Die besondere Mission der Römisch-Katholische Kirche im Reiche Gottes

Um nur nach menschlicher Einsicht davon zu reden:

Es hat die Römisch-Katholische Kirche ihre besondere Mission im Reiche Gottes. Trotz der Verdunkelung im Mittelpunkt der Heilslehre, trotz des Zugs von Gesetzlichkeit und Scholastik, der durch Dogma und Einrichtung geht, und was wir sonst noch an ihr rügen, vertritt sie die erhabene Seite der geschichtlichen Kontinuität, des ununterbrochenen Entwickelungsganges von der apostolischen Zeit her, und es ist nicht zu ermessen, welchen schon sichtbaren Segen und welchen noch verborgenen Samen das in sich schließt. - Es hat die Reformation Calvins neben der Luthers ihre Mission im Reiche Gottes. Das zwar, was die Reformierten an ihr rühmen, die noch so viel schärfere Entgegensetzung gegen die mittelalterliche Kirche, aus der größtenteils die abweichenden Lehren hervorgingen, können wir Lutheraner unmöglich als einen Vorzug zugestehen.*) Aber Calvin ist die Ergänzung der Reformation nach der sittlich kirchlichen Seite durch die Heiligung der Gemeinde, und durch die Auferbauung einer in sich geschlossenen Welt christlicher Ordnungen und christlichen Lebens aus dem Innersten des tätigen Glaubens der Gemeinde heraus. Eine tiefe Gottesfurcht und ihre unbeugsame Bewährung ein energisches lebensgestaltendes Christentum das sind die Segnungen, die von seinem Werke ausgingen und den Westen Europas wie Amerika bis zu dieser Stunde befruchten. Und sollten wir vollends die Mission Luthers verkennen? vor allem die Einkehr in das tiefste Geheimnis und die festeste Bürgschaft der Erlösung, in die Durchdringung des Göttlichen und Menschlichen des Geistlichen und Natürlichen in der Person Christi und in seinem Sakrament, diese Quelle des vollkommenen Trostes, und der Innigkeit und der christlichen Freiheit und des richtigen Maßes! Ich spreche in dem allen lediglich die Tatsache aus. Können wir nun schon nach menschlicher Einsicht eine solche besondere Mission an jeder dieser Konfessionen erkennen, wie vielmehr dürfen wir ihre Zusammengehörigkeit in einer uns unerforschlichen göttlichen Ökonomie ahnen!**)


*) So z. B. im Gegensatze gegen die katholische Umwandlung des Brotes selbst in den Leib Christi wird darauf bestanden, dass das Brot auch gar nicht das Medium sein dürfe, durch welches wir den Leib Christi empfangen, sondern dieser Empfang völlig abgesondert vom Brotgenuss vor sich gehen müsse. Im Gegensatz gegen die katholische positive (damit verdienstbegründende) Willensfreiheit wird darauf bestanden, dass der Mensch gar keine (auch nicht die negative) Willensfreiheit habe, sondern willenloses Objekt der göttlichen Vorherbestimmung sei. Wie vollends sind die Sitten und Einrichtungen auf dieser Seite der Evangelischen Kirche aus der Polemik gegen wirklichen oder vermeintlichen Missbrauch in der Römischen Kirche hervorgegangen. Solche Energie der Verneinung führt niemals zur vollen harmonischen göttlichen Wahrheit.

**) Dagegen den evangelischen Sekten, die sich von diesen großen weltgeschichtlichen Bildungen der Christenheit losgerissen haben, kann man eine solche besondere göttliche Mission gar nicht oder doch nur in geringem Maße zuschreiben. Sie vertreten nicht also eine durchgreifende Auffassung und Richtung des christlich religiösen Geistes, eine wirkliche Seite des Reiches Gottes; sondern es ist irgend eine Einzelheit, eine Übertreibung eines kirchlichen Gedankens oder gar ein besonderer Einfall, auf den sie die Kirche gründen und davon ein bis jetzt ungeahntes Heil erwarten, und es ist durchaus der Zug der Losreißung von der großen Gemeinschaft der Kirche. Manche dieser Sekten mögen in Segen wirken, besonders diejenigen, die nicht andere Lehre und Einrichtung verkünden, sondern nur zum Zwecke strengerer Heiligung sich getrennt haben, und insofern wirklich mehr Kirchlein in der Kirche als Sekten sind. Aber was in ihnen den Segen wirkt, das ist der Schatz, den sie aus der Kirche mitgenommen haben. Sie haben nicht eine besondere Erkenntnis, besondere Erfülltheit von einer Wahrheit, besonderes Charisma, das die Kirche von ihnen lernen und sich aneignen könnte. Vor allem gilt das von jenen Sekten, die aus der calvinischen Bewegung von England und Amerika sich abgezweigt haben und deren innerstes Wesen eine Überstürzung des protestantischen Prinzips ist. Auf ihre einzelnen Unterscheidungslehren kommt es weniger an, als auf ihre allgemeine radikale Auffassung der Kirche. Nach dieser sind sie nur noch ein neues Element in dem europäischen Auflösungsprozess.


Die Katholizität in diesem Sinne ist aber das letzte Siegel und der oberste Maßstab der Toleranz. Aus ihr folgt nicht bloß die Anerkennung der Glieder der andern Konfessionen als Kinder Gottes; sondern die Anerkennung dieser Konfessionen selbst als Sendboten Gottes. Und es wird die Anerkennung und Begünstigung einer jeden Konfession sich bemessen nach dem Grade ihrer Mission und nach dem Grade des Irrtums. durch welchen sie dieselbe verdunkelt. Die echte Toleranz besteht aber hiernach nicht darin, dass die Konfessionen gegeneinander kompensieren und ausgleichen, sondern weit mehr darin, dass jede nur den Irrtum abtut und sonst grade ihre eigne Mission mit der vollsten Energie pflegt und die der andern anerkennt und, so weit das möglich, sich aneignet. Nicht ein gegenseitiges Aufgeben, es sei denn des Irrtums, sondern ein gegenseitiges Aufnehmen bis zur endlichen Gemeinschaft ist der wahrhafte Fortschritt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber christliche Toleranz