A3. Das Asylon ignorantiae.

Es ist interessant, daß die Menschheit zu allen Zeiten auch zur Auflösung des Rätsels der Liebe ein Mittel angewendet hat, wodurch zwar nichts erklärt wird, weil es selber ein Rätsel ist, wodurch aber doch scheinbar die Erklärung sich um einen Schritt weiter hinausschieben läßt. Wie man die Sünde meint erklären zu können, wenn man auf die Verführung von Seiten des Teufels zurückgeht, ohne doch entfernt zu wissen, weder wer dieser Teufel war, noch wodurch dieser zur Sünde kam: ebenso behauptet man, die Liebe beruhe auf einer geheimnißvollen, individuellen Sympathie, und der Hass auf einer ebensolchen Antipathie oder Idiosynkrasie, wie ja auch Gretchen zwar ihre Abneigung gegen Mephisto nicht erklären kann, aber sich dennoch damit beruhigt zu sagent. „Ich habe nun die Antipathie“. Was diese Sympathie aber eigentlich bedeute und woher sie stamme, das bleibt völlig räthselhaft. Ebenso hört man versichern, die Ehen würden im Himmel geschlossen, wodurch man sagen will, daß man zwar nicht wisse, warum man sich liebe, aber daß man doch dafür eine hinreichend gültige Ursache voraussetze. Am meisten den jetzt vielfach herrschenden Darwinistischen Hypothesen entsprechend ist die ähnliche Ansicht der Inder, welche glauben, daß die Liebe und der Hass ihren Ursprung darin haben, daß in den Menschen die Gewohnheiten ihres früheren Daseins noch fortdauern, wie dies die lustige Geschichte des Somadewa Bhatta aus Kaschmir bezeugt. Ein Mann litt furchtbar durch seine beständig zankende Frau und erkannte endlich durch einen Blick in ein geheimnißvolles Smaragdgefäß, daß seine Frau in ihrem früheren Leben eine Bärin und er ein Löwe gewesen sei. Da er nun wußte, daß durch das Gesetz der großen Feindschaft, die in einem früheren Dasein zwischen ihnen geherrscht hatte, der Hass zwischen ihm und seiner Gattin sich nicht ändern würde, so ließ er von dem Kummer, von der Täuschung befreit, und heiratete eine Jungfrau, die früher eine Löwin gewesen war und die also seinem Wesen am meisten entsprach. Hier erklärt sich die Liebe sehr einfach durch Vererbung der Eigenschaften und Gewohnheiten; allein das Schlimme bleibt, daß wir nicht immer ein solches Smaragdgefäß finden, um den früheren Zustand zu erkennen, und daß, auch wenn wer ihn kennten, wer doch wieder in demselben Falle wären, nicht zu wissen, woher in jenem denn die Liebe oder der Hass entstanden sei. Alle diese und ähnliche angebliche Erklärungen haben also den gemeinschaftlichen Fehler, daß sie die Ratlosigkeit gleichsam retten und bergen in etnem Asyl, an das man nicht herankommen kann.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Wesen der Liebe.