Dritte Fortsetzung

Soll aber die völlige Drehung den geschilderten ruhigen Verlauf wirklich nehmen, so müssen nicht nur die beiden Passate, so lange sie allein auftreten, mit gleichbleibender Intensität wehen, sondern es darf auch vor allen Dingen bei ihrem Ineinandergreifen der eine von ihnen nur ganz allmählich an Stärke abnehmen, wie der andere an Gewalt wächst. Sind aber der Bedingungen so viele und noch dazu keineswegs leicht zu erfüllende, so müssen Ausnahmen von der Regel, welche das Gesetz an und für sich durchaus unberührt lassen, überaus häufig sein. Diese Stöße und Rücksprünge in der Drehung waren es denn auch, welche den klaren, einfachen Sachverhalt so lange verhüllten. Im Übrigen ist ihre Dauer eine so geringe, dass man getrost eine Änderung des Windes in der Richtung nach links zu, also beispielsweise von Süd nach Ost anstatt nach West, als höchstens wenige Tage anhaltend bezeichnen kann – eine Tatsache, die einem jeden Seemann, überhaupt Allen, die sich vom rein praktischen Standpunkte aus auf Witterungskunde legen, geläufig ist. Wichtiger aber noch sind für uns jene scheinbaren Ausnahmen, die wir als Stürme bezeichnen. Auch auf diesem Gebiete herrschte vor Doves meisterhaften Untersuchungen große Verwirrung. Man hatte sich – um mit Dove zu reden – daran gewöhnt, jegliche Erscheinung in unseren Breiten ohne Weiteres als eine verkümmerte Modifikation der unter den Tropen sich abspielenden zu betrachten und war so dahin gelangt, einen speziellen Fall zur Richtschnur aller übrigen zu machen, statt zur Erklärung dieses Einen vom Allgemeinen auszugehen. Ohne daher auf die große Mannigfaltigkeit unserer Witterungszustände weiter zu achten, stutzte man Alles nach dem südlicheren Schema zu. Waren dort die großartigen Wirbelstürme ***), deren Verheerungen an das Unglaubliche grenzen, in ihrem Wesen richtig erkannt und gedeutet worden, so glaubte man die in Nordeuropa herrschenden Stürme ebenfalls als heftige Wirbelwinde nicht nur auffassen zu können, sondern auch zu müssen. Die Drehung der Wetterfahne im Kreise, welche bei Stürmen einzutreten pflegt, gab das Hauptargument für diese Ansicht ab und galt als unwiderleglicher Beweis. Und doch wissen wir gegenwärtig, wie uns das Drehungsgesetz die Möglichkeit einer solchen durch das gleichzeitige Herrschen zweier stetiger Ströme überzeugend dartut. Ohne nun gänzlich in Abrede zu stellen, dass sich der eine oder andere Wirbelstrom von besonderer Ausdehnung aus den Tropen zu uns herüber verirren könne, definierte Dove den bis dahin geltenden Meinungen zum Trotze die Stürme unserer Breiten und speziell Deutschlands lediglich als Folgen der beiden uns bekannten Passate, des warmen Südwest- und des kalten Nordoststromes. Verstehen wir überhaupt unter einem Sturme nichts mehr und nichts weniger als einen Wind, der mit einer das gewöhnliche Maß weit übersteigenden Heftigkeit dahinbraust, so können wir bereits eine Klasse von ihnen als auf einseitigem Vorwalten der Passate beruhend hinstellen. Das enorme Wachsen der Geschwindigkeit, welches den Wind eben zum Sturme anschwellen lässt, und ihm die zerstörende Macht verleiht, kann aber auf zwei Gründen basieren. Tritt irgendwo aus gleich viel welchem Anlass eine starke und über größere Flächen sich erstreckende Luftverdünnung auf, so wird zunächst von den umliegenden, dann von immer ferner gelegenen Gegenden stürmisch Ersatz gefordert in der Art, wie etwa in einem Wasserbecken eine an einer Stelle erzeugte Vertiefung zu ihrer Ausfüllung sämtliche benachbarte Teilchen in Mitleidenschaft zieht. Man darf in solchem Falle von einem Zentrum des Sturmes sprechen und macht es durch den niederen Barometerstand, der eine Folge des geringeren Druckes ist, so wie durch die sämtlich auf diesen Punkt sich richtenden Tendenzen der an den verschiedenen Orten beobachteten Stürme ausfindig. Eine fernere sich selbst erklärende Eigentümlichkeit ist dann noch die, dass beispielsweise bei einem Nordturme dieser Art die südlicheren Stellen eher ergriffen werden, als die nördlicheren, der Sturm also, wie man sich ausdrückt, rückwärts fortschreitet oder „negativ“ ist. Es kann aber auch der andere Fall eintreten, dass nämlich irgendwo eine Luftanhäufung stattgefunden hat, welche sich zu ihrem Abflusse meistenteils des durch den ordnungsmäßig herrschenden Wind von selbst gegebenen Kanales bedient und uns solchergestalt einen „positiven“ Sturm liefert.

