Deutsche Protestantismus und sein höherer Beruf

Der Deutsche Protestantismus hat einen anderen, und, ich wage es zu sagen, einen höheren Beruf. Sein Beruf ist nicht das Bündnis der Sekten, sondern die Einheit der Kirche. Ob Lutherische Reformierte, Unierte Kirche, das ist der schwere Kampf, den wir unter uns selbst auszufechten haben; aber unter allen Fällen wird das Resultat nur Kirche, sei es eine weiter oder enger bestimmte Kirche sein. Durch die ganze Geschichte des Deutschen Protestantismus war das geistliche Leben immer „in der Kirche und nicht in den Sekten. Die Kirchlein in der Kirche, wie die evangelische Brüdergemeinde, sind nicht Sekten, weil nicht Gegensatz gegen die Kirche. Der Drang im Deutschen Protestantismus war immer nach der Einheit, nicht nach der Zersplitterung, die aus sich wieder die Zersplitterung gebiert. Wir haben ein großes öffentliches weltgeschichtlich abgelegtes Bekenntnis an der Augustana, der die übrigen gleichsam als Kommentare sich unterordnen; nicht unzählige Partikularurkunden von Konfessionen und Kovenants. Wir suchen nicht - wie es dort eine weitverbreitete Ansicht ist - den Menschen von der Kirche zu lösen, dass jeder bis zur Altersreife möglichst ohne bestimmte Einflüsse gleichsam tabula rasa bleibe, und dann in der einen Hand die Bibel, in der andern Hand das Verzeichnis der zwanzig evangelischen Kirchengemeinschaften sich nun vermeintlich in völliger Freiheit entscheide, welcher derselben er angehöre. Vielmehr streben wir den Menschen der Kirche, die wir als die wahrhaftige erkannt haben, zu binden, ihn von Kindheit an durch die Kirche zu tragen durch Taufe, Jugendunterricht und Konfirmation, durch den Einfluss und das Ansehen von Eltern und Lehrern, durch den ganzen einigen öffentlichen Kultus. Unsere Schriftforschung selbst geht auf die Einheit der Kirche; denn das evangelische Prinzip der freien Forschung, das zuerst durch die Deutsche Reformation verkündet wurde, verstehen und üben wir nicht anders, als zugleich in der Gebundenheit durch die Ehrfurcht vor dem Glauben der Jahrhunderte und vor dem Zeugnis der besonders erleuchteten Männer und Zeiten.

Damit suchen wir nicht, wie uns vorgeworfen wird, in halbkatholischer Auffassung das Reich Gottes in der äußern Institution der Kirche, statt in dem Heil der einzelnen Seele. Wir leugnen nicht, dass die einzelne Seele das letzte Ziel und der höchste Maßstab ist. Sondern wir leugnen nur, dass die einzelne Seele, das ist die Seele in ihrer Vereinzelung, der Sitz der göttlichen Mitteilungen und Gnadenerweisungen sei. Dieses aber ist die uns gegenüberstehende Vorstellung. und sie ist eben die Kulmination des independentischen Prinzips. Nach dem Independentismus ist die einzelne Gemeinde independent, souverän im Reiche Gottes, Sitz des heiligen Geistes. Nach dieser Vorstellung ist, in folgerichtiger Vollendung des Prinzips, die einzelne Seele independent, souverän im Reiche Gottes. Sitz des heiligen Geistes, und beginnt daher völlig neu aus sich heraus die Bibel auszulegen und allenfalls ganz neuen bis jetzt unerhörte Dinge in ihr zu entdecken. Unsere Lehre ist dass der Seele nur in der Kirche die göttlichen Gnadenerteilungen verheißen sind. Die Kirche aber ist nicht eine bloße äußerliche Institution, sie ist ein Reich des Wehens und Webens innerlicher geistlicher Kräfte. Sie ist ein Ineinanderwirken des innerlichen persönlichen Glaubens der Menschen und wieder der Gestaltungen und Monumente, die der Glaube geschaffen und die nun rückwärts den Hauch des Glaubens auf die Menschen ausströmen, ein Durchdringen der Gnade, die Gott in Seine Ordnungen gelegt und der Gnade, die Er in der Seele wirkt, ist der Schatz aller göttlichen Segnungen und aller menschlichen Charismen und Leistungen, eine Handreichung der Heiligtümer von Geschlecht zu Geschlecht. Sie umschließt daher das Verständnis des Wortes Gottes, wie es der Glaube der Christenheit und eine tiefe gläubige theologische Wissenschaft in der Kette der Jahrhunderte herausgebildet hat, und die schönen Gottesdienste, welche andächtiger Sinn von der apostolischen Zeit her bis jetzt gegründet, und die Gemeinschaft des geistlichen Amtes und die christliche Würdigung für alle Lebensverhältnisse, für Hausstand, Staat, Kunst, Wissenschaft, und die christlichen Sitten und Ordnungen des Volkes. und über allem die Sakramente in ihrem rechten Gebrauch und rechten Verständnis. Das sind Einrichtungen und Bande, die Gott durch die Christenheit geschlungen. und an denen die Christenheit selbst durch alle Zeiträume hindurch mitgewirkt hat. Die Gemeinschaft der Gläubigen innerhalb dieser Einrichtungen und Bande, nicht außerhalb derselben - ist die Kirche, ist der mystische Leib Christi, der Sitz der göttlichen Gnadeneinwirkungen, des Geistes, der in alle Wahrheit leitet. Die Kirche pflegen ist darum nicht eine Veräußerlichung, nicht ein Raub andern Bande der Seele zu Christus; sondern vielmehr- auch dessen eigne Pflege. Die Frucht des Reiches Gottes ist der Seelen Seligkeit, aber das Erdreich, auf dem allein diese Frucht wächst und gedeiht, ist die Kirche. Man pflegt nicht die Pflanzen damit, dass man sie aus ihren Beeren zieht, damit sie nun unabhängig aus sich selbst wachsen sollen.


