I. Die psychische Wirkung

Folgen wir jetzt einem Kranken in das ihm verordnete Seebad, und beobachten an ihm den Wechsel der Eindrücke, denen ein Jeder beim Anfange der Kur zunächst sich ausgesetzt sieht; und suchen wir dann die als wesentliche Grundzüge der Wirkung des Seebadens hervortretenden Erscheinungen der Reihefolge nach auf, wie sie in der Masse der Badenden sich gruppieren.

Niedergebeugt von dem Gefühle seines Krankseins, ermüdet von den am letzten Tage vor der Abreise sich häufenden Anordnungen im häuslichen und Geschäftsleben, besteigt der Kranke in trüber Stimmung den Wagen, der ihn mitten aus dem Binnenlande an die ferne, nie gesehene Küste des Nordmeers bringen soll. Nur die Hoffnung auf endliche Genesung, die seines Arztes zuversichtliches Anraten des Seebades lebhaft in ihm erregt hat, und der Gedanke, mit jeder zurückgelegten Meile dem Genesungsquelle näher zu kommen, belebt sein Auge dann und wann, und verwischt auf Augenblicke den leidenden Ausdruck in den Zügen seines Gesichts.


Angelangt an dem Orte der Bestimmung, gesellt sich der gesteigerten Hoffnung noch das Gefühl der Erwartung hinzu. — Welchen Eindruck wird der erste Anblick des Meers wohl auf dich machen? fragt er sich selbst; und unmittelbar daran schließt sich die Frage: ob mir das erste Bad auch wohl bekommen wird, das ich nach des Badearztes Meinung gleich morgen schon in offener See nehmen soll?

Der hierin ausgesprochene Zweifel versteckt aber eigentlich nur eine gewisse Anwandlung von Furcht vor der ersten genauen Bekanntschaft mit dem ganz fremden Elemente, die zum Teil auch aus der Unkenntnis der üblichen Art und Weise des Badens, namentlich für denjenigen entspringt, der früher nie im Freien gebadet hat. — Kaum sich selbst, um keinen Preis aber Anderen diese Ängstlichkeit gestehend, eilt unser Kranker am nächsten Morgen mit klopfendem Herzen dem Badestrande zu. Ungeduldig schickt er seine Blicke umher, das Meer zu entdecken.

Das von dorther tonende Brausen der Wellen, deren Anblick ihm noch durch die Dünen entzogen ist, dient nicht dazu, seinen Mut zu beleben. So erreicht er die Spitze der Dünenkette. Plötzlich erblickt er den Rand des Horizonts ruhend auf einer weiten dunkeln Flache, die unbeweglich zu sein scheint; noch ein Paar Schritte, und überrascht bleibt er stehen. — Es ist das Meer. Da liegt es vor ihm zu seinen Füßen; aber nicht unbeweglich, wie sein fernster Hintergrund anfangs erschien: sondern im regesten stets wechselnden Leben schickt es tanzende Wellen mit schäumenden Silberspitzen dem weißen schon mit Badelustigen bedeckten Strande zu. Wunderbar erhebt ihn dieser Anblick, ein Verlangen tritt an die Stelle der Furcht und beflügelt unwillkürlich seine Schritte, die ihn rasch unter die zahlreiche Versammlung führen. — Eine lange Reihe von Badekutschen ist in das Meer gefahren — Alle sind besetzt — da klingt ein Glöckchen — Jene dort ward frei — Unser Kranker besteigt sie. — Langsam entkleidet er sich in dem vierräderigen, freundlichen Kabinettchen. Er öffnet die dem Meere zugekehrte Tür, und sieht mit Neugierde und wiedergekehrter Beklemmung dem Treiben der Badenden zu, die in einiger Entfernung vor ihm an der Stelle sich umhertummeln, wo die Brandung am stärksten ist. Mit sichtbarem Behagen stürzen sie sich in den weißen Schaum der in immer neuen Kaskaden heranrollenden Wellen. So also muß ich es machen, sagt er sich selbst; ach! wäre ich doch erst drinnen, fügt er seufzend hinzu. Aber sicherlich bin ich noch nicht abgekühlt genug; nur nicht zu warm in das kalte Wasser hinein; man soll sich dem Schlage aussetzen können, hat man mir gesagt; oder wenn ich meinen Schwindel bekäme; — besser, ich warte noch etwas. — Noch mit dieser an sich selbst gerichteten Entschuldigung seines Zögerns beschäftigt, schallt ihm plötzlich ein: Ey, guten Morgen, Herr Geheimer Regierungsrat! entgegen, sind Sie auch hier? Ein herrliches Bad heute; deliziöse Wellen! nicht wahr? — Ich war noch nicht im Bad, entgegnet unser Kranker dem auf dem Rückwege zu seiner Badekutsche Befindlichen, in naturalibus vor ihm Stehenden, worin er mit Mühe einen guten Bekannten aus der Residenz erkennt. — Ja so; — gewiß bekämpfen Sie noch einige kleine Bedenklichkeiten; ich kenne das. Mais ce n'est que le Premier pas qui coute. Kommen Sie nur dreist die Treppe herab; so — nun werfen Sie sich gleich nieder, daß das Wasser Ihnen über den Kopf — vortrefflich! nun Wasser und Haar aus dem Gesichte gestrichen und vorwärts! dort sind die besten Wellen. Nicht wahr, von Beklemmung, Angst ist gar keine Rede mehr? Ja, das ist die beste Manier; — bin ein alter Praktikus; — ist schon das vierte Jahr, daß ich herkomme. A propos, werfen Sie sich nicht mit Gesicht und Brust den Wellen entgegen, besser von der Seite, mit der Schulter voran, oder mit dem Rücken, sehen Sie, so; Sie schlucken sonst zu viel Wasser ein. — Na, au revoir beim Frühstücke im Konversationshause! —

