Ueber Sprache als Ausdruck nationaler Denkweise

Autor: Abel, Carl Dr. (1837-1906) deutscher Linguist und Journalist, Erscheinungsjahr: 1869
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Übersetzung, Umschreibung, Übertragung, Zusammenhang, Unterschiede, Literatur, Sprache, Bedeutung
... Eine Folge dieser Verschiedenheit ist es, dass dadurch das Übersetzen von einer Sprache in die andere nicht allein schwer, sondern, genau genommen, unmöglich gemacht wird. Das klingt der Flut von Übersetzungen gegenüber, mit der besonders unsere deutsche Literatur überschwemmt wird, paradox, ist aber, wenn man unter Übersetzung eine völlig exakte Wiedergabe des Originals versteht, nichtsdestoweniger gewiss. Wörtliche Übertragung ist nach dem, was wir gefunden haben, nicht immer genau. Im Gegenteil, je wörtlicher sie ist, desto ungenauer wird sie in vielen Fällen sein, wenn wir sie mit dem höchsten Maßstabe innerlichen, geistigen Entsprechens messen. Durch Umschreibungen kann man dem Sinne eines fremden Wortes allerdings näher kommen, als durch wörtliche Übertragung; ihn völlig wiederzugeben, müsste aber die Umschreibung eine sehr weitläufige sein. ...
Meine Damen und Herren — versetzen wir uns auf einen Augenblick in die Kindheit zurück, in jene Jahre, in welchen wir, neben manchen anderen nützlichen und saueren Dingen, Französisch lernten. Nehmen wir an, wir sollten eine Übersetzung aus dem Deutschen machen, in der das Wort „Freund“ vorkäme, und wir seien noch auf einer so primitiven Stufe gallischer Gelehrsamkeit, dass wir dafür das Wörterbuch konsultieren müssten. Da fänden wir nun ami — ami, der Freund. Wir würden nun das vollste Recht haben, das Wort in unserem Exercitium zu gebrauchen, und unser Lehrer könnte uns für die Auffindung der richtigen Bezeichnung nur loben. Kein Franzose hätte treffender übersetzen können. Und dennoch ist es zweifelhaft, ob irgend ein Franzose, der unsere Übersetzung liest, sich dabei genau dasselbe denkt, was wir bei dem Lesen des deutschen Originals gedacht haben. Freilich heißt ami Freund. Aber die Freundschaft ist in Frankreich eben ein ander Ding als in Deutschland, und so werden auch die Worte, die dort zu ihrer Bezeichnung gebraucht werden, eine von den entsprechenden deutschen Worten etwas abweichende Bedeutung haben müssen. Im Deutschen hat der Begriff und darum das Wort „Freund“ einen idealen Klang. Es kann allerdings auch der Ausdruck einer gutmütigen Herablassung sein, bei der nicht einmal von Bekanntschaft, viel weniger von Freundschaft die Rede ist, wie wenn man „lieber Freund“ oder „Freundchen“ zu einem Untergeordneten sagt. Aber diese Anwendung ist selten und hat den edleren Sinn des Wortes nicht zu schwächen vermocht. Wenn wir über die Bedeutung des Wortes nachdenken, finden wir, dass „Freundschaft“ uns vorwiegend ein Verhältnis; ausdrückt, das eben so rein und edel, wie die Liebe, dasjenige, was ihm an Leidenschaft fehlt, durch eine völligere Abwesenheit aller egoistischen Motive ersetzt. Der deutsche Freund soll einen Bund mit demjenigen schließen, den er sich zum Freunde erkoren. Er soll sich durch ähnliche Gesinnungen zu ihm hingezogen fühlen, soll sich ihm langsam ergeben, prüfend, ob der Andere der Neigung wert, und kämpfend mit der Scheu, die jeder Mensch, der sich selbst achtet, empfindet, ehe er sich an einen Anderen anschließt. Dann aber soll er treu zu ihm stehen für alle Zeit. All das empfinden wir unwillkürlich, wenn wir „Freund“ sagen. Ist es da nicht erklärlich, dass wir mit dem Worte sparsam umgehen? Dass es in Deutschland überhaupt fast nur Jugendfreundschaften gibt? Dass wir in reiferem Alter, wo wir einseitiger und kälter werden, die Fähigkeit zu einer Verbindung dieser innigen Art fast verlieren? Wie die Liebe, so gehört die Freundschaft in unserem Lande dem Aufgange des Lebens an, den sie mit warmem Licht überstrahlt. Beide können dauern, sollen dauern. Einmal ausgegangen oder nicht rechtzeitig entkeimt, lassen sie sich später schwer zur Blüte bringen. Es sind Junirosen, keine Monatsrosen.