***) Die Theorie der Wirbelstürme zu entwickeln lag ebenso sehr außerhalb des Rahmens der Rede, wie das Eingehen auf die Winde der Tropen überhaupt, sofern sie nicht bei der Erklärung der Stürme Deutschlands in Betracht kommen. Auch die gar knappe Darstellung unserer heimatlichen Witterungszustände im Folgenden nimmt denselben Entschuldigungsgrund in Anspruch.


In völligem Gegensatze zu diesem einseitigen Vorwalten eines Windes, der gewöhnlich, aber nicht immer, einer der großen Ströme ist, stehen die Stürme, welche aus den Kämpfen beider Passate um die Herrschaft entspringen, und dies sind die weitaus häufigsten. Wir frischen vor Allem die Tatsache in unserem Gedächtnis auf, dass im günstigsten Falle der warme Strom bei uns doch nur in geringer Höhe über dem kälteren in entgegengesetzter Richtung dahinzieht. Während er nun im Winter bereits in Nordafrika herabsteigt, gelangt er um die Zeit des Frühlings und Herbstes am mittelländischen Meere, im Sommer sogar erst im mittleren Europa in den Bereich eines Gegners. Wir haben daher auch in Deutschland streng genommen um die Sommerszeit die häufigsten Kämpfe beider Gewalten um ein Terrain, das ihnen nicht ausschließlich angehört, zu erwarten. Da aber alsdann die Temperaturdifferenz zwischen ihnen natürlich eine geringere ist, insofern dem polaren Strome Zeit dazu blieb, sich bei seinem Wehen über die erwärmten Landstriche in etwa seines eisigen Charakters zu entkleiden, so geht diesen Gefechten meist der tödliche Ernst ab. Wir empfinden sie eben nur in dem merkwürdig unbeständigen Wetter des Juli, ohne aber für gewöhnlich viel Gewicht darauf zu legen. Gelangt alsdann im Anfange des Herbstes der obere Strom in Italien und Griechenland zur Erde, so herrschen dort die sogenannten Äquinoktialstürme, während sich bei uns, bis wohin sich ihre Wut nicht erstreckt, beständiges Wetter einstellt. Dieses dauert eine Zeitlang, indem sich der Schauplatz des ersten Zusammentreffens mehr und mehr nach Süden verlegt, fort; beide Ströme haben sich ermüdet entweder ihr Bett in Europa neben einander gesucht, oder es hat sogar der eine von ihnen das Feld gänzlich räumen müssen und sucht nun in weiter Entfernung, etwa an der Küste Nordamerikas allmählich und ungestört wieder zu erstarken. Und schon im Monate November sehen wir den Streit um die Hegemonie, und dieses Mal in unserer Heimat, abermals entbrennen. Der äquatoriale Strom gelangt auf einem Laufe zum Pole durch das Zusammenrücken der Meridiane in ein immer engeres Feld und gewinnt dadurch auf jedem einzelnen Punkte an Kraft, was ihm an Ausdehnung genommen wird. Er wird also auch mit größerer Geschwindigkeit die Luft aus südlicheren Gegenden herbeiführen und darum auch eher zum Westwinde werden, als die es bei dem polaren Strome mit Bezug auf Osten geschieht, da letzterer sich über stets größer werdende Räume verbreitet und so an Schnelligkeit verliert. Beide Rivalen geben demnach ihre parallele friedliche Bahn auf, stellen sich in einen spitzen Winkel zu einander und greifen sich von der Seite an. Wenn wir nun festhalten, wie der äquatoriale Strom, je länger er weht, um so mehr zum Westwinde sich gestaltet, also immer entschiedener nach Osten strebt, so kommt er offenbar dann direkt mit dem polaren in Kollision, wenn er sich westlich von ihm befindet, demnach vielleicht in Nordamerika weht, während sein Gegner in Europa ruhig seines Weges zieht. (Abt. A des nachstehenden Schemas.)

