II. Die resolutorische Wirkung

Der erste Eindruck, welchen das Seebad auf den Organismus äußert, trifft das Hautsystem. Schon nach den drei bis vier ersten Bädern entsteht ein juckendes Gefühl auf der ganzen Oberhaut, das unwiderstehlich zum Kratzen reizt und in der Bettwärme, zunimmt, so daß die davon Befallenen in ihrem Schlafe dadurch gestört werden.

Gleichzeitig erscheint auf Brust und Rücken, häufig auch an den Extremitäten, entweder eine Scharlachröte oder ein frieselähnlicher Ausschlag, welcher letztere als der am häufigsten vorkommende unter dem Namen des Badefriesels bekannt ist. Einen ähnlichen Ausschlag habe ich früher nach kalten Flußbädern auch zuweilen beobachtet, jedoch in weit geringerem Grade und nur bei einzelnen Individuen, die sehr blond waren und einen sehr weißen Teint hatten.


Auch auf das Erscheinen des Seebadefriesels ist die Feinheit des Teints von Einfluß. Je weißer die Haut und je blonder das Haar, desto früher und desto stärker erscheint der Frieselausschlag und zeigt sich bei mehrjährigem Gebrauche des Seebades stets wieder von neuem, gleich nach den ersten Bädern.

Bei Einigen bilden sich Blutschwären, seltener Röte der Conjunctiva oculi ,Anschwellen der Augenlieder und hordeola [Drüsenabszess am Augenlid]. Bei manchen zeigt sich auch von allen diesen nichts; und sind dies in der Regel solche, welche dunkles Haar, eine dunkle, stets eine gewisse ölige Beschaffenheit zeigende Haut und eine starke perspiratio cutanea haben.

Die Dauer dieser verschiedenen exanthematischen [ausgedehnter, meist entzündeter Hautausschlag] Erscheinungen variiert zwischen drei bis sieben Tagen und überschreitet diese Zeit nur ausnahmsweise. Die Bäder werden mittlerweile regelmäßig fortgenommen, obgleich sie auf der zerkratzten Haut oft ein Brennen veranlassen, welches jedoch nicht lange anhält. Fieber habe ich bei diesen Ausschlägen nie beobachtet, die endlich unter deutlicher Abschilferung der Epidermis bald in kleinen, bald in großen Stücken, verschwinden.

Von nun an zeigt das Hautsystem durch mancherlei Veränderungen, in welchem hohen Grade seine Tätigkeit durch das Seebad erhöhet ist. Die Ausdünstung der Haut nimmt merklich zu und steigert sich zu einer ununterbrochenen gelinden Transpiration. Ein behagliches Gefühl von Wärme verbreitet sich über den ganzen Körper. Allmählich nimmt der Schweiß eine etwas klebrige Beschaffenheit an. Nägel und Haare werden dunkler gefärbt, und in die letztem ergießt sich ein eigentümlicher Stoff, wodurch sie stets glänzend, feucht und so aneinander klebend erscheinen, als wären sie mit Honigwasser getränkt, daher das Hindurchführen eines Kammes schwieriger als sonst ist; auch pflegt das Haar alsdann stark auszugehen, worüber jedoch Niemand ängstlich zu werden Ursache hat, da schon einige Wochen nach beendeter Badekur der Haarwuchs in hohem Grade zunimmt und um vieles stärker wird, als er vorher war.

