Ueber christliche Toleranz
Ein Vortrag auf der Veranstaltung des Evangelischen Vereins für Kirchzwecke gehalten am 29. März 1855
Autor: Stahl, Friedrich Julius (1802-1861) Rechtsphilosoph, Jurist, preußischer Kronsyndikus, Politiker, Erscheinungsjahr: 1855
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Christliche Toleranz, Reformation, Christentum, Judentum, Philosophie, Glaube, Demut, Wahrheit, Gottesglauben, Gottesfurcht,
In der Epoche der Bildung. welche sich selbst als die der Aufklärung und Philosophie bezeichnet. und welche ihre Herrschaft noch mächtig in die Gegenwart hereinerstreckt, gilt als die Kardinaltugend über allen Tugenden - die religiöse Toleranz. Jeder Mensch soll seines Glaubens leben – Christ, Jude, Mohamedaner, Philosoph -; aber er soll dem Glauben des Andern die gleiche Achtung zollen. Desgleichen soll der Staat alle Religionen als gleichberechtigt anerkennen. Ja. sogar von der aufgeklärten Kirche, als welche zu betrachten man dem Protestantismus die Ehre erweist, fordert man diese Toleranz, dass sie jedweder Ansicht, der gläubigen wie der ungläubigen, dasselbe Recht auf Lehrstuhl und Kanzel einräume. Es komme vor Gott und Menschen nicht auf den religiösen Glauben, sondern allein auf das rechtschaffene Handeln an. Das Äußerste des Tadels trifft daher die Exklusivität. d. i. dass eine religiöse Überzeugung den Anspruch auf ausschließliche Wahrheit und Berechtigung macht.
******************
******************
Inhaltsverzeichnis
- Christliche Toleranz, gleich dem barmherzigen Samariter
- Christliche Toleranz, wehret nicht den Lehrern
- Christliche Toleranz, für das Verhalten christlicher Obrigkeit
- Die Freiheit der religiösen Vereinigung
- Die christliche Toleranz des Staates
- Besondere der evangelischen Toleranz
- Evangelische Toleranz ganz anderer Art in England
- Deutsche Protestantismus und sein höherer Beruf
- Die besondere Mission der Römisch-Katholische Kirche im Reiche Gottes
- Steffens, Schelling und Neander von einer Kirche der Zukunft
Grade den äußersten Gegensatz gegen diese Toleranz der Aufklärung bildet die Offenbarung Alten und Neuen Testaments. Der Gott der heil. Schrift ist nicht tolerant, er ist ein eifersüchtiger Gott. Das oberste der Gebote ist: „du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ Die nachdrücklichste Einschärfung an das Volk des alten Bundes war es, jedwede andere Religion im Lande auszurotten. Der vornehmste Prophet schlachtete die Baals-Pfaffen. Und auch im neuen Bunde spricht der Erlöser selbst die Verdammnis aus über Alle, die nicht an ihn glauben, und der Apostel Paulus verkündet: „wer anderes Evangelium lehrt, der sei verdammt.“ Selbst die Blutzeugen der christlichen Kirche, so könnte ein Sohn der Aufklärung sagen, haben nicht allein um ihres Glaubens sondern weit mehr noch um ihrer Unduldsamkeit willen den Tod erlitten, dass sie alle anderen Religionen verdammten, dass sie alle Sitten und Vergnügungen der Welt, Spiele und Theater, verdammten. Und grade die philosophischen Denker - ein Plinius, ein Marc-Aurel- waren ihre eifrigsten Verfolger. Ja, das Christentum ist entgegen der Toleranz der Römischen Religion, entgegen der Toleranz der Griechischen Philosophie, ja selbst entgegen dem Judentum, das die Heiden ihren Irrtümern überließ, als die Religion der Intoleranz in die Weltgeschichte eingetreten. Sein Kern ist die Exklusivität, seine Wirkungsart ist die Aggression gegen alle anderen Religionen, die Propaganda unter allen Völkern. Und wie könnte dies auch anders sein? Seiner eigenen göttlichen Wahrheit gewiss, wie könnte es duldsam sein gegen den Irrtum, der Gott die Ehre und den Menschen das Heil entzieht?