Nach diesem seinem Beruf zur Kirche kann der Deutsche Protestantismus keine solche Toleranz üben, durch die er der Kirche etwas vergibt.

Der Deutsche Protestantismus kann nimmermehr die evangelischen Sekten anerkennen, er kann nur die bestimmten Mitglieder solcher Sekten nach ihrer persönlichen Stellung als Brüder in Christo anerkennen, nicht sowohl weil, als obschon sie der Sekte angehören. Seine Toleranz ist auch hier nur, dass er über die Personen nicht richtet, nicht aber, dass er - wie man vielleicht in Amerika nicht anders weiß die Existenz und Gründung von Sekten an sich für etwas Schuldloses erachtete; denn es steht geschrieben: „es sollen nicht Rotten unter euch sein!“ Er gönnt auch den Sekten gern die freie Übung ihrer Religion, aber er kann sich nicht eben gedrungen fühlen, wie man ihm ansinnt, ihnen die eigne Kirche als Missionsgebiet zu sichern. Auch folgt aus der Gestattung der freien Religionsübung noch keineswegs die Erteilung einer rechtlich verbürgten und obrigkeitlich autorisierten kirchlichen Existenz. Eine unbegrenzte sogenannte „Freiheit des Evangeliums“ ist für unsere Staaten, die noch eine Kirche pflegen, und deren christliches Leben immer in der Kirche wurzelte, so wenig eine Forderung und ein Grundsatz, als die „allgemeine Freiheit der Religion.“ Was soll auch das Kennzeichen des Evangeliums sein? Nehmen doch selbst die freie Schriftforschung und die Rechtfertigungslehre in dem gesammten kirchlichen System einer Sekte wieder einen ganz andern Charakter an! Und sollte ihre Stellung zur Kirche dabei völlig gleichgültig sein? Alle positive Konzessionierung freigiebig zu sein.

Der Deutsche Protestantismus kann nicht an der Lehre der Kirche, die er als die wahrhaftig geoffenbarte erkannt hat, fundamentale und nichtfundamentale (zur Seligkeit nicht wesentliche) Artikel unterscheiden. *) Darf sich der Mensch vermessen, im Gebiete der göttlichen Offenbarung eine Demarkationslinie zu ziehen, so dass dasjenige, was diesseits liegt zur Seligkeit notwendig, was jenseits liegt, von Gott gleichsam nur zum Luxus geoffenbart wäre? Für die einzelne Seele ist nichts fundamental, als bloß der letzte glimmende Glaubensfunke, den nur Gott versteht und der sich in keinen Artikel formulieren lässt. Für die Kirche ist alles fundamental, was zu dem ganzen unteilbaren, von Gott geoffenbarten Glauben gehört. Und anathema sit, wer nur ein Tüttelchen davon mit Bewusstsein aufgibt. Und sollte grade das Dogma von der Taufe, die doch die Vorbedingung der Seligkeit ist, nicht fundamental sein? Sollte es nicht-fundamental sein, dass die Taufe der gesamten Evangelischen Kirche für ungültig oder ungenügend erklärt wird?