Nur die zuletzt angeführten Erscheinungen vermehrter Hauttätigkeit dauern die ganze Badezeit hindurch fort. —
Die nächsten dem Auge des Arztes erst nach dem 6ten bis 7ten Bad sich darbietenden Erscheinungen verraten dann eine bedeutende Einwirkung auf alle dem vegetativen Leben angehörigen Organe. Zuerst ist es der Digestionsapparat, welcher in Anspruch genommen wird. Bei Einigen tritt Verstopfung ein; wer früher täglich regelmäßige Leibesöffnung hatte, sieht sich plötzlich auf zweitägigen Stuhlgang reducirt; Kranke, die an Obstipationen [Stuhlverstopfung] zu leiden pflegen, auf 3- ja 4tägigen. In diesen letzten Fällen habe ich dann das regelmäßige tägliche Trinken des Seewassers, oder den Gebrauch leicht aber sicher wirkender Eccoprotica [Hundebandwurm] am nützlichsten gefunden. Den Stuhlgang durch diese Mittel künstlich wieder zu regulieren, wird um so notwendiger, wenn in Folge der Verstopfung, die ich schon 14 Tage und länger auf die angegebene Weise habe anhalten sehen, Kongestionen, beständiges Echauffement, Kopfschmerz, Schlaflosigkeit und bei jungen Männern Pollutionen, sich einstellen, welche letztere jedoch eben so häufig durch ein ungewohntes hartes Lager auf einer Seegrasmatratze veranlaßt werden, besonders bei denen, die zu diesen Entleerungen inklinieren [neigen]. Ein weicheres Bett macht ihre Klagen dann bald verstummen.

Bei manchen entsteht gerade das Gegenteil von Verstopfung, plötzlicher Durchfall, der gewöhnlich nur 1 oder 2 Tage währt, und gern, aber mit Unrecht einer Erkältung zugeschrieben wird, da er vielmehr Wirkung des Bades ist, und sich gewöhnlich von selbst oder nach einem Bischen rheum bei fortgesetztem Baden verliert.

Auf diese Erscheinungen, welche die ersten Zeichen der begonnenen Einwirkung des Seebadens auf die Verdauungsorgane sind, folgen nun Spannung und Empfindlichkeit des Unterleibes, Kollern im Bauche, leichter Harnzwang und Tenesmus [andauernder schmerzhafter Stuhl- oder Harndrang], Abmagerung und große Schlafsucht und Müdigkeit; die Badenden klagen, daß sie sich nach dem Bad sehr angegriffen fühlten, oft erschöpft zu Hause anlangten; Manche, besonders Damen, Anwandlungen zur Ohnmacht sogar noch in der Badekutsche bekämen. Viele werden von einem wahren Heißhunger gleich nach dem Bad befallen, und ich habe mehre Damen gekannt, die stets ein Stückchen Semmel mit zum Bad nahmen, um es während des Ankleidens zu verzehren und sich dadurch gegen die Erschöpfung und den Heißhunger zu sichern.

Dies Gefühl des Fatiguirtseins stellt sich um diese Zeit der Badekur bei Allen ohne Ausnahme ein und hält noch einige Zeit an. Hinsichtlich des Grades findet aber ein großer Unterschied statt, der teils durch Alter, Geschlecht, Konstitution und Krankheit des Badenden, teils aber auch durch die Art und Weise wie jeder badet, durch die Dauer des Aufenthalts im Bad und durch den Umstand bestimmt wird, ob vor oder nach dem Bad nichts genossen wurde.

Ob man vor dem Morgen-Bad erst ein leichtes Frühstück zu sich genommen haben müsse oder nüchtern in das Bad gehen solle, darüber läßt sich nichts Generelles bestimmen, da es hiebet sehr auf hie Gewohnheit eines jeden ankommt, wie lange er überhaupt des Morgens nüchtern zu bleiben pflegt*). Dringend anzuempfehlen aber ist der Genuß einiger leicht verdaulichen Sachen gleich nach dem Bad, sei es Kaffee, Bouillon, oder der von Vogel empfohlene Schinken und ein Glas Wein. Man wird sich dadurch vor den hohen Graden der Ermattung am besten verwahren.

*) Wir Deutschen pflegen selten eln Geschäft nüchtern anzufangen; ohne gefrühstückt zu haben beginnen wir nicht leicht unseren Tag und unterscheiden uns hierin sehr von den Franzosen und Engländern, die erst nach einigen Stunden körperlicher oder geistiger Beschäftigung an ihren Magen denken. Berücksichtigt man diesen Umstand, so wird in einem deutschen Seebade der Badearzt wahrscheinlich besser tun, das Frühstück vor dem Morgenbade seinen fragenden Patienten anzuempfehlen, versteht sich, nicht ganz unmittelbar vorher.