Anders der französische ami. Auch dies Wort enthält beide Bedeutungen des deutschen „Freund“, aber anders verteilt. In ihm überwiegt der bekanntschaftliche Begriff den freundschaftlichen. Auch der französische ami kann Alles sein, was der deutsche „Freund“ sein soll; aber er braucht es durchaus nicht zu sein, um den Begriff zu erfüllen, den die Franzosen mit dem Ausdruck gewöhnlich verbinden. Er ist meistens nur ein Bekannter, der Einem wohl will. Oder er ist selbst weniger als das: ein Mann, dem wir Gelegenheitsdienste erwiesen haben, oder er uns, der gern mit uns plaudert und der nichts Schlechtes hinter uns Herreden wird. Leute, die in Frankreich in solcher Beziehung zu einander stehen, nennen sich amis. Sie sprechen nicht allein gegenseitig unter diesem Namen von einander, wenn der Eine oder der Andere nicht dabei ist, sondern sie reden sich, da nach ihrem Gefühle so wenig Pathetisches in dem Namen liegt, auch gewohnheitsmäßig so an. Der Deutsche sagt kaum je zu seinem Freunde: „Mein Freund“. Das Wort deutet ein zu inniges Verhältnis; an, um leichthin gebraucht zu werden. Nur in ernsten oder erregten Augenblicken werden wir geneigt sein, unsere zarten Beziehungen zu einem Anderen durch diese Namensnennung einzugestehen, zu bestätigen oder zum Hebel eines Appells zu machen. Der Franzose ami't sich dagegen den ganzen Tag. Die Leute, die sich im Café beim petit verre zu treffen pflegen, grüßen sich mit einem comment ça va-t-il, mon ami? und wenn wir auf den Boulevards mit der lässigen Menge hin- und herschlendern, hören wir alle Augenblicke dasselbe vielgebrauchte, vieldeutige Wort. Zwei burschikose, ihre Wechsel vergeudende Studenten reden sich so an, und auch zwei vertrocknete, sousweis geldmachende épiciers. Den Studenten drückt es die leichten kameradschaftlichen Gesinnungen aus, die sie bei gemeinsamem Trinken und Tanzen für einander gewonnen haben, und die aufhören werden, so wie sie nach verschiedenen Stadtteilen ziehen und sich nicht mehr sehen; den épiciers vielleicht die Erinnerung an lange Jahre, in denen sie sich eigentlich nicht mochten, aber ab und zu mit einander schwatzten, schnupften und rauchten. Ein alter Herr wirft das mon ami einem Knaben in gar zu nonchalanter Freundlichkeit hin. Halb lässt er sich herab, halb stellt er sich gleich, und das Resultat ist, dass er auch dem Kinde die allgemeine Wohlwollens-Titulatur des ami zugesteht Der Ehemann sagt es ganz ernsthaft zu seiner Frau, der Dandy scherzend zur Kellnerin, und sogar der Herr des Hundes caressirend zu seinem vierfüßigen Begleiter — eine Sitte, die wir nachahmen, glücklicher- und bezeichnenderweise aber nur mit dem französischen Wort, das wir eben nicht mehr zu schonen brauchen, als die, die es erfunden und geprägt. Man sieht: ami besagt weiter nichts, als dass die Leute sich kennen und äußerlich gut mit einander stehen. Die ganze Stufenleiter aller Verhältnisse, die innerhalb dieser Definition möglich ist, passt in den umfassenden Rahmen des Wortes ami. Die Nutzanwendung davon ergibt sich leicht. Wüssten wir auch von der Art und Weise, wie französische Menschen mit einander verkehren, weiter nichts, als was uns durch diese lexikographischen Beobachtungen über den Gebrauch des Wortes ami gelehrt wird, so würden wir schon zu dem Schlüsse berechtigt sein, dass wo ein und derselbe Name zur Bezeichnung der innigsten und der losesten Beziehungen dient, und wo er gewöhnlich zur Bezeichnung der letzteren gebraucht wird, auf die ersteren nicht so viel Gewicht gelegt werden kann, wie in Deutschland. Die Freundschaft kann dort nicht so warm, die gewöhnliche Bekanntschaft nicht so kühl sein, als bei uns. Man wird sich seltener so viel wert werden, aber man wird sich ebenfalls seltener so gleichgültig bleiben. Man wird sich bald nett finden, aber weniger häufig schätzenswert. Man wird sich rasch flüchtigen Zuneigungen hingeben, sie aber nicht so manches mal zu einem ernsten Lebensbesitz werden lassen, als schwerfälligere und tiefer angelegte Völker.

