Veranlassung dieses Werks — Plan des Verfassers

Als man in Frankreich den Entschluss gefasst hatte, den kath. Gottesdienst daselbst wieder herzustellen, schrieb die Klasse der sittlichen und politischen Wissenschaften des National-Instituts vor zwanzig Jahren folgende Preisfrage aus: „Welchen Einfluss hatte die Reformation Luthers auf den politischen Zustand der verschiedenen europäischen Staaten und auf die Fortschritte der Aufklärung?“

Es wäre ungerecht zu behaupten, dass diese Reformation gar keinen, wenigstens mittelbar nützlichen Einfluss gehabt habe. Gibt es wohl ein Übel, das nicht auch irgend etwas Gutes in seinem Gefolge hätte? Allein wenn die Religionsverschiedenheit die Meinungen der Schriftsteller, welche ihre Gedanken über diese merkwürdige Tatsache nach den erfolgten Begebenheiten ausgesprochen haben, geteilt hat, war wohl der Einfluss der Reformation Luthers ein Rätsel, welches eine neue Prüfung erheischte, und darf man nicht billig erstaunen, dass er sogar ein Preisgegenstand werden konnte?


Wie weit mehr erstaunet man, dass in einem Augenblicke, wo der Katholizismus gleichsam als die herrschende Staatsreligion anerkannt worden, das Nationalinstitut die Siegespalme dem Verfasser des Versuches über den Geist und den Einfluss der Reformation Luthers das heißt, dem Lobredner dieser Reform, zueignet?

Um unser Staunen zu rechtfertigen, machen wir hier auf einige Behauptungen des Verfassers aufmerksam.

Nach ihm war das Werk der Reformation Jesu „nur ein wahrhaft göttlicher, das heißt, ein höchst menschlicher Geist.“
„Der Christianismus, von einer fortwährenden Überladung fremder Elemente erstickt, war zur Zeit Luthers nur mehr ein ungestalter Körper, ein entstelltes Evangelium, ein religiöser Aberglaube, ein den Fortschritten der Aufklärung gerade entgegenlaufendes System, oder der römische Katholizismus.“
„Indem die Protestanten, dem Deismus unverletzliche Treue bewahrend, durch ihren Protestantismus sich für mündig, frei vom Joch willkürlicher Autorität erklärten, alles, was den Platz der repulsiven Kraft der Vernunft einnehmen will, entfernten und zurückdrängten, hatten sie endlich das Evangelium den Christen in seiner Lauterkeit zurückgegeben und dazu beigetragen, den Menschenverstand von dem System der Geistesertötung und des Obskurantismus des römischen Hofes zu befreien.“
„Der Protestantismus zerriss alle diese dem Geist angelegten Ketten, und stürzte alle diese gegen den freien Umlauf der Gedanken aufgeführten Schranken.“
„Er hat den einzig haltbaren Grund des wahren Republikanismus begründet. Von ihm bekam der Mensch das ruhige ernste Gefühl seiner hohen Würde, die Gewissensfreiheit und bürgerliche Freiheit, die ja im Grunde das Werk des nämlichen, alles vermögenden Willens ist.“
„Die ungeheuren Summen, welche von den Staaten nach Rom gesandt wurden, blieben nun zufolge der Reformation, im Lande, und gaben dem Handel und dem Gewerbefleiß neue Tätigkeit, und vermehrten mit dem Wohlstande der Untertanen die Kräfte der Regenten.“
„Die Reformation hatte die Staatskörper in allgemeine Berührung gebracht; sie hatte Mittelpunkte gebildet, um welche die kleinen Fürsten, welche schwach und bedrückt waren, sich vereinigten; sie hatte feste und dauerhafte Bündnisse zu Stand gebracht. Die Kunst der Unterhandlung ausgebildet, und so in Europa das wahre System des Gleichgewichtes eingeführt.“

Durch die Entwicklung dieser Behauptungen glaubt Hr. Villers den wohltätigen Einfluss der Reformation Luthers auf den politischen Zustand der verschiedenen europäischen Staaten und auf die Fortschritte der Aufklärung zu begründen.