Nicht minder häufig trägt das zu lange Verweilen im Bad zur übermäßigen Ermattung bei. Trotz der erhaltenen Vorschrift des Arztes, nicht länger als. resp. 2, 4, 5, 10 Minuten im Bad zu bleiben, wird die Befolgung derselben gar häufig über dem Vergnügen vergessen, welches sehr bald Alle, Damen und Herren, am Baden finden. Immer noch eine Welle mehr mochte ein jeder über sich hinströmen lassen und verspätet sich darüber ohne es zu ahnen. Kommen dazu noch ein sehr lebhaftes Umhertummeln im Wasser, Schwimm- oder Tauch-Versuche, welche stärkere körperliche Anstrengungen erfordern, so wird ein hoher Grad von Abspannung im Laufe des Tages namentlich bei Schwächern sehr erklärlich.

Zu diesen Symptomen gesellt sich bald eine stärkere Entwickelung luftförmiger Stoffe im Nahrungskanale, eine vermehrte Absonderung, Trübung und dunklere Färbung des Urins, und eine bedeutende Zunahme des Appetits. Bei blinden Hämorrhoiden ist das Hervortreten und Fließendwerden derselben fast eine eben so konstante als günstige Erscheinung, die Menstruation pflegt früher als gewöhnlich einzutreten und länger anzuhalten, und die längere Zeit unterdrückt gebliebene erscheint wieder. Während dieser Zeit setzen die Frauen das Bad aus, die Männer dagegen, bei denen sich Hämorrhoidalfluß einstellte, müssen fortbaden. — Ich erinnere mich eines Falles, der für die große Wirkung des Seebadens auf Hämorrhoidalzustände nicht ohne beweisende Kraft zu sein scheint. Ein junger Kaufmann von 29 Jahren erbat sich im vorigen Sommer sehr ängstlich meinen Rat über ein Übel, welches ihn plötzlich vor wenigen Stunden erst befallen hatte. Stets vollkommen wohl war er mit mehren Freunden angekommen, um sich hier 2 Tage zu vergnügen. Kurz nach ihrer Ankunft hatte er gleich ein Seebad genommen, zum ersten Male in seinem Leben. Es war ihm vortrefflich bekommen, er hatte sich den übrigen Tag wohl befunden, die Nacht gut geschlafen, beim Erwachen aber einen brennenden Schmerz am After empfunden, der beim Aufrechtsitzen und Umhergehen, so wie namentlich beim bald nachher erfolgten Stuhlgange zugenommen hatte. Sehr dadurch geängstigt, da ihm noch niemals etwas gefehlt hatte, bat er mich ihm zu sagen, was das sein könne. Ich untersuchte ihn und fand am orificium ani zwei sehr stark hervortretende Hämorrhoidalknoten, deren Berührung ihm sehr empfindlich und schmerzhaft war. Er versicherte, nie dergleichen früher gehabt zu haben, eben so wenig Blutabgang oder andere ein Hämorrhoidalleiden beurkundende Symptome, um die ich ihn befragte. Beruhigt über die Natur seines Übels und mit der Aussicht deshalb ohne Gefahr am folgenden Tage abreisen zu können, verließ er mich, der ich mich fragte, würden diese Hämorrhoidalknoten heute hervorgetreten sein, wenn der Mann kein Seebad genommen hätte?

Immer geregelter und deutlicher zeigt sich nun in weiterem Verlaufe der Badekur ihr wohltätiger Einfluß auf alle vegetative Funktionen des Körpers. Langsam aber ununterbrochen schreitet der Auflösungsprozess in der Tiefe des Organismus vorwärts, indem ein System nach dem andern den wohltätigen Einfluß erfährt, welchen die erhöhte Tätigkeit aller der Organe bewirkt; welche der Digestion, der Blutbereitung, den Sekretionen und dem Stoffwechsel vorstehen.