Denken wir uns nun einmal, das lernende Kind, dessen häusliche Arbeiten den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen bildeten, hätte in dem Augenblick, als wir es belauschten, die Stelle aus Schillers Bürgschaft: „dass der Freund dem Freunde gebrochen die Pflicht“ zu übersetzen gehabt. Es hätte etwa que l’ami a abandonné l’ami sagen müssen, und doch wie wenig hätte es damit den Sinn des Deutschen wiedergegeben. Hinter dem deutschen Worte „Freund“ ruht wie Abendsonnenschein die tiefe und schöne Stimmung des Bundes edler Menschen; im französischen ami liegender hohe und der niedere Begriff, dessen das Wort fähig ist, derart neben einander, dass der letztere den ersteren wie mit einer farblosen, an der Temperatur des gewöhnlichen Lebens verstarrten Kruste bedeckt hat. Ein Funken feuriger Sympathie glüht wohl noch darin, aber über ihm liegt bergehoch die Lava der Alltäglichkeit. Der Freund, der für Möros bürgte, dessentwegen Möros mit den Räubern kämpfte, sich in die Wasserfluten stürzte und dem Henker darbot, war mehr als ein bloßer ami. Ein ami ist am Ende Jeder, der oft mit uns gesprochen, und dabei keinen Grund gehabt hat, unhöflich zu werden; ein Freund sucht einen Teil seines eigenen Glücks im Glücke seines Freundes. Hätten wir die berühmte Stelle in Corneille's Tragödie „Soyons ami, Cinna“ zu verdeutschen, so würden wir demnach richtiger frei übersetzen: „Machen wir Friede, Cinna“, als wörtlich „Seien wir Freunde, Cinna“.

Die Begriffe, die der Deutsche mit dem Worte „Freund“ und der Franzose mit dem Worte ami verbindet, decken sich also nicht ganz. So ähnlich sie sich beide sind, wiegt doch in der Bedeutung des einen die Wärme des Gefühlslebens, in der des anderen der verbindliche Umgangston vor. Und wenn es noch so fleißig und gescheit gewesen wäre, hätte das übersetzende Kind alle Dictionnaires, die je verfasst sind, nachschlagen können, vom alten Meidinger und Thibaut an bis zum neuesten Mozin, ohne einen französischen Ausdruck zu finden, der, zumal an der erwähnten, die edle Bedeutung des deutschen Wortes so stark betonenden Stelle, dem Franzosen genau denselben Eindruck machte, wie dem Deutschen sein „Freund“. Diese Erscheinung, dass die Worte, die in verschiedenen Sprachen angeblich dasselbe bedeuten sollen, wenn man sie aufmerksamer betrachtet, gewöhnlich etwas von einander abweichende Bedeutungen haben, wiederholt sich durch das ganze Lexikon hindurch. Und natürlich. Denn da die Völker in ihren Gedanken verschieden sind, so werden auch die Zeichen, mit denen sie ihre Gedanken ausdrücken, die Worte nämlich, eine verschiedene Bedeutung haben müssen. Ein französischer ami ist eben etwas anderes, als ein deutscher Freund. Mithin können auch die beiden Worte sich nicht völlig entsprechen. Wir müssen allerdings das eine Wort mit dem anderen übersetzen, weil es bei den betreffenden Völkern, und mithin in den betreffenden Sprachen nichts gibt, was sich ähnlicher wäre, als ami und Freund; aber das darf uns nicht zu der Annahme verleiten, beide seien dasselbe, beide drückten genau dasselbe aus. So lange der Deutsche kein Franzose wird, und umgekehrt der Franzose kein Deutscher, wird das, kann das nicht der Fall sein.

Noch stärker tritt die Verschiedenheit dessen, was die verschiedenen Völker denken, tun und mithin auch reden, in anderen sprachlichen Erscheinungen hervor. Sehen wir uns erst wieder ein Beispiel an, und versuchen wir uns dann klar zu machen, was es bedeutet. Die englische Sprache hat zwei Worte, die deutsche nur eins für den Begriff „billig“ — ich meine das „billig“, welches in dem Sprichwort „was dem Einen recht, das ist dem Anderen billig“ vorkömmt. Die beiden englischen Worte sind fair und equitable. Fair zeichnet die Billigkeit, die einem edel und warm angelegten Geiste unwillkürlich zu eigen ist. Wenn ich, ohne mich zu besinnen, gegen meinen Nebenmenschen gerecht bin, nicht bloß weil ich ehrliche Grundsätze habe, sondern, weil ich zu human fühle, um einen Anderen zu schädigen, und weil ich einen zu zarten Stolz habe, um auch nur den Gedanken aufkommen zu lassen, dass ich einen Anderen übervorteilen könnte, dann bin ich, was die Engländer fair nennen. Equitable ist etwas anderes. Ein Mann, der einen Jeden nach Verdienst behandelt und ihm genau zu Teil werden lässt, was ihm zukommt, nicht mehr und nicht weniger, ist equitable.

