Eine praktische Darstellung der Wirkung des Seebadens

Die Mehrzahl der Ärzte hat durchaus keine klare Idee über das eigentlich Wirksame der Seebader; der Eine sucht dieses einzig und allein in den chemischen Bestandteilen, ein Andrer schätzt sie nur als kalte Bäder und sieht sie nur als potenzierte Flussbäder an, oder setzt sie diesen gleich; ein Dritter findet das Elektrische; ein Vierter den Wellenschlag; ein Fünfter die Jodine, als wirksames Prinzip aus. Von allen fünf sah aber vielleicht keiner das Meer, badete keiner selbst, kannte vielleicht keiner die verschiedenen Formen, in denen man die Seebäder in Anwendung ziehen läßt, die nach den Umständen variieren und diesen gemäß vom Badearzte bestimmt werden. So geht es zu, daß ein großer Teil der Ärzte Kranken den Gebrauch der Seebäder anrät oder widerrät, mehr einer dunkeln Vermutung ihres Indiziert- oder Kontraindiziertseins als einer auf genauere Kenntniß sich gründenden Überzeugung folgend. Glücklicher Weise ist nun bei keiner Gattung von Bädern die Zahl der Kontraindikationen geringer als eben bei den Seebädern, daher auch die Anzahl der durch ihren unzeitigen, unpassenden Gebrauch veranlassten Nachteile nur gering ist. Sehr viel größer dagegen ist die Zahl der Nachteile, welche für viele Kranke aus der unterlassenen Anwendung der Seebäder entstehen, eine weit häufiger vorkommende, aber selten dem beobachtenden Auge des Arztes deutlich und unwiderleglich hervortretende Folge seiner mangelhaften Kenntniß von der Wirkungsweise- und den Indikationen derselben. — Es klingt diese Behauptung fast eben so anmaßend als paradox, und dennoch nötigt eine genauere Untersuchung der Sache zur Anerkennung der Wahrheit derselben.

Einer der Heroen unter den lebenden Ärzten Deutschlands äußerte gegen mich vor einigen Jahren bei Gelegenheit eines Gesprächs über die Seebäder: „Theoretisch wissen wir nichts über das eigentlich Wirksame des Seebades, praktisch nur, daß es ein nervenstärkendes, auf die Haut kräftig wirkendes Mittel ist.“ Ich gestehe, durch diesen Ausspruch des berühmten Praktikers und Gelehrten sehr überrascht worden zu sein, und er gab mir die erste Veranlassung, mich mit den vorhandenen Schriften über diesen Gegenstand auf das Genaueste bekannt zu machen und bei meinen späteren, wiederholten Besuchen und dem eigenen Gebrauche des Seebades die sorgfältigsten Beobachtungen anzustellen. Die so erworbene Bekanntschaft mit den Seebädern selbst und ihrer Literatur, ließ mich bald zwei Gründe für die erwähnte Unkenntnis der Ärzte entdecken.


Persönliche Unbekanntschaft mit dem Meere und Mangel an Ort und Stelle gemachter Beobachtungen ist der eine.

Zu eifriges Haschen vieler Schriftsteller nach einer scharfsinnigen Erklärung der Wirkung des Seebades auf spekulativem Wege und durch das Suchen nach den wirksamen Stoffen im Meerwasser, statt einer anschaulichen Darstellung und Feststellung faktisch erwiesener Effekte desselben, wodurch der Charakter seiner Heilkräftigkeit und somit die Indikationen für seine Anwendung bestimmt werden, ist der andere Grund.

Es erhellt aber hieraus, wie wenig diese mangelhafte Kenntniß der Seebäder den praktischen Ärzten des Binnenlandes zum Vorwurf gereichen kann, da es wohl den wenigsten möglich werden möchte, sich durch eigene Erfahrung an Ort und Stelle eine Auskunft zu verschaffen, die sie zu praktischer Benutzung genügend in den Büchern bisher vergeblich suchen mußten*).

*) Es ist uns Deutschen mit den Untersuchungen über die Wirkung der Seebäder eben so gegangen, wie mit manchen anderen Untersuchungen in der Medizin; je mehr Feld zu Theoremen ein Gegenstand bietet, desto leichter vergessen wir seine praktische Seite, und eine scharfsinnige Hypothese zur Erklärung der Wirkung eines Mittels, wodurch wir eine Krankheit heilten, vielleicht ein Leben retteten, macht uns mehr Freude und wird von uns hoher geschätzt, als die gelungene Heilung selbst. Mitunter können wir nicht umhin, einzugestehen, daß die Franzosen nicht ganz Unrecht haben, wenn sie Deutschland le pays des rêveurs nennen.

Was ich darüber mir als leitende Ansicht bei der Anwendung der Seebäder auf dem Wege der Beobachtung gebildet und festgestellt habe, mag hier seinen Platz und in dem Leser einen nachsichtigen Beurteiler finden.

Zur Erlangung einer klaren Anschauung von der Wirkung des Seebadens ist der natürlichste und deshalb der beste Weg, welchen man einschlagen kann, der rein objektive, indem man die Erscheinungen, welche sich während des Verlaufes der ganzen Badekur der ärztlichen Beobachtung an den Kranken darbieten, genau beachtet und verfolgt, und daraus die nötigen Folgerungen zieht. — Wie jedes Arzneimittel in seiner Einwirkung auf das Individuum, je nach der Konstitution und der Krankheit desselben, gewisse Abweichungen zeigt, so tut dieses auch das Seebad; bald aber erkennt das geübte Auge des Arztes unter den Erscheinungen, die im Befinden der Badenden sich aussprechen, gewisse häufiger vorkommende, generellere Grundzüge, die fast an jedem Badenden sich wiederholen, bald unabhängig von dem individuellen Krankheitszustande ober der Organisation des Einzelnen, bald mehr oder minder dadurch modifiziert.

Gesammelt und in der Reihefolge, worin sie auftreten, zusammengestellt, liefern diese Grundzüge dann das anschaulichste Bild von der Einwirkung des Seebadens auf unsern Organismus, und damit die einzig sichere Basis für eine praktisch brauchbare Theorie, welche mit einer genügenden Erklärung der Wirkungsweise des Seebadens zugleich die Regeln für die therapeutische Anwendung desselben zu geben vermag.



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber das Seebaden und das Norderneyer Seebad