Umgekehrt entfernt er sich, wenn er selbst der östliche ist, fortwährend weiter von jenem; im Grenzgebiete zwischen ihnen entsteht ein luftverdünnter Raum, welchen der polare Strom auszufüllen sich bestrebt und sich dadurch mehr oder weniger rasch in einen Nordwest umwandelt. Dieser letzte Fall ist um deswillen für uns besonders interessant, weil er zu den großen Überflutungen an den Gestaden der Nordsee Veranlassung gibt. Die Mehrzahl von ihnen beginnt nämlich bei starkem Südwest, wird aber erst gefährlich durch einen plötzlich auftretenden Nordwest, der über den atlantischen Ozean her in die Seite des äquatorialen Feindes eindringt und die Wassermassen des Meeres gerade auf die Küste zutreibt.

Alle eben charakterisierten Erscheinungen fasst Dove unter dem Namen „Stromstürme“ zusammen, während er einer dritten Kategorie den zwar prägnanten, aber nichts weniger als wohlklingenden Namen „Staustürme“ zuerteilt. Bei diesen findet nun geradezu ein heftiger Kampf, ein gewaltiges Ringen beider Mächte statt. Alle Winkelzüge verschmähend greifen sie einander von vorne an: natürlich tritt für eine Zeitlang, da fiel sich gegenseitig stauen d. h. am Abflusse hemmen, völlige Windstille ein. Ein wegen seiner Seltenheit interessantes Beispiel dieser Wechselwirkung erzählt Kotzebue ****).

****) Gehlers Lexikon Bd. X. S. 1960.

Dieser gelangte mit einem anhaltenden Südwinde an der Küste von Kalifornien bis etwa zum 40. Grade N. Br., wo sich plötzlich ein Nordwind ihm entgegenstellte, der sich sowohl durch den Zug der Wolken als auch durch ihre Veränderung bemerklich machte. Zwischen beiden Winden war die See in 50 Faden Breite und unabsehbarer Länge von Ost nach West vollkommen ruhig und spiegelglatt; der stärkere Nord trieb indessen den schwächeren Gegner vor sich her und in gleichem Maße rückte auch die zwischen ihnen liegende neutrale Zone nach Süden fort. – Zugleich mit dieser Windstille steigt in Folge der bedeutenden Luftanhäufung das Barometer zu schwindelnder Höhe und zeigt daher mit der größten Hartnäckigkeit auf schönes Wetter. Unsere Seeleute nennen diese Erscheinung: „die Winde fechten mit einander.“ Mit unwiderstehlicher Gewalt drängt aber dann der stärkere, und das ist meist der Südwest, einen Widerpart zurück und eine lang angesammelte Wut macht sich in ungestümem Wehen Luft. Wir haben dann bei rapidem Sinken des Barometers einen gefährlichen Sturm. Kommen wir nach diesen Ausführungen mit größerer Berechtigung auf die Frage: „welcher Ursache verdanken wir den jüngsten übermütigen Eingriff der Ostsee in die Rechte des Landes“ zurück, so ist die Antwort darauf für uns, die wir in Greifswald nicht einmal eine meteorologische Station besitzen, nichts weniger als einfach. Dass ein Sturm, welcher zu einer Überflutung an unserer Küste Veranlassung gibt, ihrer Lage und Ausdehnung zufolge von Nord oder Nordost kommen muss, ist selbstverständlich; es finden sich wirklich auch unter den 21 mit Angabe der Windrichtung versehenen größeren und kleineren „Sturmfluten“, welche der Geschichte angehören, 14 und unter diesen die bedeutendsten als nordöstliche oder nördliche notiert, während im Allgemeinen in Deutschland die südwestlichen Stürme fünf- bis sechsmal häufiger sind, als die aus dem nördlichen Quadranten der Windrose.*****) So weit nun bis jetzt die inzwischen eingelaufenen Nachrichten lauten und man Gelegenheit hatte, Angaben meteorologischer Stationen mit Bezug auf Windrichtung, Barometer- und Thermometerstand zu vergleichen, gestaltet sich der Vorgang folgendermaßen. Im ganzen nördlichen und mittleren Deutschland machte sich im November eine eigentümlich milde Temperatur bemerklich, so dass namentlich zu Anfang des Monates fast allenthalben ein bedeutender Überschuss über die mittlere Wärme zur Verzeichnung gelangen konnte.