Ein Mann, der fair ist, wird aus Hochgesinntheit dem Anderen immer etwas mehr zugestehen, als was equitable ist; mancher Mann, wenn er auch nicht die reine und feine Gesinnung des fair hat, wird dennoch aus Grundsatz, Gewohnheit oder Rücksichten weltlichen Vorteils equitable handeln. Der fair man ist einer, dessen Charakter an seine Stirne geschrieben ist, dessen wir sicher sind, wenn wir ihn nur einige Mal handeln gesehen haben; der equitable ist allerdings auch einer, mit dem man ganz gern zu tun hat, dessen Entscheidung in einem gegebenen Falle aber doch immer von einem bedächtig prüfenden Urtheil abhängig sein wird, und dessen Prinzip, zwischen unseren und seinen eigenen Ansprüchen genau abzuwägen, uns auch einmal zu kurz kommen lassen kann, wo wir nicht ohne Grund dachten, mehr beanspruchen zu können. Fair grenzt an großmütig, equitable überschreitet manchmal die unmerkliche Grenze, die es von Härte trennt. Die Jugend mit ihrem Selbstgefühl in schwierigen Lagen, ihrer Selbstlosigkeit in Bezug auf äußeren Vorteil, hat eine natürliche Neigung fair zu sein; im Alter bekommen es Wenige fertig, mehr als equitable zu handeln, fair ist ein Wort, das schon jeder englische Knabe, wenn er sich prügelt, und den anderen von Beinestellen, Haarzupfen und ähnlichen unwürdigen Listen abhalten will, auf den Lippen hat; equitable sagt der Banquier, wenn er dem Geschäftsgenossen grade so viel angesetzt hat, als die Usancen erlauben. So schön sondert die englische Sprache jene beiden Begriffe, für welche wir nur das eine Wort „billig“ haben.

Zwar wer die Deutschen kennt, weiß es, dass ihr Wort „billig“ beide Begriffe in sich vereint, und dass sie je nach dem Zusammenhang, in welchem sie dasselbe gebrauchen, den einen oder den anderen Begriff mehr fühlen, mehr hineinlegen, mehr betonen. Gehört doch Billigkeit gegen Andere grade zu den besten Seiten des deutschen Charakters. Wenn wir von einem billigen Abkommen sprechen, so meinen wir equitable; wenn wir die edle Billigkeit erwähnen, die eine Eigenschaft Wilhelm von Humboldts war, haben wir fair im Sinne. Aber trotzdem müssen wir gestehen, dass wir uns die wesentliche Differenz beider Begriffe nicht zu so prägnanter Anschauung gebracht haben, wie die Engländer, und dass unsere „Billigkeit“, wie wir das Wort gewöhnlich anwenden, die zwei Seiten der Sache mehr oder weniger ungeschieden, und darum unklar neben einander enthält. In allen den Fällen, wo es der Zusammenhang nicht unzweifelhaft werden lässt, was wir meinen, sprechen wir, wenn wir „billig“ sagen, den höheren Begriff des fair und den niederen des equitable, den der unwillkürlichen und den der erwogenen Billigkeit, auf einmal aus. Giebt deshalb der Zusammenhang, in welchem wir das Wort gebrauchen, demselben die niedere Bedeutung nicht ganz scharf, so wird dieselbe durch die höhere, welche gleichsam mitanklingt, geadelt, und ein Hauch der freien Liberalität des fair fällt auf die ängstliche Peinlichkeit des equitable. Umgekehrt, meinen wir fair, bringen aber seine frische und franke Natur nicht durch den Sinn zur völligen Evidenz, so wird dieselbe durch die gleichzeitig mitempfundene Bedeutung des equitable zu einer schwereren, überlegteren und weniger ansprechenden Eigenschaft gemacht, als sie sein soll, wenn sie sich treu bleibt. Eine eigentümliche interessante, dem öffentlichen Gewissen aber sicherlich nicht zuträgliche Folge davon ist es, dass das Wort „billig“ gesprächsweise nur noch selten gebraucht wird. Billig im Sinne von equitable zu sein, d. h. zu wägen und zu messen, hat man ja im außergeschäftlichen Verkehr nicht allzu oft Gelegenheit, kann also in diesem Sinne nicht häufig davon reden. Fair sein, das heißt dem Anderen sein Recht und noch ein gut Teil drüber geben, kann man allerdings immerwährend, im gesellschaftlichen Umgang, im Gespräch, in tausend kleinen Rücksichten auf seinen Nebenmenschen. Ein Helles Auge erspäht in jedem Augenblick Gelegenheiten dazu, ein warmes Herz nimmt sie eben so oft und so rasch auch wahr. Mein Schweigen kann fair sein, und mein Reden kann fair sein, je nachdem ich damit auf die natürlichen Wünsche, die Schwächen und Ansprüche eines Anderen Rücksicht nehme. Ich bin fair, wenn ich einen kleinen Mann vor mir stehen lasse bei der Parade; fair, wenn ich an der table d'hôte wenig esse, damit