Alle Spannung und Auftreibung des Leibes verliert sich, die Ausleerungen sind regelmäßig, reichlich und unterscheiden sich durch Farbe und Gestalt von den gewöhnlichen. Anschoppungen der Milz oder Leber nehmen an Umfang ab; angeschwollene, selbst verhärtete Drüsen schmelzen, namentlich Brust-, Leisten-, Hals-Drüsen, Scropheln und Kropf. Der Urin zeigt fortwahrend Flocken und einen mehligen Bodensatz. Der Appetit ist stärker als je, aber auch Vorsicht bei der Befriedigung desselben ist sehr notwendig, sollen sich nicht bald alle Symptome eines Saburralzustandes einstellen, der nicht selten ein Emeticum [Brechmittel] und strengere Diät notwendig macht.

Diese angegebenen Erscheinungen pflegen bis zum 2l. bis 28. Bad anzuhalten, um welche Zeit dann meistens wieder heftigere Erscheinungen auftreten, welche hier die allgemeinere Teilnahme und Reaktion des ganzen Organismus auf ähnliche Weise verlachen oder anzeigen, wie dies früher bei der ersten Einwirkung der Kur auf die Digestionsorgane zu Anfang des Badens geschah. Sie sind kritischer Natur und dem Ärzte ein willkommenes Zeichen. Oft ist es Schauder, Frost, erhöhte Reizbarkeit, dann flüchtige Hitze, Durst, allgemeine Unbehaglichkeit, Fieber. Je nach der ursprünglichen Krankheit eines jeden zeigt sich dabei der Charakter der begleitenden Symptome verschieden. Bald sind sie gastrisch, dann tritt Kolik, ruhrartiger Durchfall, Brechdurchfall ein, wobei nicht selten ein Abgang verhärteter schwarzer Kotmassen erfolgt; bald sind sie rheumatisch, dann treten ein Ameisenkriechen, Ziehen, Reißen und heftigere Schmerzen in den Teilen auf, die bisher der Sitz rheumatischer Leiden waren; bald sind sie spastisch bei Hysterischen und anderen Nervenkranken; bald gichtisch, wo sich dann nicht selten ein eigenthümlich kritischer oft Röteln-, oft mehr flechtenartiger Ausschlag an den Gelenken bildet, der sich durchaus von dem Badefriesel unterscheidet, und den ich gegen das Ende der Kur bei mehren Arthritischen entstehen sah, von denen Einige zu Anfang derselben auch den Badefriesel gehabt hatten; bald ist es auch nur ein allgemeiner, Fieberzustand mit Kopfweh, Schwindel, Halsschmerz ohne bestimmten Charakter.

Gewöhnlich enden diese Molimina critica mit einem reichlichen Schweiße, und der Kranke empfindet von nun an ein besonderes Wohlbehagen; namentlich lassen nun alle Neuralgien, Rheumatalgien, spastischen Zustände, Leukorrhöen u. auffallend nach oder verschwinden ganz; das Gefühl der Ermattung nach dem Bad hört ganz und gar auf, und macht dagegen dem der Kraft und Gesundheit Platz. Jedes nun folgende Seebad übt eine wahrhaft tonisirende [kräftigende] Wirkung auf Geist und Körper aus, und mit dankbarem Herzen und dem festen Vorsatze im nächsten Jahre wiederzukehren, um. dem geschlagenen Feinde durch nochmaligen Gebrauch des Bades jede Rückkehr abzuschneiden, verlässt der Genesene die Insel.