*****) Bis hierher konnten wir uns eng dem Tenor der Anfang Dezember gehaltenen Rede anschließen, mussten aber, mittlerweile besser informiert, gegenwärtig eine etwas veränderte Form der Darstellung wählen. Zum größten Teile folgten wir bei unseren Ausführungen den trefflichen Bemerkungen des Herrn von Freeden (Hansa, Zeitschr. f. Seewesen 1872, 25 und 26), dem wir namentlich die Zwei-Stürme-Theorie verdanken.

In gleicher Weise war Regen oder wenigstens feuchte Witterung überall vorherrschend; es gab sich somit der äquatoriale Strom deutlich genug in seinen Wirkungen zu erkennen. Indem sich nun eine große Masse dampfförmig gewesenen Wassers, wie es der Südwest aus wärmeren Gegenden uns zugeführt hatte, bei uns in Form von Niederschlägen ansammelte und so aus der Atmosphäre ausschied, verringerte sich gewissermaßen die auf das Barometer drückende Luftschicht. Die Folge davon war nicht nur ein rasches Sinken des Quecksilbers, sondern auch ein Heranströmen der Luft von anderen, man möchte fast sagen günstiger gestellten Orten, bei denen sich die über ihnen in bedeutendem Grade angehäufte Luft durch hohen Barometerstand bemerklich gemacht hatte – Russland und Schweden. Bereits am Morgen des 12. Novembers wurde an der Englischen Küste ein Nordoststurm beobachtet und in ähnlicher Weise zeigte sich dieses Heransaugen von Luft auch auf manchen deutschen Stationen ausgeprägt. (Die durchstrichenen Pfeile des Kärtchens beziehen sich auf diese Phase des Sturmes; neben der Richtung, die im allgemeinen die nordöstliche war, ist die Heftigkeit des Windes durch die Länge der Pfeile angedeutet). Dieser negative, rückwärts fortschreitende Sturm war aber nur der Vorläufer eines zweiten, der ihm fast unmittelbar folgte und dem wir die verheerenden Wirkungen zuzuschreiben haben. Während der erstere nämlich allmählich die nach Osten zu gelegenen Orte einen nach dem anderen in seinen Bereich zog, rückte von Nordost her der positive mit immer schnelleren Schritten heran und erhob sich nun, indem er den ihm gleichsam vorbereiteten Weg einschlug, zu ungeahnter Stärke. An den westlichen Stationen war eine Pause zwischen beiden Stürmen deutlich wahrnehmbar, bei den östlichen hingegen trat der zweite direkt und ohne Unterbrechung in die Fußtapfen des ersteren. Er tobte in Archangelsk am 11. November, schritt alsdann, während er dort bereits am folgenden Tage ein Ende erreicht hatte, in einem seltsam schmalen Bette zwischen Helsingfors und Petersburg (beide Stationen berichten am 11. nur Windstille) weiter, gestaltete sich in Windau, Königsberg, Posen usw. immer mehr zum Orkane und brach alsdann in der Nacht vom 12. zum 13. an der Ostsee ein, indem er die Gewässer des bottnischen Busens teils auf die Südküste Schwedens warf, zum größten Teile aber weiter nach Westen führte und sie über die dänischen Inseln herüber nach Schleswig-Holstein, über Rügen hin nach Stralsund und weiter nach Mecklenburg peitschte. – Weiteres Material hat uns zur Zeit noch nicht vorgelegen; die völlige Aufklärung über alle einschlägigen Verhältnisse erwarten wir wohl mit Recht in wenigen Monaten vom Zentralpunkt Berlin aus und müssen uns vor der Hand, so lange es nicht heißen kann: Dove locutus est! mit dem Wenigen begnügen, was sich bis jetzt ermitteln ließ. Eine Tatsache jedoch verdient hervorgehoben zu werden. In der Ostsee wurde an manchen Orten bereits vor Ausbruch des Sturmes Hochwasser beobachtet, was sich von einem Hereindrängen der Nordsee mittels des Anfang November herrschenden Westwindes herleiten ließe. Indessen ist dies ein Moment von untergeordneter Bedeutung gegenüber der Konzentration der ganzen Ostsee auf die westlichen Küsten, wie dies die Macht des Sturmes bewirkte.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber Sturmfluten.