mein besonders hungriger Hintermann genug bekommt; fair, wenn ich einem mit mir konkurrierenden unbehilflichen Kollegen ein Buch leihe, das er braucht, sich aber nicht verschaffen kann. Ich zeige dieselbe schöne Eigenschaft, wenn ich einem schwachen Billardspieler gegenüber etwas schwächer spiele, als sonst, damit er sich auch amüsieren kann; wenn ich einer jungen Dame Gelegenheit gebe in den Tanzsaal zu entwischen, anstatt am Kartentisch bei ihrer ältlichen Tante zu bleiben; oder wenn ich meine Schwester allein lasse, wenn Besuch kömmt, der ihr interessanter zu werden anfängt, als ich es bin. Aber wer wird viel von Billigkeit reden, wenn er die Großmut, die er damit meint, die freie Großmut, die Rücksicht auf verteidigungslose Interessen nimmt, mit einem Worte bezeichnen muss, welches den Ton des pedantischen, fast egoistischen equitable mit anschlägt? Von edler Beachtung fremder Wünsche, von fairness zusprechen, braucht sich Niemand zu schämen; sich selbst aber oder einen Anderen equitable, das heißt einen rechtlichen Mann zu nennen, der das freiwillig gibt, was man ihm sonst etwa abprozessieren könnte, klingt teils pomphaft, teils beleidigend, da Billigkeit in diesem Sinne bei jedem anständigen Menschen selbstverständlich sein muss. Da man nun aber, wenn man im Deutschen „billig“ sagt, so fair man's auch meinen mag, immer zugleich equitable mit meint, vermeidet man es überhaupt, viel von einer Eigenschaft zu reden, die eine in Bezug auf außergeschäftliche Dinge so zweifelhafte Nebenbedeutung einschließt. Dass das Wort beide Begriffe decken soll, hat seine Stellung in der deutschen Sprache untergraben. Sein heutiger Gebrauch ist im Wesentlichen auf die Erwähnung wichtigerer und komplizierterer Angelegenheiten beschränkt, über die man erst nachdenken muss, ehe man sich über das, was die Billigkeit darin erheischt, entscheiden kann.

An diesem Wort und dem Gewirr seiner Bedeutungen hängt ein peinliches Stück deutscher Geschichte. Vor dem dreißigjährigen Kriege, als es in Deutschland noch, wenigstens für die höheren und mittleren Stände, eine umfassende persönliche Freiheit gab, hatten auch wir zwei Worte für die verschiedenen Bedeutungen des equitable und fair — nämlich für equitable „recht“, für fair „billig“. Das Wort „recht“ bezog sich auf Billigkeit in wichtigeren Dingen; das Wort „billig“ auf edle Rücksicht in unwichtigeren. Der Krieg schlug die Bürger, ihren Wohlstand und ihre Freiheiten tot. In der schrecklichen Verarmung, welche Jeden zwanggierig für sich selbst zu sorgen, verlor sich die Lust zur Billigkeit gegen Andere; in dem absoluten Regiment, das nun ebenmäßig auf Alle wuchtete, ward überhaupt die Möglichkeit, freiwillig zu handeln, merklich geschmälert. Alles wurde Zwang der ökonomischen und gesetzlichen Notwendigkeit. Was nicht durch Hunger und Elend erzwungen wurde, befahl der nunmehr zuerst erstehende moderne Staat. So blieb nur wenig Spielraum übrig für die Betätigung der Gesinnungen, die man ehedem mit „recht“ und mit „billig“ bezeichnet und unterschieden hatte. Man konnte nicht mehr, wie man wollte: man musste. Mit der materiellen Möglichkeit, edelmütig zu sein, war auch die Neigung rücksichtsvoll zu handeln, geschwächt; mit der alten, verfassungsmäßigen Freiheit, Unrecht zu tun, auch die Möglichkeit, aus freien Stücken gerecht zu sein, genommen. So sanken und schwanden denn auch die Worte, welche diese Gesinnungen repräsentiert hatten. Das Wort „recht“, welches „billig in wichtigeren Dingen“ bedeutet hatte, büßte diesen Begriff mehr und mehr ein, und fing an, „gesetzlich“ oder „sittlich“ oder „verständig“ zu bedeuten. Musste man doch in allen wichtigeren Dingen so straff der Obrigkeit gehorsamen, dass man zum Billigsein wenig mehr kam. „Billig“ dagegen behielt zunächst seinen Begriff, weil sich ja die humane Rücksicht bei tausend mehr oder weniger unwesentlichen Anlässen, auf die es sich bezog, nimmer durch Gesetze erzwingen lässt, also auch in jener Zeit scharfer Zucht auf freier Gewährung, auf der Charaktereigenschaft, die damals billig genannt wurde, beruhen musste. Ließ sich doch seine zartere Sphäre von keinen Reglements erreichen, und blieb doch somit diese Art freiwilliger Billigkeit, soweit es die damalige ökonomische und sittliche Dürftigkeit zuließ, erhalten, also auch das Wort dafür nötig.

