Erster Teil. Kritik der früheren Erklärungsversuche.

Der Mensch hat, wie die Literatur aller Völker bezeugt, eine ausgesprochene Liebe zu Räthseln, nicht sowohl um der Verwirrung willen, in die der Geist dadurch versetzt wird, als vielmehr um des Ratens und Erklärens willen. Der Mensch liebt Lösungen zu finden und des Schlüssels mächtig zu sein, wodurch er verfängliche Fragen und schwierige Verhältnisse aufschließen, enträtseln und beherrschen kann. Warum die Menschen dies lieben, das müssen wir später zu erklären suchen; denn es ist auch eine Art der Liebe; hier genügt dieTatsache, daß die Menschen es lieben. Darum ist es nicht verwunderlich, daß wir schon in den ältesten Zeiten der Menschheit Versuche finden, das Rätsel der Liebe zu erklären. Wir wollen nun die ältesten Versuche und die bedeutendsten der neueren an uns vorüberziehen lassen; denn dies ist, wie Aristoteles gezeigt hat, der Weg aller Forschung, und danach werden wir auch, wenn wir finden, daß die Lösung richtig getroffen ist, die Wahrheit mitgenießen und uns dabei beruhigen, wenn uns das Rätsel aber noch nicht ganz gelöst zu sein scheint, müssen wir nicht davor zurückschrecken, selbst Hand anzulegen und an der Lösung mit zuarbeiten.

Um aber gerecht zu sein in der Abschätzung der Leistungen Anderer, ist es gut, wenn Jeder sich vorher darauf besinnt, was er wohl selbst über die Liebe denke, wie er ihren Begriff bestimmen möchte, ob und wieweit er die Begründung sowohl für seinen Begriff, als für die Tatsache der Liebe in der Welt selbst beherrsche, endlich ob und wieweit er vermöge, aus seinem Begriffe alle Arten der Liebe abzuleiten und aufzuzählen und alle einzelnen Erscheinungen der Liebe demgemäß leicht zu erklären. Wenn wir so verfahren, werden wir bald die großen Schwierigkeiten der Arbeit erkennen und ebenso nachsichtig bei der Beurteilung der verfehlten Versuche, als empfänglich sein, wenn uns die einfachste und natürlichste und selbstverständlichste Auflösung des Rätsels dargeboten wird. In der Wissenschaft ist aber immer Das, was leicht und einfach und selbstverständlich zu sein scheint, grade am schwierigsten zu finden.


Wir können nun die Leistungen der Früheren in zwei Gruppen scheiden, indem wir auf den Erkenntnißweg achten, den sie einschlugen, um die Liebe zu begreifen. Die Einen nämlich verfuhren blos empirisch und suchten die gegebenen Thatsachen der Liebe auf einen allgemeinen Ausdruck zu bringen; die Andern aber spekulativ, indem sie die Liebe mit dem Wesen der Natur in Zusammenhang setzten und mehr oder weniger eine Begründung für die Tatsache und den Begriff der Liebe zu gewinnen suchten. Wir wollen nun zunächst die Männer der Erfahrung hören.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.