Erster Abschnitt. Allgemeine Bemerkungen über das Seebaden

Seit 1794, wo durch Samuel Gottlieb von Vogels unsterbliches Verdienst Deutschland zuerst mit einem Seebade am heiligen Damme bei Doberan beschenkt wurde, ist der große Nutzen und die heilkräftige Wirkung der Seebäder von den Ärzten und Kranken Deutschlands so mannigfach erkannt und gepriesen worden, daß es fast überflüssig erscheinen könnte, jetzt noch darauf aufmerksam zu machen. Ein Blick auf die Reihe von Seebädern, welche binnen 41 Jahren an unseren Küsten entstanden sind, und auf die jährlich sich mehrende Anzahl der Gesundheit und neue Lebenskraft in den schäumenden Wellen findenden Pilger, sagt mehr als Bogen voll Worte und Phrasen.

Deutschland zählt jetzt 16 Seebäder an seinen Nord- und Ostseeküsten, die ich nebst der Jahrszahl der Gründung eines jeden hier aufzählen will, da es nicht ohne Interesse ist, aus der raschen Vermehrung dieser heilbringenden Anstalten den Grad des Aufschwunges zu ersehen, den eine dem Wohl und Glück der Menschheit geweihte Sache in so kurzer Zeit gewonnen hat:


Doberan 1794.
Norderney 1797.
Travemünde 1800.
Colberg in Pommern 1802.
Wangerooge 1804.
Appenrade 1813.
Rügenwalde 1815.
Cuxhaven 1818.
Putbus auf Rügen 1816.
Wyk auf der Insel Föhr 1819.
Ragast bei Varel 1820.
Zoppot bei Danzig 1821.
Warnamünde 1822.
Kiel 1822.
Swinemünde 1823.
Helgoland 1826.

Diese Tabelle gibt ein anschauliches Bild von den Fortschritten, welche Deutschland in der Erkenntnis und Benutzung des großen Schatzes gemacht hat, den es in dem Meere besitzt, und lassen sich daraus die günstigsten Aussichten für einen noch ausgedehnteren und allgemeineren Gebrauch desselben und dadurch für die Kräftigung der jetzigen und künftigen Generationen seiner Bewohner entnehmen. Wie in so vielem Vortrefflichen, so hat auch hierin England uns ein Muster gegeben. Und erwägt man die Anzahl der Badelustigen, die jährlich aus dem Kohlendampfe der Städte, der beengenden Luft der Studierstube, den erhitzenden Debatten und nächtlichen Sessionen im Parlamente, dem Getreibe der politischen Parteien, dem Staube und Dunste der Gerichtshöfe, der Officen, der Comptoirs, der Börse, der Fabriken, den erfrischenden, stärkenden Seebädern zueilen, in deren manchen sie zu 10—20.000 6—8 und mehre Wochen zubringen; und berücksichtigt man dann, daß England an seiner östlichen Küste 14, an seiner südlichen 23, an der westlichen 13, und Schottland 11 größere, lebhaft besuchte Seebäder besitzt, ohne der unbedeutenderen, fast bei jedem Fischerdorfe an der Küste vorhandenen Badevorrichtungen zu gedenken, so finden der schone kräftige Gliederbau, die den Beschwerden aller Klimate trotzende starke Organisation, wodurch die Bewohner Großbritanniens sich auszeichnen, nicht in dem beef und porter allein ihre Erklärung. Der stete Verkehr mit dem Meere, der lange und wiederholte Genuß der belebenden Seeluft an den Seeküsten, die stärkende Wirkung der salzigen Wellen, gibt der organischen Faser neuen Ton, neue Spannkraft. Wie Englands Bewohner die Festigkeit, Energie und den Ernst ihres Charakters dem freieren Elemente ihrer Verfassung verdanken, so danken sie dem Meere ihre körperlichen Vorzüge *).

*) Siehe die von Hufeland in seiner Makrobiotit [Kunst, das Leben zu verlängern] und von Sachse 1. c. angeführten Beispiele hohen Alters unter den Bewohnern der nordischen Küstenländer. Englands und der Inseln, so wie das daselbst über die allgemeine Salubrität [gesunder körperlicher Zustand] der Seeluft und der Seereisen Angeführte. Sinclair fand unter 2410 Marinepensionäre zu Greenwich 96, also fast 4%, welche über 90 Jahre alt waren. Lind riet in seinem Buche: on the preservation of the health of Seamen, schon 1774 alle Marinehospitäler an die See zu legen. v. d. Decken erzählt in seinen Untersuchungen über die Insel Helgoland: der Aufenthalt an den Seeküsten würde in England für so wohltätig für die Gesundheit gehalten, daß Jeder, der die damit verbundenen Kosten nicht scheuet, sich den Genuß desselben, wäre es auch nur auf kurze Zeit, zu verschaffen sucht.

Schon folgt der Norden Deutschlands mit sichtbarem Erfolge diesem Beispiele Englands, und unsere Seebäder können sämtlich gar viele unter ihren Badegästen aufzählen, die schon seit 10, 13, 20 Jahren die regelmäßigen Besucher des segensreichen Strandes sind, und ihr rüstiges, kräftiges Aussehen und die lange bewahrte jugendliche Frische und Kraft ihres Körpers nur diesem Umstande danken. Mag bald auch das Herz und der Süden Deutschlands diese Überzeugung teilen, und seine Siechen und Gebrechlichen dem heilkräftigen Ozean zusenden, von dem der gelehrte Professor Dr. Sachs in Königsberg voll dankbarer Anerkennung in Hufelands Journ. Juli 1828. pag. 31 sagt: „Ein unschätzbares und über jedes Wortlob erhabenes Heilmittel! Das Wasser allein tut es freilich nicht; wo aber sonst wäre eine so große und verbreitete Lufteinwirkung, wo eine so ausgedehnte gleichmäßige und kräftige Luftströmung, wo eine so reine Elektrizitätsmischung, wo eine solche innige Verbindung und ein so großer Zusammenfluß des Elementarischen, Unorganischen und Organischen, wo eine solche Fülle des waltenden, ewig jugendlichen, unerschöpflich kräftigen Lebens, als eben an und in der See?

Das Schwache und im Leben Schwankende nahe sich getrost dieser Lebensquelle, um aus ihr zu schöpfen Kräftigung, Befestigung, innigere Elementarverbindung; nur das Zerrüttete, das dem Tode schon Geweihte (organisch Kranke) bleibe fern, dies erliegt schneller, je mehr hier ursprüngliches, kräftiges Leben waltet. Fieber und organische Krankheiten wichtiger Eingeweide sind die größten, vielleicht die einzigen Kontraindikationen gegen das Seebad. — Was das Seebad und der wohlbenutzte Aufenthalt an der See zu leisten vermag, muß man an sich selbst und Andern erfahren haben, um einen Versuch machen zu können, darüber zu sprechen. Und eben in diesem Falle bin ich: selbst habe ich mehre Male Gesundheit und frisches Leben nach hartem Leiden durch dieses Mittel wir wieder gewonnen, und Kranke, die ich in Betten gehüllt, ins Seebad habe reisen, mit Karren in die See hineinschieben lassen, sind nach einigen Monaten mit jugendlicher Frische zurückgekehrt, nicht wissend, welch ein Zauber das Übel von ihnen hinweggenommen.“ —



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Seebaden und das Norderneyer Seebad