Ist doch auch der innerste Beweggrund jener Toleranz kein anderer, als der Zweifel an der göttlichen Offenbarung und damit aller sicheren und bindenden religiösen Wahrheit! Es ist die berühmte Erzählung von den drei Ringen in Lessings „Nathan der Weise.“ Man kann nicht wissen, welcher von den drei Ringen – Christentum, Judentum, Mohamedanismus - der echte, vom Vater hinterlassene Ring, welche beiden dagegen die nachgemachten sind. Ja, es ist die Vermutung, dass sie alle drei nur nachgemacht sind, und der ächte Ring, die philosophische Religion, verloren gegangen ist. Darum möge Jeder seinen Ring für den echten halten und sich mit den Anderen in Frieden vertragen. Die Entscheidung über die Toleranz liegt daher im Letzten nur daran: haben Nathan der Weise und Pilatus Recht, da sie fragen: „was ist Wahrheit?“ oder hat Christus Recht, da er sagt: „ich bin die Wahrheit!“ Die Kardinaltugend des Christentums ist darum ein Anderes und Entgegengesetztes als die Toleranz. Es ist die Treue in Bewahrung und Bekenntnis der göttlichen Wahrheit, es ist der Eifer für Gottes Ehre und für die Ausbreitung seines Reiches zum Heile aller Geschlechter.
Nichtsdestoweniger schließt auch das Christentum eine Toleranz in sich, von einer Tiefe, wie sie vor und neben ihm in keines Menschen Sinn gekommen ist. Es ist dies eine Toleranz anderer und gediegenerer Art, als die Toleranz der Aufklärung oder Philosophie. Diese Toleranz des Christentums ist es, welche den Gegenstand meines Vortrages bildet.
Zunächst überbietet das Christentum jedwede andere Denkart in demjenigen. was die allgemeine Grundlage aller Toleranz ist, in der Liebe, die Alles trägt und duldet, in der Demut, die, der eigenen Sünde bewusst, über den Nächsten nicht richtet, in der Hochhaltung des Ebenbildes Gottes im Menschen, welche ihm freie, innerliche Entschließung gönnt, in der Bescheidung, dass der Weltrichter Weizen und Unkraut erst jenseits sondert. Allein dies Alles erstreckt sich nicht bloß auf die religiöse Überzeugung, sondern ebenso gut auch auf die moralische Übertretung. Wir fragen aber nach der Toleranz im spezifischen Sinne, nach der religiösen Toleranz. Gewährt das Christentum eine Toleranz gegen Unglauben und falsche Lehre, die es gegen Sünde und Laster nicht gewährt? Kann es z. B. gegen Nationalismus und Pantheismus in anderer Art tolerant sein, als es gegen Hochmut, Selbstsucht, Unredlichkeit tolerant ist? Das ist unser Problem.
Das Christentum kennt keine Unterscheidung zwischen religiöser und moralischer Verirrung. Unglauben und falsche Lehre stehen unter demselben göttlichen Gerichte, wie Sünde und Laster. Allein das Christentum macht eine Unterscheidung zwischen dem, was nur die Erkenntnis des Verstandes, und dem, was die Sehnsucht des Herzens, der Zug des Willens, das verborgene Leben in Gott ist, und es macht ferner eine Unterscheidung zwischen der Gottesfurcht, die der Mensch von Natur haben kann, und der Gottesfurcht, die ihm nur durch die besondere Gnade Gottes wird. Darum, wenn Unglauben und falsche Lehre nicht offenbar aus der Wurzel der Ruchlosigkeit, der Profanität, der Frevelhaftigkeit, der Fleischlichkeit kommen, so erheischen sie eine Duldung ganz anderer und spezifischer Art, als die moralische Übertretung; weil der Mensch nicht Richter darüber ist, ob sie im Nächsten ihren Sitz nur in einem Mangel der Verstandesbegriffe, oder aber in der Willensrichtung haben, und ob sie daraus entspringen, dass er die dargebotene Gnade Gottes von sich stieß, oder dass Gott selbst noch die Decke vor seinen Augen hält. Das Christentum kennt nicht zweierlei Art der Sünde. Sünde gegen den Glauben und Sünde gegen die Tugend, aber es kennt zweierlei Art der Zurechnung. Zurechnung nach der Natur, und Zurechnung nach der Gnade, Selbstsucht, Hochmut stehen unter der Zurechnung nach der Natur; Nationalismus, Pantheismus stehen unter der Zurechnung nach der Gnade. Gotteslästerung. Meineid stehen unter der Zurechnung nach der Natur, deshalb straft sie die Obrigkeit; Abfall vom Christentum. Ketzerei stehen unter der Zurechnung nach der Gnade, und die Obrigkeit darf sie deshalb nicht bestrafen. Vor Gott steht sich dies Alles gleich, es steht sich aber nicht gleich vor den Menschen.
