Topographie der Insel Norderney

Nach der Angabe des gelehrten Astronomen, Professor Oltmanns zu Emden, liegt diese Nordseeinsel unter 53° 42' 30" nördlicher Breite und 24° 49' 0" östlicher Länge, in der Richtung von Osten nach Westen. Sie gehört zum Fürstentume Ostfriesland, einer der wohlhabendsten Provinzen des Königreichs Hannover, ist 1½ Stunde lang, hat einen Umfang von 3 Stunden und einen Flacheninhalt von 1/5 Quadratmeile. Die Entfernung der Insel von der Küste des Kontinents beträgt 2.500 Ruthen oder 1¼ deutsche Meilen. Der Strand derselben dachet sich allmählich tiefer in die See ab, besonders auf der West- und Nord-West-Seite, wo gebadet wird, und zeigt einen völlig ebenen, dichten, samtähnlichen Sandboden, den in solcher Vollkommenheit wohl kein anderes Seebad aufzuweisen hat. Die Ebbe gestattet den Badegästen auf derselben Stelle trockenen Fußes umherzuwandeln, wo sie während der Flutzeit badeten, und die dadurch gegebene Möglichkeit, das ganze Terrain der Badeplätze in ihrem ganzen Umfange und selbst noch über die durch Tonnen bezeichneten Grenzen hinaus täglich genau besichtigen und untersuchen zu können, trägt nicht wenig zur Beruhigung mancher Ängstlichen bei, und veranlaßt die große Sicherheit und Dreistigkeit, womit selbst die furchtsamsten Damen bald sich dem Vergnügen des Badens in Norderney überlassen. Zugleich bietet der Strand während der Ebbe durch die Festigkeit und Ebenmäßigkeit seines Bodens einen Spaziergang dar, welcher wohl nirgend seines Gleichen hat, und die Passion der Badegäste für diese Strandpromenade unmittelbar am Meere, dessen Wellen bis dicht an ihre Füße heran rollen, genügend erklärt und rechtfertigt.

Von der Inselseite her wird der Strand von einer Sanddünenkette begrenzt, welche die ganze Insel wie ein Gürtel, an mehren Stellen in drei- und vierfacher Reihe, umgibt und sie gegen die Wut des Meers und der Winde während der stürmischen Jahrszeit schützt. Nur mit Gras, Kräutern, blühenden Pflanzen bewachsen, scheinen sie bei dem Mangel von Vergleichsgegenständen neben der weiten Wasserfläche viel höher zu sein, als sie in Wirklichkeit sind und erscheinen von manchen Punkten der Insel aus gesehen, dem Auge daher wie eine malerisch geformte Gebirgskette.


Innerhalb dieser schützenden Dünen-Mauer besteht der Boden der Insel größtenteils aus einer einige Schuhe tiefen Lage Seesand, worunter sich Kleierde zeigt, als Überbleibsel des festen Landes, mit dem die Insel wohl ehemals eng zusammen gehangen haben mag; und unter dieser findet sich wieder Sand, als Urboden. — Diese Beschaffenheit des Bodens von beinahe zwei Dritteilen der Insel gestattet daselbst keine große Vegetation. Jedoch macht das letzte Drittel, welches die West- und Südwest-Seite der Insel bildet, davon eine Ausnahme. Mehr geschützt gegen die Stürme und den durch diese herangewehten Seesand bietet es den Einwohnern durch große Wiesenflächen hinreichende Weide für ihre Kühe und Schaft und einen dankbareren Boden zum Anbau von Gemüse, Gartengewächsen und Getreide dar, deren Ertrag für die Bedürfnisse der Insulaner gewiß hinreichen würde, wenn diese nur einigen Fleiß auf die Kultur des Bodens und überhaupt auf den Ackerbau verwenden wollten, statt ausschließlich mit der Fischerei und der Schifffahrt sich zu beschäftigen, wozu ihr Hang sie hinziehet. —

Die vom Gouvernement Veranlassten Anpflanzungen von Alleen, Bosketts [Gruppe von beschnittenen Büschen und Bäumen] und Obstbäumen sind rasch gediehen. Vorzugsweise eignen sich die Pappeln, Elsen und Weiden dazu; andere Baumarten kommen schwieriger fort.