*) Eine Lehre für nicht-fundamental erklären, ist etwas ganz anderes als von ihr (im Sinne der Unionisten) erklären, dass sie dem bloßen Gebiete der Theologie und nicht der Religion angehöre. Ist das Letztere richtig, dann ist sie überhaupt kein Dogma mehr, ein nichtfundamentales so wenig als ein fundamentales, sie ist dann eine rein menschlich-wissenschaftliche Spekulation. Unter nicht-fundamental kann daher nur verstanden werden, dass eine Lehre wirklich von Gott geoffenbaret, wirklich von religiöser Substanz sei, aber dennoch von so untergeordneter Bedeutung, dass man über sie weggehen darf. Auch ist das nicht dasselbe damit, dass man eine Lehre für zweifelhaft erklärt (in dubiis libertas). Ein Unterschied von mehr oder minder (unmittelbarer oder mittelbarer) entcheidend für die Seeligkeit ist allerdings anzuerkennen; aber auch nach dieser an sich richtigen Kategorie hat die Kirche mit nichten den Beruf, eine Lokationsordnung der geoffenbarten Lehren aufzustellen.

Der Deutsche Protestantismus kann auch nicht auf den leidenschaftlichen Kampf gegen die Römisch-Katholische Kirche eingehen, der jene westliche Bewegung teils im geringeren, teils aber auch im höchsten Grade erfüllt. Er muss seine geschichtliche Stellung im Reiche Gottes behaupten, nach dieser hat er ein Band zur mittelalterlichen und dadurch auch zur heutigen Römisch-Katholischen Kirche. Er wollte von Anfang an nicht die vorgefundene Kirche von Grund aus vertilgen um eine andere völlig neu aus Gottes Wort zu gründen. Er kann auch jetzt nicht sich mit einer Bewegung verbrüdern, die im Letzten darauf hinaus geht. Er hält das Zentrum zwischen dem Romanismus, der in der Geschichte der Kirche aufgeht und dem protestantischen Radikalismus der die Geschichte der Kirche ausjätet, denn er nimmt die Geschichte der Kirche als die ihm gewiesene Bahn und das Wort Gottes als seine Leuchte auf dieser Bahn. Er steht an der Pforte des Mittelalters, von wo die Glaubensheere der Christenheit nach entgegengesetzten Weltgegenden auszogen, so dass sie jetzt einander auch nicht einmal mehr ihre Sprache verstehen; hier hat er seine Tafel aufgerichtet mit der Inschrift der unbefangener! evangelischen Wahrheit, und muss des Rufes gewärtig sein, wenn Gott die Zeit ersieht, dass er auch an seiner Stelle den Zerstreuten und Entfremdeten als Wegweiser für den Ort der Sammlung und für das Wort der Verständigung diene. - Über dem allen ist dem Deutschen Protestantismus vorzugsweise die heilige Wache an dem Kleinod der Kirche, dem Wunder des Sakraments des Altars übertragen, und er darf nicht herabtreten von seinem Posten und sich zu den dabei Unbeschäftigten gesellen.

Der Deutsche Protestantismus hat um deswillen nicht eine engere, sondern eine viel weitere, nur geistlichere, Toleranz. Er erkennt die Kinder Gottes auch in der Römischen und in der Griechischen Kirche, er hat kein Schebolet von acht oder mehr Artikeln für die Brüderschaft in Christo, er setzt dem göttlichen Geist nicht Maß und Regel. Aber seine Toleranz ist eine Toleranz gegen die Personen, nicht ein Aufgeben oder Unterordnen. d. i. geringer Anschlagen, an der erkannten Wahrheit selbst. Sie ist ein Tragen und Anerkennen gegen den abweichenden christlichen Glauben des Nächstem aber in der Treue gegen die Kirche. -

Endlich aber ein noch höherer, ja der höchste Standpunkt christlicher Toleranz ist die Versenkung in das Ganze des Reiches Gottes und dessen Führungen durch alle Zeiten. Das ist der Gedanke der Katholizität, der jetzt viele Gemüter erfüllt, den ich aber, da er noch keine anerkannte, ja noch keine durchgebildete Wahrheit ist, auch nur als Andeutung und Ahnung. nur als Problem und Frage vorzutragen wage.

Es bedeutet das nicht Katholizität im Sinne der Gleichmäßigkeit, was allgemein und zu allen Zeiten gelehrt und beobachtet ist, wie das der Begriff der Katholizität in der Römisch-Katholischen Kirche und auch bei den Reformatoren ist - einer solchen Gleichmäßigkeit durch alle Zeiten widerspricht leider die Tatsache und die Geschichte-; sondern Katholizität im Sinne der Fülle und der Totalität. Es bedeutet die Zusammenfassung der drei großen Konfessionen, in welche jetzt die Christenheit getrennt ist, als Eine untrennbare Ökonomie des Reiches Gottes, wonach denn auch die Trennung selbst. wenn gleich an erster Stelle das Werk menschlicher Verirrung, Beschränktheit und Halsstarrigkeit, doch zugleich auch als Folge besonderer providentieller Mission erscheint.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber christliche Toleranz