Die Toleranz des Deutschen Protestantismus*)

Der Pietismus ist bekanntlich je mehr und mehr in Einseitigkeit verfallen. Er wich gänzlich von der Aufgabe der Kirche, und zog sich in die persönliche Herzensfrömmigkeit zurück. Aber das ist nicht seine Essenz. Seine Essenz ist vielmehr jener Zug der Innerlichkeit und damit der Milde und der Toleranz, und dieser Zug darf nicht wieder eingebüßt werden, wenn gleich unsere Zeit zurückgekehrt ist zu dem Gebot der Treue gegen die Kirche und gegen die volle Wahrheit und die volle Segenskraft, welche die Kirche bewahrt. Er ist damit völlig vereinbar. Ja er muss der Lebenshauch bleiben für den wiederhergestellten Leib der Kirche. Das ergibt dann die echte evangelische Toleranz? die Anerkennung der christlichen Gemeinschaft an dem Abweichenden; aber in Treue gegen die Kirche. Das ist die Toleranz des Deutschen Protestantismus.*)

*) Die Frage der Union liegt auf einem ganz andern Gebiete als die Toleranz, und im Wesentlichen berühren sich beide gar nicht. Denn die Union (ich meine darunter natürlich nur die Bekenntnis-Union, die auch in der Preußischen Landeskirche nur die Ausnahme bildet) besteht darin, dass die Lutherische und die Reformierte Kirche gegenseitig ihre unterscheidenden Dogmen selbst aufgeben und ein neuer völlig gemeinsamer Lehrbegriff an dem Consensus sich bilde. Dann aber kann, wie einleuchtet, von Toleranz, d. i. von Duldung anders Lehrender, nicht mehr die Rede sein. Es ist nur Eine Lehre, Eine Kirche. Lutheraner und Reformierte können nicht mehr tolerant gegen einander sein, wenn sie überhaupt nicht mehr existieren. Das ist demnach eine Täuschung, dass die Unionsrichtung eine tolerante, die konfessionelle Richtung eine intolerante sei. Die Union ist eben so wie das Luthertum und der Kalvinismus ein bestimmter Lehrbegriff, und von allen drei Systemen aus kann man tolerant und kann man intolerant sein. Die Anhänger der mittleren Auffassungen sind nicht notwendig immer toleranter als die der sogenannten extremen Auffassungen. Paul Gerhard, der innige Liederdichter, war exklusiver Lutheraner, ein Held der Bekenntnistreue, und dennoch zugleich für seine Zeit milde gegen die Reformierte Kirche. Umgekehrt findet sich wohl auch bei Anhängern der Union ein leidenschaftlicher Eifer, Lutheraner und Reformierte, Orthodoxe und Rationalisten auf das Prokrustesbett ihrer mittlern Lehre zu spannen. Fanatismus und Toleranz sind hier auf beiden Seiten, und möge jeder Teil seine bestimmte theologische Lehre vertreten, aber ohne sich damit als den Vorkämpfer der Toleranz oder der Innerlichkeit zu betrachten. Wenn nun aber auch die Union als solche keine Beziehung zur Toleranz hat, sondern weit über dieselbe hinausgeht, so ist doch ein Grundgedanke, welchen die unionistische Richtung herausgestellt hat, von Einfluss auf dieselbe, das ist die Unterscheidung zwischen Religion und Theologie oder Lehre der Schule, zwischen Substanz der göttlichen Wahrheit und Auseinanderlegung für die menschlichen Begriffe. Als Urheber dieser Unterscheidung und damit der ganzen (wirklich gläubigen) Unionsrichtung darf wohl Calixt betrachtet werden. Ihn bewegte die Betrübnis über die Spaltung der Christenheit in drei Konfessionen und die lebhafte Sehnsucht die getrennten wieder zu vereinigen; das Mittel hierzu glaubte er an jener Unterscheidung zu besitzen. Zu der Religion, in den wirklichen Glaubensartikeln seien die Konfessionen wesentlich eins, was sie trenne seien hauptsächlich nur die Schulbegriffe, die Theologie. So seien namentlich die Lutheraner und Reformierten über den wahren Genuss des Leibes Christi, die Katholiken und Protestanten über die Rechtfertigung durch das Verdienst Christi wesentlich einig, nur über die Art, wie das zugehe oder in menschliche Begriffe zu fassen sei, bewege sich der Streit. Calixts Unionsgedanke erstreckte sich also auch über die Katholische Kirche, doch wollte er überall, auch zwischen Lutheranern und Reformierten, die Union nur vorbereiten, denn dass auch nach Beseitigung der Schuldifferenzen noch religiöse Unterschiede bleiben, erkannte er an. Die lutherischen Theologen seiner Zeit bezeichneten sein Bestreben als „Synkretismus“. d. i. als Religionsmengung. Es ging zunächst spurlos vorüber. Aber Schleiermacher hat diese Unterscheidung des Calixt wieder aufgenommen und sie ist jetzt vorzugsweise die bewegende in der unionistischen Richtung. - Diese Unterscheidung hat ihre unleugbare Wahrheit, sie ist ein Fortschritt in der Erkenntnis und in der Freiheit, und es wäre unrecht, der unionistischen Richtung, welche dieselbe gewonnen hat, ihr Verdienst zu bestreiten. Aber das wäre auch ein gründlicher Irrtum, dass das theologische Moment religiös gleichgültig sei. Den Kern der göttlichen Wahrheit können wir auf Erden nicht besitzen und festhalten ohne die Schale der menschlich irdischen Begriffe. Religiöses und theologisches Moment stehen deshalb in einer untrennbaren Verbindung, und die heilige Schrift selbst enthält sie bereits in dieser Untrennbarkeit, denn z. B. der Römerbrief und das