Die christliche Toleranz des Staates

Auch beruht die Toleranz christlicher Obrigkeit ebenso wie die Toleranz des einzelnen Christen nicht auf Anerkennung eines Rechts des Menschen zur Willkür im religiösen Glauben, sondern auf Tragung und Schonung gegen seinen bestimmten religiösen Zustand, also gegen sein, wenngleich irriges, religiöses Gewissen. Darum, wo kein religiöses Gewissen ist und sein kann, bloß um der Freiheit willen, braucht der Staat keine Gestattung auf religiösem Gebiet zu geben. Es ist keine Forderung christlicher Toleranz, entschieden atheistisches, materialistisches Bekenntnis und vollends Erziehung der Kinder in „demselbem frei zu geben, denn es hat niemand ein religiöses Gewissen, für den Atheismus Zeugnis abzulegen und ihm seine Kinder zu widmen; gegen den nicht existierenden Gott gibt es auch nicht eine vermeintliche Gebundenheit des religiösen Gewissens. Es ist wenigstens keine unbedingte Forderung christlicher Toleranz, deistische (d. i. die positive Offenbarung leugnende) Religionsvereinigungen allgemein zu gestatten. Gegen den Gott, dessen Existenz man aus der Vernunft folgert, von dem man aber selbst eingesteht aß man nicht Mitteilung und Befehl über die Art seiner Verehrung von ihm empfangen, hat man kein religiöses Gewissensgebot eines gemeinsamen Kultus. Ins Bereich der christlichen Toleranz fällt daher in der Regel die Gestattung der religiösen Vereinigung nur für die geoffenbarten Religionen, als die allein ein religiöses Gewissen hiezu begründen, und namentlich für die verschiedenen positiv-gläubigen Konfessionen und Sekten derselben. Über die Grenze der allgemeinen christlichen Toleranz hinaus geht nun die förmlich rechtliche Verbürgung der Religionsübung für eine Religion oder Konfession und vollends ihre Aufnahme als öffentlicher Kultus im Staate. Solche höheren Gewährungen beruhen auf einer besondern Anerkennung ihres innern Wertes nach christlichem Maßstabe oder ihrer geschichtlichen Berechtigung oder endlich ihrer providentiellen Bedeutung.

Die christliche Toleranz des Staates ist danach an Wesen und Folgen ganz anderer Art, als die philosophische, wie sie von Locke und Bayle gelehrt, wie sie besonders durch Jefferson in Nordamerika. Später durch die Revolution in Frankreich eingeführt wurde. Die profane Toleranz des Staates ist Losreißung von der göttlichen Offenbarung. Gleichhaltung aller denkbaren Religionen und Religionsmeinungen. Anerkennung eines unbedingten Willkürrechts jedes Menschen in religiösen Dingen. Die christliche Toleranz des Staates ist bloß ein Dulden und Tragen gegen den religiösen Zustand und das religiöse Gewissen der betreffenden Untertanen, aber in Treue gegen die christliche Wahrheit.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber christliche Toleranz