Dies war der erste Schritt zur Wandlung beider Begriffe. Der zweite, der die Wandlung vollendete, folgte später. Je mehr nämlich das Wort „recht“ seine ursprüngliche Bedeutung von „gerecht und billig in wichtigeren Dingen“ verlor, und die Bedeutung „gesetzlich“ annahm, desto nötiger wurde es, ein anderes Wort für die Bezeichnung der Fälle zu finden, in denen man auch in wichtigeren Dingen immer noch freiwillig handeln konnte, in denen man auch damals nicht billig zu sein brauchte, außer wenn man es aus eigenem Antriebe war. Fälle dieser Art mochten nicht mehr zahlreich, können nicht mehr zahlreich gewesen sein, da ja sonst das Wort „recht“ seine alte Bedeutung nicht verloren, nicht gegen eine neue, gegen die Bedeutung von „gesetzlich“ vertauscht haben würde. Indess sie kamen natürlich noch vor. Es lässt sich ja auch in wichtigeren Dingen niemals alles durch Gesetze und obrigkeitliche Befehle ordnen. Die umfassendsten Codices, die schärfsten Polizeimaßregeln werden immer noch ihre Lücken haben, die etwas Latitüde für die freie Handlungsweise des Menschen lassen, in denen ein guter Mensch gut, ein schlechter Mensch ungestraft schlecht handeln kann. Wenn Fälle solcher Art noch vorkamen, wenn rechtschaffene Handlungsweise in ihnen noch beobachtet wurde, so musste sie also auch bezeichnet werden. Sie wurde es auch, und wie? Die Sprachgeschichte lehrt, dass solche Fälle einfacher Redlichkeit, Fälle des groben Mein und Dein allmählich dem Worte billig mit aufgebürdet wurden, obschon dasselbe ursprünglich nur die Rücksicht bezeichnet hatte, die ein warmes Gemüt auch in unwesentlichen, juristisch nicht verpflichtenden Dingen auf den Nebenmenschen nimmt. Dass dies geschehen konnte, dass ein Wort von dem feinen Hauch und Duft unseres ursprünglichen „billig“ dazu verwendet werden konnte, jene gröbere Billigkeit mitzubezeichnen, deren Verletzung den Menschen gradezu unehrlich macht, zeigt am besten, dass in den pecuniär und sittlich gedrückten Verhältnissen der damaligen Zeit nicht mehr viel Neigung übrig geblieben war, billig in unwesentlicheren Dingen, billig in zarten Beziehungen, billig gegen unverteidigte und verteidigungslose Interessen zu sein. Das Wort „billig“ musste in seiner ursprünglichen, zarten Bedeutung schon geschwächt, oder mindestens selten gebraucht worden sein, damit man auf den Gedanken kommen konnte, es für „recht“ d. h. „redlich“ zu gebrauchen. Einmal dafür gebraucht, verfiel seine ursprüngliche Bedeutung immer mehr. So geschah es denn, dass „billig“ zuletzt dahin gelangte, billig sowohl in gröberen als in feineren Dingen, mit anderen Worten sowohl ehrlich als rücksichtsvoll zu bedeuten, und dass es, durch diese Koppelung verwandter und doch so verschiedener Begriffe in seinem edleren Sinne arg geschädigt, wenig mehr in demselben gebraucht wird. Ein Wort, das in seinem heutigen Begriffsgewirr nicht ausgesprochen werden kann, ohne an die einfachsten Grundsatze des Mein und Dein zu erinnern, kann ja nicht mehr gut auf Gewährungen bezogen werden, deren bezeichnender Charakterzug grade eine wache Großmut auch in den kleinsten Dingen ist. Der Engländer hat sein fair, welches diesem schöneren Sinne des „billig“ entspricht, immerwährend auf der Zunge; der Deutsche, der sein „billig“ nicht mehr wohl dafür verwenden kann, muss den Begriff so manches Mal unausgesprochen lassen, wenn er sich nicht mit dem rein aufs Äußerliche gehenden „anständig“ oder, wenn er Kaufmann ist, mit dem noch nichtssagenderen „coulant“ behelfen will. Sein „billig“ ist durch den Aktenstaub für den täglichen Verkehr mehr oder weniger unbrauchbar geworden.

So wichtige Ursachen kann es haben, so lehrreiche Vorgänge im geistigen Leben der Nationen kann es widerspiegeln, wenn wir finden, dass ein Volk für zwei Schattierungen desselben Begriffes zwei Worte, ein anderes nur eins hat. Ami und „Freund“, wie Sie sich erinnern wollen, hatten jedes zwei Bedeutungen und zwar dieselben Bedeutungen, und der ganze Unterschied bestand nur darin, dass in dem einen die eine, in dem anderen die andere überwog, in „Freund“ die warme, in ami die kalte Seite des Begriffs mehr hervortrat. In equitable, fair und „billig“ ist die Verschiedenheit der nationalen Denk- und Ausdrucksweise schon erheblicher, da hier ein deutsches Wort zwei Begriffe zu vertreten hat, die im Englischen auf zwei Worte verteilt sind, ami und „Freund“ haben jedes zwei Bedeutungen, aber die eine tritt so licht hervor, dass die andere, in den Schatten gestellte, keinen besonderen Ausdruck zu erfordern schien; in fair und equitable die je nur eine enthalten, kommt die höchste Prägnanz des sprachlichen Gedankens zur Erscheinung; in „billig“ vermischen sich zwei zu einem psychologischen Brei.