Die Flora der Insel besteht aus Chenopodium, maritimum, Eryngium marit. Salicornia, Plantago maritima, Erytraea ramosissima, mehreren Fucus-, Carex-, Arundo-, Elymus- und Triticum-Arten. Außerdem findet man hier: Hieracium umbellatum, Trifolium fragiferum, Trifolium hybridum, Galium verum, Sonchus arvensis, Achillea millefolium, Centaureum minus, Ononis hircina, pyrola, Salix repens, Rosa pimpinellifolia und Andere. — Ein 114 Nummern starkes Verzeichnis der auf Norderney vorkommenden Wasseralgen findet man pag. 91 — 95 in des verdienstvollen Medizinalrats von Halem Schrift: Die Insel Norderney und ihr Seebad. Hannover 1822.

Die Fauna der Insel besteht aus mehren Arten von Seevögeln, besonders verschiedenen Möwen, Seeschwalben, Strandläufern, Bekkassinen, Berg- und wilden Enten, Kaninchen in großer Anzahl, welche den Jagdfreunden das Vergnügen einer eigentümlichen und seltenen Jagd in reichem Maße gewähren. — Von den Meerbewohnern sind es besonders Delphine, Seehunde, viele Fischarten, Medusen, Seeigel, Seesterne und verschiedene Muscheltiere, die sich am Strande und in der Nähe der Insel aufhalten. Die Auster ist das ganze Jahr hindurch in Norderney zu bekommen, da sie von der ganz nahe gelegenen, ihrer trefflichen Austern wegen berühmten Insel Borkum bezogen wird, und können die Liebhaber dieser eben so nahrhaften, als leicht verdaulichen Leckerei hier täglich ihr Verlangen darnach für einen mäßigen Preis befriedigen.

An süßem Wasser fehlt es der Insel nicht; es ist weich und etwas ins Gelbliche spielend, aber ohne alle schädliche Beimischung. Das beste und klarste Wasser liefert der zu den königlichen Gebäuden gehörige Brunnen.

Das Klima auf Norderney ist wie auf den meisten Nordseeinseln ein sehr gesundes, welches besonders durch das hohe Alter und den trefflichen Gesundheitszustand seiner Bewohner bewiesen wird, da der letztere die Ursache ist, daß, außer der Badezeit gar kein Arzt auf der Insel lebt, aus dem einfachen Grunde, weil er keine Beschäftigung finden würde. Ein Chirurg, der zugleich der Geburtshülfe kundig ist, genügt für die etwa vorkommenden Krankheitsfälle, die fast nur chirurgische sind und daher meist nur äußerlicher Behandlung bedürfen. —

Rund umher von dem salzreichen Wasser der Nordsee umgeben, das von zwölf zu zwölf Stunden mit je der Flut durch frisch aus dem großen Bassin des Weltmeers heranströmende Wassermassen sich erneuert, genießt Norderney bei seiner günstigen, flacheren Lage einer so reinen, milden und erquickenden Seeluft, wie selbst Helgoland nicht, viel weniger die an der Küste des Kontinents liegenden Seebäder darbieten. Der Wind mag kommen, aus welcher Himmelsgegend er wolle, stets führt er die den Lungen so wohltätigen, von dem Meere angefeuchteten Luftschichten, unvermischt mit dunstgeschwängerter Landluft, der Insel zu. Nie wird die Salubrität und Reinheit derselben durch faulenden Seetang verpestet, nie wie auf dem zu hoch und exponiert gelegenen Plateau von Helgoland*) die milde Temperatur plötzlich zu eisiger, durchdringen der Kälte durch einen Wechsel des Windes umgewandelt.

*) Nach v. d. Decken, in dessen bekannter trefflicher Schrift: „Philosophisch-, historisch-geographische Untersuchungen über die Insel Helgoland oder Heiligeland und ihre Bewohner. Hannover 1826.“ beträgt die Höhe dieser Felseninsel 206 Fuß, also eine ziemliche Turmhöhe über der Meeresfläche.

Die auf Norderney herrschenden Winde sind nach einer von dem bereits genannten trefflichen Astronomen, Professor Oltmanns, entworfenen Tabelle, welcher der Durchschnitt einer geraumen Anzahl Jahre zum Grunde liegt, folgende:
Nordwinde 32 Tage.
Nordwest 61 Tage
West 61 Tage
Südwest 62 Tage
Süd 32 Tage
Südost 33 Tage
Ost 52 Tage
Nordost 25 Tage
358 Tage.

