Evangelische Toleranz ganz anderer Art in England

Eine evangelische Toleranz ganz anderer Art ist nun aber in England aus dem Schoße der Independenten hervorgegangen. Die Independenten haben zuerst in der protestantischen Welt, ja zuerst in der Christenheit die Losung der Toleranz erhoben. Aber die Toleranz hat bei ihnen einen ganz andern Beweggrund und Sinn. Das Wesen des Independentismus ist bekanntlich die absolute Unabhängigkeit (Independenz) der einzelnen evangelischen Gemeinde. Daher seine Bezeichnung. Jede Gemeinde soll ihr Glaubensbekenntnis (covenant), ihre Gottesdienstordnung und Disziplin für sich allein festsetzen. Es darf kein höheres Kirchenregiment über ihr bestehen, sei es von Bischöfen oder von Synoden oder von Konsistorien. Es darf keine Uniformität gefordert werden das ist: keine Gleichmäßigkeit des Glaubensbekenntnisses und der Gottesdienstordnung für die gesamte Kirche. Solche Uniformität war damals noch die von allen Parteien, den Presbyterianern so gut, als den Episkopalen gestellte Forderung. Jede wollte das, was sie als das biblisch Gebotene erkannte. auch zum allgemeinen Gesetz er Kirche und des Landes erheben. Die Toleranz der Independenten ist nun nichts anderes, als die Widersetzung gegen die Uniformität. Sie ist die gegenseitige Anerkennung der einzelnen Gemeinden oder auch Gemeinschaften, dass jede den evangelischen Glauben nach ihrer besondern Weise und Erleuchtung auch abweichend von den anderen ausgestalte. Das haben auch die Independenten wirklich, als sie unter Cromwell zur Macht gelangten, allen anderen evangelischen Gemeinschaften gewährt. Wie ganz anderer Art ist demnach die Toleranz des Independentismus als die des Pietismus! Die Toleranz des Pietismus beruht auf dem Werte der Gottseligkeit gegenüber der korrekten Lehre, die Toleranz des Independentismus beruht auf dem Rechte der Einzelgemeinde gegenüber der Gesamtkirche. Die Toleranz des Pietismus ist eine geistliche Würdigung des Christenlebens, ein Aufschwung in die unsichtbare Kirche, die Toleranz des Independentismus ist ein Prinzip für die Gestattung der sichtbaren Kirche, die Auflösung derselben in vereinzelte Gemeinden. Die Toleranz der Independenten beharrt daher auch auf der äußersten Intoleranz gegen die Römische Kirche, sie ist bloß eine andere Ordnung der Evangelischen Kirche.

Ein Zug dieser independentischen Toleranz hat sich in den Anschauungen der Englischen Dissenters behauptet. Er ist auch eine hauptsächliche Beigabe in der jetzigen evangelischen Allianz, der ich damit jedoch keineswegs das tiefere Motiv der Toleranz, den Hinblick auf das verborgene Leben in Christo, abspreche.


Es traten nämlich 1845 zu Liverpool, nachher zu London, ungefähr zweihundert Personen aus nahe an zwanzig evangelischen Kirchengemeinschaften zusammen zu einem allgemeinen evangelischen Bündnis. Das sollte zwar, wie sie erklärten. nicht eine wechselseitige Anerkennung der Kirchengemeinschaften, sondern nur eine wechselseitige Anerkennung der Mitglieder als Brüder in Christo sein. Allein in der Tat ist es dennoch eine wechselseitige Anerkennung der Kirchengemeinschaften selbst. Denn man bezeugte ausdrücklich, dass die gegenseitigen Unterscheidungslehren nicht fundamental, d. h. nicht wesentlich zur Seligkeit sehen. Man erkannte sich gegenseitig an, nicht zufolge der persönlichen Erweckung, sondern der Angehörigkeit an die bestimmte Kirchengemeinschaft. Man formulierte acht Glaubensartikel als Legitimation evangelischen Kirchtums, die genau auf die beteiligten Kirchengemeinschaften berechnet waren. Man schloss die Katholiken nicht mit ein in die Brüderschaft in Christo, wie das auch nicht möglich war, wenn man es unternahm, sie zu formulieren. Es wurden also in ihren Mitgliedern doch eigentlich die Kirchengemeinschaften selbst anerkannt, welche die acht Artikel unterschreiben. Der evangelische Bund ist nun nur eine Erscheinung auf dem Gebiete dieser Auffassung, die sich natürlich in mannigfachen Schattierungen und Mischungen darstellt.

Hieraus ist denn klar, dass die Toleranz nach englisch-dissentrischer Anschauung in Ursprung, Geschichte und Wesen etwas ganz anderes ist, als die Toleranz des Deutschen Protestantismus. Unsere Deutsche evangelische Toleranz ist Bewahrung der Kirche, aber Anerkennung der Kinder Gottes in allen Konfessionen und Sekten. Die dissentrische Toleranz ist Aufgeben oder doch Zurückstellen der Kirche, gleiche Geltung aller evangelischen Sekten. politische Gleichberechtigung derselben und kirchlich wechselseitige Anerkennung ihrer Ebenbürtigkeit und ihres Gleichwertes, dass keine sich selbst als die Kirche, die übrigen als Sekten, sondern jede sich nur als eine kirchliche Gemeinschaft, eine Kongregation, gegenüber anderen kirchlichen Gemeinschaften betrachte. Es ist gar nicht Toleranz im eigentlichen Sinne, sondern Sektenprinzip. Freiheit und Wechsel-Anerkennung der Sekten.

Diese Art der Toleranz schlägt nun gegenwärtig mächtig herüber auch nach Deutschland, sie sucht sich auch unserer Zustände zu bemeistern. Bekanntlich hat die evangelische Allianz den Deutschen Protestanten angesonnen, sich mit ihr auf Einen Boden zu stellen, und namentlich die Baptisten in der gleichen Weise, wie sie es tat, anzuerkennen, was der Deutsche Evangelische Kirchentag entschieden ablehnte. Aber auch außer der evangelischen Allianz geht eine mächtige Bewegung durch den ganzen evangelischen Westen, die auf allgemeine evangelische Verbrüderung und gemeinsamen evangelischen Kampf gegen die Römische Kirche dringt, und es uns als Starrheit und Intoleranz auslegt, dass wir uns nicht daran beteiligen. Wir bewahren alle persönliche Hochachtung, wie das Bewusstsein evangelischer Gemeinschaft gegen die Träger dieser Richtung; aber der Deutsche Protestantismus kann auf jene Toleranz oder Verbrüderung nicht eingehen, ohne sich selbst, ohne sein bestes Teil aufzugeben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber christliche Toleranz