Hiermit verwandt ist es, wenn sich ein Volk für zwei verwandte Begriffe ursprünglich zwei verschiedene Worte geschaffen hat, im Laufe seiner Geschichte aber, entweder weil ihm überhaupt die Schärfe und Frische des Gefühls verblasst, die zu solchen Sonderungen führt, oder, weil es sie wenigstens für den betreffenden Begriff verliert, diese verschiedenen Worte nebeneinander gleichbedeutend braucht. Ich glaube, dass sich gegenwärtig kein anderes Kulturvolk so sehr in dieser üblen Lage befindet, als das deutsche. Seit dem Ende unserer klassischen Literaturepoche und dem Anfang der modernen Bewegung auf allen Gebieten des gesellschaftlichen und geistigen Lebens ist die Zahl der gesprächsweise, oder in der Tagesschriftstellerei gebrauchten Worte immer geringer, die synonymische Unterscheidung derselben immer laxer geworden. Man sollte meinen, dass die politische und intellektuelle Tätigkeit, welche die Nation in den letzten vierzig Jahren so lebhaft erregt hat, auch die Sprache bereichert hätte; aber abgesehen von dem Zuwachs zahlreicher, mehr oder weniger technischer Ausdrücke, ist das Gegenteil der Fall gewesen. Sie können sich leicht davon überzeugen, wenn Sie ein Buch der zwanziger Jahre in die Hand nehmen, und darin eine Menge Worte entdecken, die heute entweder seltener vorkommen, oder aber nicht mehr in so genauer Begrenzung ihres Sinnes auftreten. Es sind meist feinere Schattierungen von Begriffen, die heut durch allgemeinere Ausdrücke ersetzt, oder selber zu allgemeineren Ausdrücken verwässert worden sind. Es ist, als ob der Geist der Nation, der in so vielen Dingen nach neuen Gestaltungen ringt, zu sehr mit dem Umriss des aufzuführenden Gebäudes beschäftigt sei, um für das Detail Zeit und Aufmerksamkeit zu behalten. Das mag ein unvermeidliches Übel der Übergangsepoche sein, in welcher wir leben, eine Rauheit und Magerkeit, die von der Periode des Kampfes unzertrennlich ist; aber es ist nichtsdestoweniger ein empfindliches Übel und trägt nicht wenig dazu bei, dem heutigen Umgangston die Kahlheit und Leere zu geben, unter der Mancher schon geseufzt hat, ohne es ändern zu können. Die Freude an eingehender Betrachtung und an den delikater abgetönten Worten, welche dafür erforderlich sind, ist eben vorläufig außerhalb der Fachkreise erlahmt. Die tiefgehende Erneuerung des Nationalgeistes, welche wir durchmachen, hat ebenso wie sie uns zwingt, zunächst die Hauptgrundlagen unserer politischen, religiösen u. s. w. Anschauungen festzustellen, ehe wir uns mit ihrem Detail befassen können, auch das Detail der Sprache d. h. die feineren synonymischen Unterschiede früherer Zeiten an manchen Stellen ausgebleicht, wo nicht gar verwischt. Hoffen wir, dass der Tag nicht fern ist, wo der Saft auch in diese vertrockneten Adern wieder schießt, und machen wir uns mittlerweile durch den Kontrast mit einer anderen Sprache klar, wie viel frisches Leben mittlerweile in ihnen stockt.

Die gewöhnlichsten englischen Worte für „Entschluss“ sind Resolution und Determination. Sie haben verwandte und doch verschiedene Bedeutungen. Ein Mann sieht einen anderen ertrinken. Sein erster Gedanke ist ihn zu retten. Aber im nächsten Augenblick fällt ihm die Gefahr ein, die er selbst dabei laufen würde. Er ist kein Feigling und hat sich noch nie gescheut, wo die Umstände es erheischten, sein rechtschaffen Teil Gefahr auf sich zu nehmen. Aber er hat noch nie Jemand aus dem Wasser gezogen, er weiß nicht recht, wie er dabei zu verfahren hat, erinnert sich dagegen mit der Blitzesschärfe, mit der die Gedanken in entscheidenden Augenblicken durch den Kopf zu fliegen Pflegen, dass der stärkste und gewandteste Schwimmer in eine schwierige Lage gerät, wenn der Ertrinkende, anstatt sich willenlos dem Retter zu überlassen, um sich schlägt, sich aus dem Wasser heraushebt und zurücksinkend an ihn klammert. Wird er ihn retten können? Wird sein guter Wille etwas nützen? Wird er nicht vielleicht zu schwach sein, dem Ringenden Hilfe zu bringen, und nur sich selber vorzeitig töten, ohne den Anderen zu erhalten? Und seine Kinder, seine Frau — was soll aus ihnen werden, wenn er verunglückt? Wille, Urteil und Gefühl kämpfen in seinem Busen. Der Wille zur männlichen, menschenfreundlichen Tat; die Erwägung, ob er dem Unternehmen so weit gewachsen sei, um es vernünftigerweise wagen zu können; und das Gefühl für den Armen, den er auf- und niedertauchen, in die haltlose Luft greifen und mit einem hässlichen, gurgelnden Ton des Wassers untergehen sieht; dazu die Erinnerung an die eigenen Lieben, die wie ein warmer, beengender Hauch plötzlich über ihn fährt — sie alle streiten in seiner Brust. Er zaudert. Er steht. Er tritt zurück — und im nächsten Augenblick ist er dennoch im Wasser drin, rüstig rudernd und helfend nach Kräften. Er hat den Kampf der Gründe und Gefühle mit einem Entschluss geschlichtet. Der Entschluss, der nach mancherlei Erwägungen zu Stande kommt, der die Schwierigkeiten nicht achtet, wo Pflicht oder Ehre oder Mannesmut rufen, ist es, den die Engländer Resolution nennen.