An den noch übrigen 7 Tagen sind die Winde als unbestimmt veränderlich anzunehmen.

Aus dieser Tabelle geht demnach hervor, daß die Westwinde die vorherrschenden sind, nächst diesen die Südwinde, die Nord- und Ostwinde aber die seltneren, woraus die Schlüsse für die klimatische Beschaffenheit der Insel leicht zu ziehen sind.

In dem südwestlichen Ende der Insel liegt das Fischerdorf Norderney, welches etwa 200 teils ein-, teils zweistöckige Häuser mit 800 Einwohnern zählt. Die Häuser sind in holländischem Geschmacke von Backsteinen gebaut, mit Ziegeln gedeckt und haben ein freundliches, reinliches Ansehen. Sie bilden Straßen, in denen sehr bequeme Trottoirs von roten Backsteinen hinlaufen. Fast ein jedes Haus ist von einem Gärtchen umgeben, welches von einer niedrigen Befriedigung oder Hecke eingeschlossen wird; und vor keinem Hause fehlt ein gleichfalls mit roten Backsteinen gepflasterter, terrassenartiger Raum, der durch ein darüber ausgespanntes Segeltuch zu einer Art Veranda wird, die gegen Sonne, Regen und Wind schützend, den Sammelplatz der das Haus bewohnenden Badegäste zum Frühstück, Visitenempfang usw., kurz den Salon abgibt. Durch diese Vorrichtung wird es den Badegästen möglich, selbst außer der Bad- und Promenadenzeit fast immer im Freien zuzubringen, um die herrliche Seeluft ununterbrochen zu genießen. — Das Ganze macht den Eindruck eines jener freundlichen holländischen Dörfer, deren rote Backsteinhäuser mit ihren grünen Fensterladen und schneeweißen Schiebfenstern so behaglich und einladend über die Deiche der Kanäle schauen. —

Die Einwohner sind Seeleute und leben von Schifffahrt und Fischerei. Besonders beschäftigt die letztere sie in den Monaten Oktober und November. Während der Badezeit gewähren ihnen das Vermieten ihrer Wohnungen, die Bedienung und Aufwartung der Badegaste und manche andere Beschäftigungen einen Verdienst, den sie von Jahr zu Jahr höher schätzen lernen. Sie sind einfache, grundehrliche, treuherzige Menschen, die sehr wenige Bedürfnisse haben und voll Redlichkeit und Biedersinn den Badegästen mit Gefälligkeit und Freundlichkeit entgegenkommen. Prellerei und Unverschämtheit sind ihnen ebenso unbekannt, als Betrug und Diebstahl. Kein Haus wird des Nachts verschlossen und selbst an den meisten Stubentüren versieht ein einfacher Türgriff die Stelle von Schloß und Riegel, ohne daß man die geringste Besorgnis zu hegen brauchte. Nie kommt ein Beispiel von Dieberei vor, und ruhig und dreist kann der Fremde seine Effekten bei offenen Türen und Fenstern liegen lassen. — Ihre Lebensweise ist sehr einfach, Kartoffeln, getrocknete und frische Fische, Kaffee, Tee, Brod sind ihre Nahrung; Fleisch essen sie sehr selten; Branntwein trinken sie nur, wenn sie zur See sind, und selbst da nicht Alle. — Diejenigen, welche nicht zur See verunglücken, werden sehr alt, da aber solche Unglücksfälle nicht selten sind, so gibt es viele Witwen unter den Weibern. Die Tracht hat nichts Besonderes, die Männer tragen Matrosenkleidung, kurze Jacken oder Blusen, weite Beinkleider und einen runden Hut; die Frauenzimmer die Kleidung der ostfriesischen Bäuerinnen, die einige Ähnlichkeit mit der holländischen hat. Auf Schönheit können die letztern keine Ansprüche machen, wenigstens keineswegs in dem Grade wie die Bewohnerinnen von Helgoland; dagegen zeichnen sie sich nicht minder als diese durch Reinheit der Sitten und großen Sinn für Ordnung und Reinlichkeit aus, die jedem Fremden beim Eintritte in ihre Wohnungen sehr angenehm auffällt.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Seebaden und das Norderneyer Seebad