Diese angeführten Erscheinungen bilden die Grundzüge in dem Bilde, welches sich dem beobachtenden Blicke des Arztes als Resultat der Wirkung des Seebadens in der Mehrzahl der Fälle darbietet. — Einzelne gibt es natürlich, wo auf minder bemerkliche, ruhigere Weise dieselben Vorgänge erfolgen, die dann mehr den Namen einer Lysis [allmählicher Fieberabfall] statt der Krisis verdienen. So wie die Einwirkung der Kur bei diesen minder tumultuarisch sich aussprach, so zeigt sich auch der wohltätige Effekt minder rasch, minder lebhaft. Hier wird der Badearzt dann nicht mit den Exklamationen [Ausrufe] über die wunderbar stärkende Kraft der letzten Seebäder und über die Bestimmtheit, mit welcher man sich des wiedergekehrten Gefühls der Stärke und Gesundheit täglich mehr bewußt werde, bei seinen Besuchen empfangen. Aber voll Überzeugung kann er hier mit der sichern Aussicht auf die erfolgreichste Nachwirkung des Bades die Scheidenden entlassen, ohne fürchten zu müssen, zu viel versprochen zuhaben*). Je langsamer der Prozess der Umwandlung, desto langsamer auch der Erfolg, aber darum nicht minder sicher; und Mancher, der nicht ganz zufrieden mit der Wirkung das Bad verlassen hatte, kehrt im folgenden Jahre wider Erwarten dahin zurück, durch die im Laufe des Winters sich entwickelnden Nachwirkungen von der Wirksamkeit des Seebadens überzeugt; und aus dem frühern Zweifler wird oft ein jährlich wiederkehrender, dankbarer und treuer Besucher desselben. —

*) Dr. A. L. Richter sagt: pag. 16. seiner Schrift: „Die Seebäder auf Norderney, Wangeroog und Helgoland“ darüber Folgendes: Die Erfahrung weiset wiederholentlich nach, daß die Wirkung des Seebades, ebenso wie nach dem Gebrauche eines anderen Bades, sich erst mehrere Wochen und Monate nach Vollendung der Kur manifestiert, da die Heilkraft der Natur oft auf Umwegen und nach Verlaufe mehrere sich gegenseitig bedingender und durch das Bad entwickelter Prozesse, und durch deren Folgen, auf eine den Sinnen wahrnehmbare Weise sich wirksam zeigt. Ist man so glücklich, diese wohltätige Wirkung wahrgenommen zu haben, so wiederhole man die Anwendung desselben Bades im nächsten Jahre, und man kann mit Zuversicht eine in den Grenzen der Möglichkeit liegende Genesung erwarten.“

Fassen wir nun alle Erscheinungen kurz zusammen, so sehen wir, daß der erste Eindruck rein psychisch und zwar im Ganzen erhebender, belebender Art ist; denn die Furcht vor dem Meere verliert sich selbst bei den ängstlichsten Damen durch die vertrauliche Weise, womit man in den Nordseebädern mit dem Meere umgeht, so bald, daß deren deprimierende Wirkung gar nicht in Anschlag zu bringen ist. — Unmittelbar schließt sich daran der somatische Eindruck, den Seeluft und Seebad zunächst durch ihre Einwirkung auf das Hautsystem, und dann auf alle, dem vegetativen Leben angehörige Organe und die einzelnen Akte des Vegetationsprozesses selbst ausüben, die offenbar für beide eine erregende ist. Betrachten wir die letzte Einwirkung hinsichtlich der Art und Weise wie, und hinsichtlich der Zeit, in welcher sie zu Stande kommt, genauer, so müssen wir anerkennen, daß sie als eine allmählich mehr und mehr zunehmende Betätigung sämtlicher der Vegetation vorstehenden Organe in ihren Funktionen sich ausspricht, wodurch ein größerer Schwung in alle die Vorgänge gebracht wird, welche die Nutrition[Ernährung] und den Stoffwechsel zum Zwecke haben. — Daher gleich nach Herstellung des durch die große Hautreizung zu Anfang der Kur gestörten Gleichgewichts zwischen Hautsystem und Darmkanal, die deutlich verstärkte Absorption, welche sich durch beginnende Abmagerung, ungewöhnliche Esslust, und das Gefühl der Ermattung kund gab; daher die so bedeutend vermehrte Haut- und Urin-Sekretion und die reichlichen Darmexkretionen; daher das Schmelzen und Schwinden verhärteter Drüsen, Scropheln, Kröpfe, Geschwülste, Anschoppungen, Flechten, Warzen u.; daher die Entwickelung neuer und die Wiederkehr unterdrückter Hämorrhoidal- und Menstrual-Flüsse in Folge der betätigten Sanguifikation, wozu die beständige Respiration der reinen Seeluft nicht wenig beiträgt; daher endlich die Molimina critica vor Beendigung der gänzlichen Ausstoßung alles Krankheitsstoffes aus dem Körper durch die Ausscheidungsorgane. —