Das ist der Grund einer spezifischen, religiösen Toleranz auch im Christentume, und hierin liegt auch der Unterschied der Toleranz des Christentums von der Toleranz der Philosophie. Die Toleranz der Philosophie beruht auf der Ungewissheit über die Religion selbst, die Toleranz des Christentums nur auf der Ungewissheit über den religiösen Zustand des Nächsten. Jene erklärt alle religiöse Ansicht für außer dem Gerichte, diese enthält nur sich selbst des Gerichtes, zeugt aber von einem ewigen Gerichte. Die Philosophie spricht: Ich bin nicht sicher, welche Religion die wahre ist, und jede Meinung über Religion ist erlaubt; deswegen muss ich der Religion des Andern das gleiche Recht zugestehen, wie der meinigen. Das Christentum sagt: Ich weiß, dass mein Glaube die ewige Wahrheit, dass seine Leugnung die schwerste Versündigung ist; aber ich sehe nicht in den innern Zustand des Nächsten, wie Gott sich ihm erweist und erweisen wird, und darum darf ich nicht über ihn richten. Jenes ist ein Zweifel an Gottes Wahrheit, dieses ist eine Demut unter Gottes Wege.
Die Toleranz des Christentums hat deshalb die göttliche Wahrheit zu ihrem Boden. Sie steht auf ihrer Ausschließlichkeit. Sie gesteht nimmermehr der falschen Überzeugung des Nächsten die gleiche Berechtigung in der sittlichen Welt und damit in den öffentlichen Ordnungen zu, sie gewährt nur ihm selbst die Freiheit des innern Lebensganges. - Die christliche Toleranz hat auch die göttliche Wahrheit zu ihrer Schranke, sie lässt nicht von der Treue und dem Eifer für dieselbe. Keine Toleranz konnte die Propheten des alten Bundes die Gesendeten des neuen Bundes abhalten, den Kultus, welcher damals das Heiligtum der Völker war, als Götzendienst zu verdammen. Keine Toleranz darf uns abhalten, die Weisheit und Wissenschaft, welche gegenwärtig der Kultus der Völker sind und deren innerste Wurzel die Leugnung der Offenbarung Gottes und die Umwälzung seiner Ordnungen ist, als das, was sie sind, zu bezeichnen. Keine Toleranz darf die Kirche bewegen, ihre reine Lehre auf der Kanzel oder am Altare fälschen zu lassen, oder den Staat bewegen, seine christlichen Institutionen aufzugeben. Genug, dass jeder Mensch für seine Person seines Glaubens leben kann, unbeschadet seines menschlichen Rechts und seiner menschlichen Ehre. Ja, die christliche Toleranz hat die göttliche Wahrheit selbst zu ihrem Ziele. Sie schließt nicht ab, gleich der philosophischen, mit dem bloßen, selbstständigen Gewährenlassen, sondern sie ist ein positives Pflegen und Tragen im Hinblick auf den endlichen Sieg des Glaubens in dem Nächsten und in der Gemeinde und über der ganzen Erde. Die Toleranz Gottes, welche das Urbild aller echten menschlichen Toleranz ist, geht immer auf Belehrung des Menschen. Seine Langmut will zur Buße führen. So auch die christliche Toleranz. Zwar kann der sündige Mensch nicht selbst Langmut üben, allein er kann doch die Langmut Gottes preisen, und, wo er dazu berufen ist, ihr als Werkzeug willig dienen in beidem, sowohl in der Schonung des Irrenden, als in dem Verlangen und der Zuversicht seiner endlichen Zurechtführung.
So ist das Wesen der christlichen Toleranz ein Schonen und Warten und Pflegen gegen den religiösen Zustand des Nächsten, in der Treue gegen die göttliche Wahrheit.
