Besondere der evangelischen Toleranz

Ich schreite nun in der Erörterung fort von dem Allgemeinen der christlichen Toleranz zu dem Besondern der evangelischen Toleranz.

Hierunter verstehe ich die Toleranz unserer Kirche gegen andere christliche Kirchengemeinschaften und gegen abweichende Lehren wirklich gläubiger Glieder der eigenen Kirche. Hier ist die Toleranz nicht bloß ein Tragen und Schonen, sondern eine positive Anerkennung der gliedlichen Gemeinschaft an Christo. Solcher positiven Toleranz ist der Protestantismus fähig, weil er das Heil der Seele nicht im Gehorsam gegen die äußere Kirche, sondern im Bande zu Christus sucht. Der Gehorsam gegen die äußere Kirche wird durch jede, auch die geringste Abweichung von der Lehre der Kirche verletzt und damit das Heil verwirkt. Dagegen das Band zu Christus kann bestehen bei starker Abirrung in der Erkenntnis.


Diese positive Toleranz ist dem Deutschen Protestantismus vorzugsweise gewonnen durch die pietistische Richtung. Der gefeierte Begründer dieser Richtung, Spener, war ein aufrichtiges Glied der Lutherischen Kirche. Er erkannte die Wahrheit ihres Bekenntnisses und die Notwendigkeit seiner öffentlichen Geltung; er ermäßigte bloß die Überschätzung, dass man dieses menschlich-kirchliche Zeugnis bis in seine geringsten Details und bis in die äußerste Zuspitzung seiner Begriffe der göttlichen Wahrheit selbst gleich hielt. Aber seine eigentliche Reformation, um derentwillen er der zweite Luther genannt wurde, richtete sich dagegen, dass man sich beim bloßen Besitze dieser korrekten Lehre beruhigte ohne Herzensbekehrung und Frucht der Heiligung. Wie die Juden sprachen: „wir sind Abrahams Samen“, und die Katholiken: „wir gehören der heiligen Römisch-Katholischen Kirche an“, so war es in jener orthodoxen Periode eine verbreitete Sinnesart: „wir haben die reine Lehre Luthers, wir lesen täglich die Kontroversschriften gegen Kalvinische Irrtümer; uns kann es nicht fehlen.“ Dieses wie jenes ist ein Ruhepolster der bekehrungsträgen menschlichen Natur. Dem entgegen rief nun Spener ins Gedächtnis zurück, „dass das Himmelreich Gewalt leidet“. dass die letzte Entscheidung des Heils nicht im Besitze der korrekten Lehre liegt, sondern in der Gottseligkeit und ihrer Bewährung in einem frommen Wandel, in der Kindschaft Gottes. Damit führte er die Kirche in ihr Zentrum, in ihr Innerstes und Allerheiligstes zurück. Damit wurde er aber auch der Begründer der evangelischen Toleranz. Denn wenn man trotz der korrekten Lehre der Kindschaft Gottes entbehren und trotz starker dogmatischer Irrtümer die Kindschaft Gottes erwerben kann: so dämpft das wohl allen fleischlichen Stolz der Kirche. und macht anerkennend gegen die frommen Glieder anderer Konfessionen und gegen die Abweichenden in der eigenen. Dieser Zug der Innerlichkeit und der Toleranz geht denn fort durch die ganze pietistische Richtung, durch Zinzendorf und die evangelische Brüdergemeinde, durch die Stillen im Lande bis auf unsere Zeit. Man fragt hier nicht mehr so ängstlich nach diesem oder jenem Lehrpunkt, sondern man fragt vor allem: bist du ein Kind Gottes, stehst du in lebendiger Seelengemeinschaft, in täglichem Umgang mit deinem Herrn und Erlöser? Wie diese Toleranz aus der innern unsichtbaren Kirche, dem verborgenen Leben in Christo, stammt, so hat sie auch keine Grenze in der sichtbaren Welt, und an sichtbaren Ordnungen. Sie sucht die Kinder Gottes in allen Konfessionen, in der Römisch-Katholischen Kirche so gut als in den Sekten; Zinzendorf suchte sie auf dem päbstlichem Stuhl. Es fällt damit die alte Gehässigkeit zwischen Lutheranern und Reformierten, es fällt aber auch der Fanatismus gegen die Römische Kirche, das Toben gegen den Antichrist. Es folgt endlich daraus in der eigenen Kirche eine gewisse Milde und Freiheit in Handhabung des Bekenntnisses, ohne dass grundsätzlich etwas an demselben aufgegeben werde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber christliche Toleranz