Die Entscheidung des Nationalinstituts möchte keineswegs, streng genommen, als eine bloße Denkart dieses literarischen Gerichtshofes und des von demselben begünstigten Schriftstellers gelten; indes dürfte es nicht als unwahrscheinliche Mutmaßung angesehen werden, wenn man diesem Institute den Willen unterstellt, in der Lobrede auf Luther und seine Reformation der Verfügung des ersten Konsuls, der mit einer Hand die Altäre aufzurichten schien, die er bald mit der Andern zu stürzen gesonnen war, ein Gegengewicht aufzustellen.

Doch, abgesehen von der Absicht dieser berühmten Gesellschaft, bleibt es immerhin wahr, dass die öffentlichen Blätter und periodischen Schriften der protestantischen Länder, diese Entscheidung sogleich als einen von dem Protestantismus über den Katholizismus erfochtenen Sieg ausposaunten. Und eben zu dieser Zeit des Gejubels über diese Entscheidung und die Lobrede der Reformation Luthers fiel das protestantische Deutschland auf den Gedanken, dem sogenannten Reformator ein Ehrendenkmal zu errichten.

Lasst uns das, was alsdann geschah, mit dem, was unter unsern Augen vorgeht, in Vergleich stellen. Die neue Nebeneinanderstellung dürfte vielleicht eben so sehr als die Vorige unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen.

Der Geist der Unruhe, des Treibens und sogar des Aufruhrs, der alle Länder bewegt, hat in jedem Freunde der Ordnung die Überzeugung hervorgebracht, dass es dringend Not tut, die monarchischen Grundsätze zu verbreiten, dieselben an jene der Rechtmäßigkeit zu knüpfen, sie dem aufkeimenden Geschlecht einzuprägen, — was nur mittelst eines christlichen Unterrichtes und einer religiösen Erziehung geschehen kann.

Die Katholiken, überzeugt dass ihre Religion allein diese heilsamen Bestrebungen fördern und verwirklichen kann, verdoppeln ihre Kräfte, um die Altäre des Katholizismus zu befestigen, die Stufen der kirchlichen Hierarchie zu handhaben und zu sichern, den Religionsdienern die Achtung des Volkes zu erwerben, und die traurigen Lücken im Seelsorgeramt auszufüllen.

Ihre Feinde ergrimmen beim Anblicke dieser Bemühungen; und nach ihren ewigen Ausfällen ist der Katholizismus immerdar ein Hemmschuh der Entwicklung der Talente und der Fortschritte der Aufklärung.

Da sie ihr Geschrei für die Stimme des gesündesten, des größten Teils der Franzosen halten, tragen sie kein Bedenken, mit Keckheit zu behaupten, „die Religion, welche die Abneigung des Mittelstandes gegen den römischen Kultus sich nicht verhehlen könne, sei mit feindseligen Merkmalen vor einer gebildeten Bevölkerung angezogen.“

Deutschland, die Wiege der Reformation Luthers, Zwinglis Vaterland, Kalvins Zufluchtsstätte, tönen wieder von diesem Geschrei. Ihre protestantischen Schriftsteller schleudern im Brüderbunde die giftigsten Pfeile wider den Katholizismus; derselbe ist der immerwährende Gegenstand ihrer Spottreden, ihrer Verleumdungen, ihrer Verfolgungswut. Als entartete Kinder vernichten sie sogar das Werk ihres gemeinschaftlichen Vaters; sie lehren nur noch einen reinen Deismus, Grundsätze, deren Geist mit jenem des religiösen und politischen Republikanismus in engster Berührung stehen; sie reihen sich alle um den Protestantismus, zu dessen Lobredner der vom Nationalinstitut, vor zwanzig Jahren gekrönte Schriftsteller, sich aufgeworfen hatte.

Luther hätte bei der bloßen Verdächtigung, dass er eine solche Reformation begünstige, nicht Bannstrahlen genug finden können, und dennoch errichtet man ein Denkmal dem Andenken dieses Reformators, als dem Urheber eines solchen Protestantismus; sogar ward diese Feierlichkeit in öffentlichen Blättern angekündigt.

