Die Aufgabe. Umfang des Begriffs der Liebe.

Die Aufgabe.

Indem wir uns daran machen, das Wesen der Liebe zu erforschen, werden wir gut thun, zuerst etwaige Illusionen zu verscheuchen, die uns, wie eine Fata Morgana, zu eitlen Hoffnungen verleiten könnten. Denn da die Liebe, obwohl vielfach mit Pein verbunden, doch allgemein beliebt ist und süß zu sein scheint, so könnte man glauben, die Forschung über das Wesen der Liebe sei ebenso erfreulich und reizvoll. Dies ist nun auch richtig, insofern als der Weg, der zum geliebten Gegenstande führt, gern betreten und selbst seine Länge willig erduldet wird; die Forschung aber ist gewissermaßen ein Weg. Gleichwohl ist der Gegenstand, der geliebt wird, für jeden verschieden, und so könnte es wohl sein, daß der Gegenstand, den wir hier durch die Forschung suchen, nicht für jeden liebenswerth erscheinen möchte; denn es handelt sich hier bloß um Erkenntnis und Wahrheit und von dieser denken viele wie Pilatus und halten die Wahrheit für Chimäre oder für gleichgültig. Wer also nicht ein Freund und Liebhaber der Wahrheit ist, der darf ja nicht glauben, daß er hier durch den Titel der Untersuchung zum Genuß liebenswürdiger Dinge in anmutigen Reden eingeladen würde.


Noch einen zweiten Punkt wollen wir vorher ins Reine bringen. Es steht nämlich Alles in der Welt mit einander in Zusammenhang. Wenn wir nun irgend Etwas erklären wollen, so müssen wir notwendig des Zusammenhangs wegen dieses oder jenes Andere mit hinzunehmen. Je geringer und unwesentlicher nun eine Sache ist, desto weniger wird dadurch der Zusammenhang des Ganzen berührt; je bedeutender und wesentlicher aber, desto mehr muß man den Blick über das Ganze streifen lassen, weil man sonst nicht recht den Wert und die Kraft des Gegenstandes begreift. Stirbt z. B. ein Knecht auf einem Dorfe, so geht dies höchstens das ganze Dorf an; stirbt aber Bismarck, so nehmen alle Gebildeten und auch fast alle Ungebildeten in allen fünf Weltteilen davon Notiz. Nun ist die Liebe ein solcher Gegenstand, der nicht bloß Alles, was Herz hat, bewegt, sondern vielleicht auch mit dem Wesen der Dinge insgesammt auf's Innigste zusammenhängt, wie denn ja die Christen Gott selbst als die Liebe bezeichnen: es wird deshalb nicht zu verwundern sein, wenn wir sehr tief ausholen und bis in die letzten Gründe aller Dinge zurückgehen müssen, um zu erfahren, was die Liebe ist. Dazu gehört aber etwas Geduld und eine gewisse Sammlung des Gemütes, um einen größeren Plan überschauen und fassen zu können. Also werden diejenigen, welche an der Wissenschaft nur wie an einem Büffet zu naschen lieben, durch den Ernst der Wahrheitsliebe bald verscheucht werden.

Umfang des Begriffs.

Um nun unsere Aufgabe festzustellen, müssen wir zunächst den Gegenstand ins Auge fassen, den wir erklären sollen. Dieser Gegenstand ist aber gar nicht so leicht zu finden, weil er so außerordentlich mannigfaltig zu Sein scheint. Denn die Liebe zu dem anderen Geschlechte ist zwar leicht abzugrenzen, aber es gibt auch Mutterliebe und Liebe zum Vater und zu den Kindern, Vaterlandsliebe und Ehrliebe. Ebenso wird auch gesprochen von der Liebe zum Herzen Jesu in katholischen Kreisen und von der Liebe zu Gott bei allen Frommen. Dann ist auch die Freundschaft eine Art der Liebe; denn man liebt ja seine Freunde. Alles dies ist nun schon so verschieden, daß wohl jeder zunächst in Verlegenheit kommt, wenn er das Gemeinsame und Gleiche in allen diesen Arten angeben sollte, um dessentwegen wir alles auf gleiche Weise mit dem Worte Liebe bezeichnen. Es wird aber noch viel schlimmer; denn wir sagen auch, ich liebe zu rudern und zu reiten und ich liebe die Jagd. Man spricht von der Liebe zum Gelde welches doch wenig danach angetan ist, wieder zu lieben. Man sagt auch, ich liebe es sehr, wenn die Zweige der Bäume schneebeladen herabhängen und der Mondschein die Kristalle wie Edelsteine in allen Farben glitzern läßt. Einer liebt die Gesellschaft, der andere die Einsamkeit; einer liebt Jean Paul, der andere Shakespeare. Die südlichen Völker lieben Zwiebeln, die Russen Kohlsuppe und der Eskimo Thran. Man sieht aus dieser bunten Aufzählung, die sich ins Endlose ausdehnen ließe, daß die Sprache uns dieses eine Wort „Liebe“ für die mannigfachsten und verschiedensten Gegenstände zur Verfügung stellt und daß es zunächst kaum möglich erscheint, die in allen gleiche Bedeutung zu ergreifen. Sollen wir deshalb vorläufig den Umfang dieses Begriffs abgrenzen, so müssen wir sagen, daß alles und jedes, worauf wir das Wort Liebe oder seine Synonyma anwenden, zu unserem Gebiete gehöre. Dann ist aber wohl kaum irgend ein Ding davon ausgeschlossen; denn die Liebe der Menschen erstreckt sich nicht bloß auf Menschen, sondern auch auf Thiere und Pflanzen und Steine und Sterne und Tätigkeiten und Ideen, wie z. B. Ehre und Wissenschaft und Kunst. Und wir schreiben auch den Tieren Liebe zu und metaphorisch auch den unbelebten Wesen, indem wir z. B. von den Blumen sagen, daß einige Schatten lieben und kühle Luft, andere Trockenheit oder Feuchtigkeit u. s. w.

Kurz, durch Betrachtung des Umfangs unseres Begriffs kommen wir eher in Verwirrung als zur Klarheit der Erkenntnis; denn wie sollen wir z. B. die Liebe, welche Paulus beschreibt, die alles duldet und glaubt und sich nicht ungebärdig stellt, auf einen Begriff bringen mit der Liebe zur Natur oder zum Putz und zur Ehre. Und dennoch muß all’ dies die gleiche Wurzel im Grunde der Dinge haben und sich daraus, wenn uns die Sprache mit dem gleichlautenden Wort nicht völlig täuscht, gesetzmäßig verzweigen und erklären lassen.

Wir müssen deshalb nun versuchen, den Inhalt des Begriffs der Liebe zu finden. Dies kann geschehen, indem wir entweder den nächsten Gattungsbegriff mit seiner spezifischen Differenz feststellen oder genetisch die Ursache oder den Grund der Liebe erkennen. Die Untersuchung wird uns zeigen, daß diele beiden Formen der Erklärung hier zusammenfallen. Darauf werden wir verpflichtet sein, aus dem gefundenen Wesen der Liebe alle möglichen Arten der Liebe abzuleiten und sie auf eine bestimmte Zahl zu bringen. Endlich müssen wir auch die Gegenstände der Liebe noch betrachten, um zu erkennen, wie es zugehe, daß sie unsere Liebe erregen können.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.