erste Kapitel des Evangeliums Johannis enthalten in weitem Maße Theologie, begriffliche Bestimmungen über die Rechtfertigung und über die Gottheit und Ewigkeit Christi. Jenes ist der Anfang der Augustana, dieses des Athanasianums. Die Union zwischen Lutheranern und Reformierten kann daher aus dieser Unterscheidung für sich allein nicht bewiesen werden; dazu bedarf es erst des Nachweises, dass das unterscheidende lutherische Bekenntnis wirklich nur theologische Schale ohne allen religiösen Kern enthalte. Die Untersuchung darüber ist nicht in der vorliegenden Aufgabe. Es ist aber jedenfalls ein einseitiger und unfolgerichtiger Gebrauch der von der Entgegenstellung des Religiösen und Theologischen gemacht wird, dass man ihn bloß auf die Unterscheidungslehren der beiden evangelischen Konfessionen anwendet. Wenn er richtig ist. so muss er durch die gesamte christliche Glaubenslehre durchgeführt werden. Das wurde denn auch wirklich auf der Generalsynode von 1846 behauptet und unternommen. Es wurde aus ihm folgerichtig abgeleitet, dass nach der Union sogar die ökumenischen Symbole, obwohl sie den Lutheranern und Reformierten gemein sind, dennoch nicht mehr Symbole bleiben können, weil in ihnen ja eben so gut als in der lutherischen und reformierten Abendmahlslehre bloß theologische (scholastische) Begriffsbestimmungen enthalten seien, die nicht binden, und man nicht berechtigt sei bei der Abendmahlslehre solche auszuscheiden, so man es nicht überall tue. Bei so folgerichtiger Durchführung wird man aber sicher zuletzt bei der völlig verschwommenen Unionsrichtung anlangen, welche die ganze Substanz des christlichen Glaubens für bloße Weisen der Fassung erklärt. Unter allen Umständen bleibt es ganz besonders unfolgerichtig und unmotiviert, kraft der Unterscheidung von religiösem Glauben und theologischem Lehrsystem das lutherische und reformierte Bekenntnis völlig zu einigen, und doch zugleich die (lutherische) Rechtfertigungslehre als das Zentrum des ganzen religiösen Glaubens festzuhalten. Enthält denn etwa die lutherische Rechtfertigungslehre (gegenüber der katholischen) nicht auch Theologie so gut als die lutherische Abendmahlslehre (gegenüber der reformierten)? Letztere, sagt man, will menschlicher Weise den Hergang begreiflich machen, wie wir Leib und Blut Christi beim Abendmahl empfangen, und dieses Wie gehe nicht die Kirche, sondern nur die Schule an. Allein eben so will auch erstere den Hergang begreiflich machen, wie wir durch den Sühnetod Christi zur Erlösung kommen, ob so, dass die zugerechnete Gerechtigkeit in uns die Heiligung bewirkt, oder die wiedergewährte Heiligung in Christo die Gerechtigkeit. Folgerichtiger, unbefangener und großartiger ist daher die Unionsstellung des Calixt, der sehr wohl erkannte, dass diese Begriffe ihre Anwendung auf das Eine ganz in derselben Art finden wie auf das Andere. Darum ist es kein Verschließen gegen eine neu gewonnene tiefere Erkenntnis, kein Beharren auf äußerlicher Scholastik, wenn wir auch von der lutherischen Abendmahlslehre behaupten (was ja von der lutherischen Rechtfertigungslehre Alle zugeben), dass sie, so viel menschliche Theologie auch an ihr sein mag. doch ein religiöses Heiligtum in sich schließt, das ohne sie bei reformierter und unierter Lehre verloren geht. - Die Unterscheidung zwischen religiöser Substanz und theologischer Ausführung in dem Bekenntnis der verschiedenen Kirchen gibt nach allem diesem keine Rechtfertigung der Union. Wohl aber gibt sie eine Bestärkung der Toleranz. Denn wenn nach derselben zugestanden werden muss, dass man in den theologischen Begriffsbestimmungen bis zu einem Punkte fortschreiten kann, und ohne Zweifel mit der und jener Bestimmung fortgeschritten ist, wo sie keine religiöse Substanz mehr enthalten - die Grenze ist eine fließende - und dass diese Bestimmungen, auch soweit sie zur Festhaltung der göttlichen Wahrheit unentbehrlich sind, immer zugleich ein menschliches unvollkommenes Element enthalten, so ermäßigt das notwendig jene Überschätzung der Symbole, die in einer gewissen Periode herrschte und allenfalls wiederkehren könnte. Es ist das eben die Ermäßigung, die bereits Spener (außer dem andern Momente, dass über aller korrekten Lehre doch noch die Herzensbekehrung steht) praktisch und ohne diese klare Motivierung geltend machte. Wird die Unterscheidung zwischen Religion und Theologie auf diesen ihren richtigen Gebrauch zurückgeführt, wo sie nicht Union, sondern nur irenische Annäherung und Toleranz bewirkt, so erstreckt sie sich auch - gleich der pietistischen Auffassung - eben so gut auf das Verhältnis zur Katholischen Kirche als auf das zu der andern evangelischen Konfession. Zu diesem richtigen Gebrauch ist dieselbe nicht mehr ein Sonderbesitz für die unionistische Richtung, sondern ein Gemeingut der ganzen Evangelischen Kirche, sie ist eine wissenschaftliche Bestätigung der evangelischen Toleranz, welche ich als die des deutschen Protestantismus bezeichnet habe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber christliche Toleranz