Es liegt ohne Zweifel wenig daran, ob ein Block von Marmor oder sonst einem Stoffe, nach den Zügen des Theologen Luthers abgemeißelt, auf dem Platze zu Wittenberg sich erhebe; allein sollte man gleichgültig bleiben über die Absicht dieses Ehrendenkmals und die Umstände, in welchen dasselbe errichtet wird? Sollte ich mich wohl über die Natur dieser Umstände betrügen, wenn es mir scheint, sie legen den Katholiken die Pflicht auf, die Ansprüche Luthers auf die Dankbarkeit der christlichen Welt auch ihrerseits zu beleuchten? Ist nicht für sie der Augenblick herangekommen, das Stillschweigen, das sie über die Ruhmrednereien zu Gunsten der Reformation Luthers und selbst über die Frage, die sie veranlasste, vielleicht nur zu lange beobachtet haben, endlich zu brechen?

Die Ehre, wenn sie nicht ein Huldigungsopfer kriechender Schmeichelei ist, die Ehre, die man diesem Reformator erweist, wird gemeiniglich nur jenem Sterblichen zu Teil, der sich entweder um das Vaterland, oder um die Menschheit verdient gemacht hat.

Kann Luther solche Titel aufweisen?

Ich will mich nicht zum Richter seiner Absichten aufwerfen; dieses kommt nur Gott zu, der da durchforschet die Herzen und Nieren.
Ich nehme seine Uneigennützigkeit an, als er die leider! zu berüchtigten Sätze über die Ablässe anschlug.
Der gesunde Menschenverstand, oder jene allgemeine Vernunft, die alle Menschen erleuchtet und führet, zeihet allein schon der Schwachheit und Feigheit denjenigen, der die Pflichten eines nach reifer Überlegung angetretenen Standes übertritt; indes ehre ich die Gründe, die Luther mochte gehabt haben, die der Gottheit feierlich abgelegten Gelübde zu brechen.

Erasmus scherzte über Luthers Heirat mit Katharina von Bora; Melanchthon betrübte sich darob, und befürchtete, Cammerarius möchte daran Ärger nehmen. Verachtung sogar wurde stets jenen beschieden, die da, nach Luthers Beispiel, geheiligte Verpflichtungen mit Füßen traten.

Auch auf diese Beispiele leiste ich Verzicht.

Ich betrachte in Luther nicht den Privatmann.

Das protestantische Deutschland will an ihm besonders den Reformator ehren; also den Reformator, oder besser die Reformation muss man vor den Richterstuhl der Vernunft, der Religion und der Geschichte fordern.

Selbst die Umwandelungen, welche diese Reformation seit Luther erlitten hat, scheinen die Sache nur dahin gebracht zu haben, dass ein Volk, welches heut zu Tage zwischen den Glaubenslehren, die das Erdenrund zerteilen, eine vernünftige Auswahl treffen wollte, sich dazu entschließen musste, entweder keine Religion oder den Katholizismus anzunehmen.

Denn ich denke nicht, dass eine unterrichtete Nation mit aufrichtigem Herzen vor den Götzen des Heiden, oder vor den Fetischen des Afrikaners sich niederwerfen könne. Das Judentum besteht bei dem Volke, das sich zu demselben bekennt, nur noch als ein glänzendes Denkmal der Göttlichkeit der Religion Jesu. Der Islamismus, von seinen ungereimten Märchen, seinen lächerlichen, unzüchtigen oder barbarischen Gebrauchen entbunden, unterscheidet sich wenig vom Deismus; er verliert sich also im Protestantismus.

Es bleibt demnach die Wahl zwischen dem Katholizismus und dem Protestantismus, das heißt, zwischen dem Katholizismus und einem reinen Deismus, oder einem versteckten Atheismus, wie Bossuet sich ausdrückt.