Ist doch auch der innerste Beweggrund jener Toleranz kein anderer, als der Zweifel an der göttlichen Offenbarung und damit aller sicheren und bindenden religiösen Wahrheit! Es ist die berühmte Erzählung von den drei Ringen in Lessings „Nathan der Weise.“ Man kann nicht wissen, welcher von den drei Ringen – Christentum, Judentum, Mohamedanismus - der echte, vom Vater hinterlassene Ring, welche beiden dagegen die nachgemachten sind. Ja, es ist die Vermutung, dass sie alle drei nur nachgemacht sind, und der ächte Ring, die philosophische Religion, verloren gegangen ist. Darum möge Jeder seinen Ring für den echten halten und sich mit den Anderen in Frieden vertragen. Die Entscheidung über die Toleranz liegt daher im Letzten nur daran: haben Nathan der Weise und Pilatus Recht, da sie fragen: „was ist Wahrheit?“ oder hat Christus Recht, da er sagt: „ich bin die Wahrheit!“ Die Kardinaltugend des Christentums ist darum ein Anderes und Entgegengesetztes als die Toleranz. Es ist die Treue in Bewahrung und Bekenntnis der göttlichen Wahrheit, es ist der Eifer für Gottes Ehre und für die Ausbreitung seines Reiches zum Heile aller Geschlechter.
Nichtsdestoweniger schließt auch das Christentum eine Toleranz in sich, von einer Tiefe, wie sie vor und neben ihm in keines Menschen Sinn gekommen ist. Es ist dies eine Toleranz anderer und gediegenerer Art, als die Toleranz der Aufklärung oder Philosophie. Diese Toleranz des Christentums ist es, welche den Gegenstand meines Vortrages bildet.
Zunächst überbietet das Christentum jedwede andere Denkart in demjenigen. was die allgemeine Grundlage aller Toleranz ist, in der Liebe, die Alles trägt und duldet, in der Demut, die, der eigenen Sünde bewusst, über den Nächsten nicht richtet, in der Hochhaltung des Ebenbildes Gottes im Menschen, welche ihm freie, innerliche Entschließung gönnt, in der Bescheidung, dass der Weltrichter Weizen und Unkraut erst jenseits sondert. Allein dies Alles erstreckt sich nicht bloß auf die religiöse Überzeugung, sondern ebenso gut auch auf die moralische Übertretung. Wir fragen aber nach der Toleranz im spezifischen Sinne, nach der religiösen Toleranz. Gewährt das Christentum eine Toleranz gegen Unglauben und falsche Lehre, die es gegen Sünde und Laster nicht gewährt? Kann es z. B. gegen Nationalismus und Pantheismus in anderer Art tolerant sein, als es gegen Hochmut, Selbstsucht, Unredlichkeit tolerant ist? Das ist unser Problem.
Das Christentum kennt keine Unterscheidung zwischen religiöser und moralischer Verirrung. Unglauben und falsche Lehre stehen unter demselben göttlichen Gerichte, wie Sünde und Laster. Allein das Christentum macht eine Unterscheidung zwischen dem, was nur die Erkenntnis des Verstandes, und dem, was die Sehnsucht des Herzens, der Zug des Willens, das verborgene Leben in Gott ist, und es macht ferner eine Unterscheidung zwischen der Gottesfurcht, die der Mensch von Natur haben kann, und der Gottesfurcht, die ihm nur durch die besondere Gnade Gottes wird. Darum, wenn Unglauben und falsche Lehre nicht offenbar aus der Wurzel der Ruchlosigkeit, der Profanität, der Frevelhaftigkeit, der Fleischlichkeit kommen, so erheischen sie eine Duldung ganz anderer und spezifischer Art, als die moralische Übertretung; weil der Mensch nicht Richter darüber ist, ob sie im Nächsten ihren Sitz nur in einem Mangel der Verstandesbegriffe, oder aber in der Willensrichtung haben, und ob sie daraus entspringen, dass er die dargebotene Gnade Gottes von sich stieß, oder dass Gott selbst noch die Decke vor seinen Augen hält. Das Christentum kennt nicht zweierlei Art der Sünde. Sünde gegen den Glauben und Sünde gegen die Tugend, aber es kennt zweierlei Art der Zurechnung. Zurechnung nach der Natur, und Zurechnung nach der Gnade, Selbstsucht, Hochmut stehen unter der Zurechnung nach der Natur; Nationalismus, Pantheismus stehen unter der Zurechnung nach der Gnade. Gotteslästerung. Meineid stehen unter der Zurechnung nach der Natur, deshalb straft sie die Obrigkeit; Abfall vom Christentum. Ketzerei stehen unter der Zurechnung nach der Gnade, und die Obrigkeit darf sie deshalb nicht bestrafen. Vor Gott steht sich dies Alles gleich, es steht sich aber nicht gleich vor den Menschen.