Damit verschwindet er in seiner Badekutsche, während sein Schüler, der, um nicht furchtsam zu erscheinen, den erhaltenen Anweisungen fast maschinenartig Folge geleistet hat, nun zu seinem eigenen Erstaunen aller Ängstlichkeit enthoben, tiefer hinein watet in die See, der bezeichneten Stelle zu. Dem Rate seines neuen Lehrers folgend, mischt er sich unter die übrigen Badenden, und kann nicht aufhören sich zu wundern über das angenehme erwärmende Gefühl, welche jede ihn überströmende Welle im ganzen Körper verbreitet. Eingedenk der Vorschrift des Badearztes kehrt er nach einigen Minuten zurück, kleidet sich rasch an und verlässt, von einem behaglichen Wärmegefühle durchströmt, den Strand. Leichter hebt er den Fuß und das angenehme Bewußtsein, männlich überwundener Ängstlichkeit und rühmlich bestandener Probe, gibt seiner Stimmung ein heiteres Kolorit und steigert seine Hoffnung auf den glücklichen Erfolg der Kur zu festem Vertrauen.

Es ist doch etwas Wunderbares um das Seebad, denkt er, auf einem Umwege dem Konversationshause zueilend. Ich fühle mich wirklich kräftiger, besser, ja freudiger gestimmt, als gestern, und gar nicht fatiguirt [müde] von der fünftägigen Reise; nicht einmal mein gewöhnliches Kopfweh fühle ich, welches fast nie ausbleibt, wenn ich nur einen Tag im Wagen zugebracht habe. Ist es das eine Bad oder der imposante Anblick des Meeres, die so zauberhaft auf mich gewirkt haben? fragt er, und wendet noch einmal sich um, von der erstiegenen Düne herab einen dankenden Blick auf das wohltätige Element zu werfen. — Oder ist es diese herrliche Luft, die so leicht sich atmet, daß man in langen Zügen sie fast zu trinken vermeint? So ist mir weder in Kissingen noch in Franzensbrunnen jemals zu Mute gewesen. —

Ich breche hier ab in der bisherigen Darstellungsweise, die nur zum Zweck hatte, die psychischen Eindrücke, denen alle Erstbadende fast auf ein und dieselbe Weise gleich anfangs ausgesetzt sind, an einem Individuum recht anschaulich zu schildern. Die nun im Verlaufe der Kur einwirkenden physischen oder somatischen dagegen, so wie die dadurch bewirkten Erscheinungen sind bei der generellen Ähnlichkeit ihrer Grundzüge doch so verschieden nach Krankheit oder Konstitution eines Jeden, daß es unmöglich ist, sie auf gleiche Weise an einem Einzelnen durch detaillierte Mitteilung seiner Kranken- und Kurgeschichte zu schildern. Was sich dort en miniature im Einzelnen ausgeführt am anschaulichsten darstellte, läßt sich hier nur in Umrissen geben, die freilich in eben dem Grade richtige, naturgetreue Zeichnung verlangen, als die miniature ein warmes Kolorit erforderte. —


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Seebaden und das Norderneyer Seebad