Wer muss nicht erkennen, dass diese Umstaltungen der Reformation Luthers der Vergleichung der beiderseitigen Einflüsse des Katholizismus und dieses Protestantismus in der zweifachen Hinsicht der mit dem ersten verbundenen Vorteile, und der von dem Zweiten unzertrennlichen Gefahren für einen Staat, das größte Gewicht und Interesse beilegen.

Das Lesen des oben erwähnten Versuches, den man als die entschiedenste Lobrede, die je zu Gunsten der lutherischen Glaubensneuerung der Feder eines Reformationsfreundes entflossen ist, noch öfters anzuführen sich muss gefallen lassen, das Lesen dieses Versuches bot mir vor etlichen Jahren, in meiner Auswanderung, die Gelegenheit dar, mich in Untersuchungen über die darin behandelte Frage einzulassen. Im Jahre 1807 hatte ich mir vorgenommen, das Ergebnis ans Licht treten zu lassen.

Allein Schwierigkeiten aller Art widersetzten sich meinem Vorhaben. Nicht nur hegten die Buchdrucker eine allzu gegründete Furcht vor den Verfolgungen einer misstrauischen und tyrannischen Polizei; auch bestand ich die kleinlichen Neckereien der Zensoren, welche mich in die verdrießliche Alternative setzten, entweder meine Gedanken zu verschweigen, oder dem Publikum nur ein verstümmeltes und entstelltes Werk zu geben.

Ich entzog also mein Manuskript ihren Händen. Sollte ich es nun, ohne Vermessenheit, wagen, eine Arbeit, die, ich fühle es nur zu sehr, eine geübtere Feder als die Meinige forderte, ans Tageslicht zu fördern?

Aus den vorausgeschickten Bemerkungen geht hervor, dass die neue Prüfung des Einflusses der Reformation Luthers eine Betrachtung heischt, die von den Schriftstellern, die bis jetzt über diesen Gegenstand geschrieben haben, nicht beachtet worden, und dass man sich keineswegs der Mühe überhoben glaubte, „den Einfluss der Reformation auf das Lehrgebäude und den Religionsglauben“ zu würdigen.

Kam es aber wohl dem Schriftsteller, dessen Ausdrücke wir hier mitteilen, zu, so leicht über diesen letzten Einfluss hinüberzugleiten? ihm, dem „sich die stufenweise Bildung des Menschengeschlechtes in einer ununterbrochenen Folge von Reformationen darstellte“, oder von Religionen, weil er als Stifter dieser Reformationen Moses, Jesus, Muhamed und — Luther nannte? ... Jesus neben Muhamed und Luther-!?!

„Es ist leichter“, sagt ein Alter „eine Stadt in die Luft bauen, als einen Staat ohne Religion gründen.“ Der Christ, den man an dies tiefgedachte Wort erinnern sollte, kann sich von dessen Wahrheit überzeugen, wenn er den Zustand des Menschengeschlechtes unter dem Heidentum mit jenem der Gesellschaft seit her Verkündigung des Evangeliums vergleicht. Der Abstand ist ein unwiderlegbarer Beweis von dem Einfluss des Religionsglaubens auf die Vervollkommnung des Menschengeschlechtes.

Die Prüfung des Einflusses der Reformation Luthers muss also, um vollständig zu sein, notwendig mit der Bestimmung ihres Einflusses auf das Lehrgebäude verbunden sein; und die Antwort auf die von dem Nationalinstitut ehehin vorgelegte Frage hätte die Prüfung des Einflusses der Reformation Luthers auf den Religionsglauben, die Politik und die Fortschritte der Aufklärung, sein sollen.

Ich will diesen Einfluss unter diesen drei Gesichtspunkten betrachten. Ich werde jenen des Katholizismus ihm gegenüberstellen; besonders wird mein Bestreben dahin gehen, den Geist dieser angeblichen Reformation aufzudecken, und ihre unmittelbaren und mittelbaren Folgen zu bezeichnen. Dann wird man die neben- und zufälligen Ursachen, welche später ihre unwidersprechbaren Folgen gehemmt und die wahre Natur ihres Einflusses dem Auge des Beobachters noch entzogen haben, desto leichter bestimmen.