Das ist der Grund einer spezifischen, religiösen Toleranz auch im Christentume, und hierin liegt auch der Unterschied der Toleranz des Christentums von der Toleranz der Philosophie. Die Toleranz der Philosophie beruht auf der Ungewissheit über die Religion selbst, die Toleranz des Christentums nur auf der Ungewissheit über den religiösen Zustand des Nächsten. Jene erklärt alle religiöse Ansicht für außer dem Gerichte, diese enthält nur sich selbst des Gerichtes, zeugt aber von einem ewigen Gerichte. Die Philosophie spricht: Ich bin nicht sicher, welche Religion die wahre ist, und jede Meinung über Religion ist erlaubt; deswegen muss ich der Religion des Andern das gleiche Recht zugestehen, wie der meinigen. Das Christentum sagt: Ich weiß, dass mein Glaube die ewige Wahrheit, dass seine Leugnung die schwerste Versündigung ist; aber ich sehe nicht in den innern Zustand des Nächsten, wie Gott sich ihm erweist und erweisen wird, und darum darf ich nicht über ihn richten. Jenes ist ein Zweifel an Gottes Wahrheit, dieses ist eine Demut unter Gottes Wege.
Die Toleranz des Christentums hat deshalb die göttliche Wahrheit zu ihrem Boden. Sie steht auf ihrer Ausschließlichkeit. Sie gesteht nimmermehr der falschen Überzeugung des Nächsten die gleiche Berechtigung in der sittlichen Welt und damit in den öffentlichen Ordnungen zu, sie gewährt nur ihm selbst die Freiheit des innern Lebensganges. - Die christliche Toleranz hat auch die göttliche Wahrheit zu ihrer Schranke, sie lässt nicht von der Treue und dem Eifer für dieselbe. Keine Toleranz konnte die Propheten des alten Bundes die Gesendeten des neuen Bundes abhalten, den Kultus, welcher damals das Heiligtum der Völker war, als Götzendienst zu verdammen. Keine Toleranz darf uns abhalten, die Weisheit und Wissenschaft, welche gegenwärtig der Kultus der Völker sind und deren innerste Wurzel die Leugnung der Offenbarung Gottes und die Umwälzung seiner Ordnungen ist, als das, was sie sind, zu bezeichnen. Keine Toleranz darf die Kirche bewegen, ihre reine Lehre auf der Kanzel oder am Altare fälschen zu lassen, oder den Staat bewegen, seine christlichen Institutionen aufzugeben. Genug, dass jeder Mensch für seine Person seines Glaubens leben kann, unbeschadet seines menschlichen Rechts und seiner menschlichen Ehre. Ja, die christliche Toleranz hat die göttliche Wahrheit selbst zu ihrem Ziele. Sie schließt nicht ab, gleich der philosophischen, mit dem bloßen, selbstständigen Gewährenlassen, sondern sie ist ein positives Pflegen und Tragen im Hinblick auf den endlichen Sieg des Glaubens in dem Nächsten und in der Gemeinde und über der ganzen Erde. Die Toleranz Gottes, welche das Urbild aller echten menschlichen Toleranz ist, geht immer auf Belehrung des Menschen. Seine Langmut will zur Buße führen. So auch die christliche Toleranz. Zwar kann der sündige Mensch nicht selbst Langmut üben, allein er kann doch die Langmut Gottes preisen, und, wo er dazu berufen ist, ihr als Werkzeug willig dienen in beidem, sowohl in der Schonung des Irrenden, als in dem Verlangen und der Zuversicht seiner endlichen Zurechtführung.
So ist das Wesen der christlichen Toleranz ein Schonen und Warten und Pflegen gegen den religiösen Zustand des Nächsten, in der Treue gegen die göttliche Wahrheit.