Niemand wird die große Ähnlichkeit verkennen, welche diese Erscheinungen mit denen haben, die wir nach dem Gebrauche kräftig auflosender Mineralwässer erfolgen sehen. Nur mit dem Unterschiede, daß sie nach diesen rascher, tumultuarischer und wiederholt auftreten, während die auflösende Wirkung*) des Seebades gradatim hervortritt, weil sie in einer langsam erfolgenden Entfernung alles Fremdartigen in der Mischung des Körpers besteht, welches durch die ungewöhnliche Tätigkeit der Vegetationsorgane und die dadurch hervorgebrachte Bewegung der Säfte mit fortgerissen, in den allgemeinen Kreislauf gebracht und durch die betätigten Exkretionsorgane aus dem Körper geführt wird. Die Haut durch Resorption des Seewassers, die Lungen durch Respiration der Seeluft, sind die ^tria für diese folgenreiche Einwirkung auf den kranken Organismus.

*) Ich habe die Bezeichnung auflösend für die hier beschriebene Wirkung des Seebades gewählt, weil ich sie von der stärkenden, tonisierenden unterschieden wissen wollte, und ihre Analogie mit der der alkalisch-muriatischen Mineralwässer dazu berechtigt, sie mit demselben charakterisierenden Beiworte zu belegen, welches die Pharmakodynamisten [Teilgebiet der Medizin und Pharmazie, auf dem man sich mit der spezifischen Wirkung der Arzneimittel und Gifte befasst] der Klasse von Heilmitteln geben, zu welcher sie jene Mineralwässer zählen, unbeschadet des Begriffes, den der Scharfsinn eines Jeden mit dem Worte „auflösend, Auflösung“ verbinden will.

Will man sie noch erhöhen und beschleunigen, nimmt man als drittes Atrium noch den Darmkanal direkt in Anspruch und läßt Seewasser trinken *) oder unter Umständen dafür andere dem Zwecke entsprechende Mineralwässer, deren Gebrauch während der Seebadekur nicht dringend genug empfohlen werden kann. Vogel und Sachse sind beide dieser Ansicht, Horn schreibt der Unterlassung dieses Verfahrens das Misslingen mancher Seebadekur zu, und dieselbe Meinung Frickes hierüber, der selbst mit Erfolg das Nordseebad gebraucht hat, habe ich aus seinem eigenen Munde. Ich habe mehrfach Mineralwässer während der Badekur trinken lassen, und zwar vorzugsweise Emser und Kissinger in den Fällen, wo ich durch direkte Einwirkung auf den Darmkanal die auflösende Wirkung des Seebades unterstützen wollte und mich des Seewassers dazu nicht bedienen konnte oder wollte. — Driburger und Pyrmonter zog ich dann in Anwendung, wenn ich die tonisierende Wirkung des Seebades, von der gleich die Rede sein wird, zu unterstützen nötig fand, sei es nach überstandener Badekrise, wie ich sie oben beschrieben habe, oder sei es bei Kranken, die überhaupt gerade des stärkenden Einflusses der Seebäder besonders bedurften, wie diejenigen, welche zur Nachkur aus Ems, Wiesbaden, Marienbad, Pyrmont u. kommen, so wie die Bleichsüchtigen, die Nervenkranken aller Art und die an allgemeiner Schwäche, Paresis und Paralyse Leidenden.

*) Wer Ausführlicheres über das Trinken des Seewassers zu wissen wünscht, den verweise ich auf Sachses Schrift l. c. §. 113, pag. 237. und S.G. v. Vogels Ankündigung einer öffentlichen Seebadeanstalt an der Ostsee: u. Stendal. 1794. u. pag. 137—150; und A. P. Buchan's Treatise on sea-bathing. Lond. 1818 chap. VI. pag. 204—227.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Seebaden und das Norderneyer Seebad