganzen Werkes hinzielenden Wünschen Erfüllung werde, ist meine gewisse Hoffnung. Regierung und Landtag werden sich der Einsicht nicht verschließen können, daß es ein unwiederbringlicher Verlust wie für die Wissenschaft so für unser Meklenburg, für die Kenntniß der Geschichte der geistigen Entwickelung unseres Volkes wie für die Pflege echt nationalen Empfindens wäre, wenn dieser Springquell aus der innersten Tiefe deutscher Erbe und deutschen Lebens, eben mühsam erschlossen, nun wieder für immer verschüttet würde.

Freilich die Zeit drängt. Schon droht die Aufgabe, den kaum übersehbaren Stoff zu verarbeiten, das Verhältniß zu den Ueberlieferungen anderer Völker klarzustellen, das Können eines Einzelnen, der seine beste Kraft ohnehin dem Berufe zu widmen hat, zu überschreiten; und auch die über alle Vorstellung reichen Schätze der Sprache unseres Volkes wollen gesammelt und geborgen sein.

Allein Schwierigkeiten und unerwartete Hemmnisse können die Liebe zu einer guten Sache nicht ertödten. Ich meinerseits werde trotz aller Opfer, die die Fortführung des Werkes mir seit Langem auferlegt, nicht aufhören, mit stiller Freude jedes Goldkorn vom Boden zu lesen, wo ich es finde; es wird auch einmal eine Zeit kommen, wo man denen dankbar sein wird, die mit treuem Bemühen ein unverfälschtes Spiegelbild heimischen Volkslebens in kommende Zeiten zu retten suchten.