Indess, es gibt noch eine andere Art von Entschluss. Mitunter wird es uns durch die Umstände so leicht gemacht, uns zu entschließen, dass es kaum möglich ist, zu schwanken. Wir entschließen uns auszugehen, weil das Wetter gut und Bewegung gesund ist. Wir entschließen uns, einen Kontrakt abzulehnen oder zu kündigen, weil wir ihn für unvorteilhaft halten. In beiden Fällen werden wir uns ganz ohne Besinnen, oder nach kurzem Besinnen klar, wie wir handeln müssen. Es sind alltägliche Dinge, deren Folgen wir leicht übersehen, die keine besonderen Schwierigkeiten mit sich bringen, und die jedenfalls mit dem schwankenden Gebiet der Empfindungen nichts, oder nur wenig zu tun haben. Ebenso rasch fassen wir manchmal auch in ernsten Lagen, vorausgesetzt, dass sie ernst genug sind, um uns kaum eine Wahl zu lassen, unseren Entschluss. Wir entschließen uns sofort unsere Fähigkeiten zum Broderwerb zu benützen, wenn wir unser Vermögen verloren haben. Die preußische Regierung beschloss in Sachsen und Hannover einzurücken, als die Dinge so weit gekommen waren, dass Verzug nur dem Gegner genützt, uns aber den Krieg nicht erspart hätte. Vor einigen Tagen entschlossen sich mehrere Engländer, die den Vesuv besteigen wollten, um die Eruption anzuschauen, von dem gewöhnlichen, bequemen Wege abzuweichen, weil er sie zu nahe an den immer mächtiger schwellenden Aschenregen gebracht hätte. In all diesen Fällen kann nur wenig geschwankt worden sein. Das Gebot der Notwendigkeit war so offenbar, dass der erste Blick es erkennen ließ. In demselben Moment, wo die Notwendigkeit sich zu entscheiden an die Betreffenden herantrat, war die Entscheidung selbst schon gegeben. Was getan werden musste, was die nächste Forderung der Selbsterhaltung war, konnte nicht zweifelhaft sein. Andere Rücksichten hatten entweder nichts mit dem nächsten vorliegenden Bedürfnis zu schaffen, oder waren verhältnismäßig so unwesentlich, dass sie tatsächlich unwirksam wurden. Der Entschluss, der aus Gründen der ernsten Notwendigkeit oder auch der alltäglichen Convenienz, ohne viel Besinnen und Empfinden, rasch und mit, so zu sagen, selbstverständlicher Entschlossenheit gefasst wird, wird von dem Engländer determination genannt.

So das Englische. Auch im Deutschen haben wir für die beiden Begriffe resolution und determination zwei Worte: „Entschluss“ und „Beschluss“; auch im Deutschen sind ihre Bedeutungen etwa in derselben Weise gesondert, wie im Englischen. Aber das Übel ist, dass wir sie im Gebrauch neuerdings nicht mehr recht auseinanderhalten, weil der wichtige Unterschied, welcher sie trennt, sich in unserem Bewusstsein zu verwischen begonnen hat. Früher, wenn man von Entschlüssen sprach, waren es heiße und große Entschlüsse — den persönlichen Feind vor einem wütenden Eber zu retten, oder den bitteren Kampf der Pflicht und Liebe zu kämpfen. Was man geruhig beschloss, war ein Geschäft, ein Verhalten in dieser oder jener Angelegenheit des gewöhnlichen Lebens, oder höchstens noch eine Fehde zu den vielen anderen laufenden oder beendeten Fehden. Nach heutigem Sprachgebrauch dagegen entschließen wir uns ebenso oft einen kleinen Ausflug zu machen, als wir es beschließen; entschließen wir uns etwa ebenso leicht, unseren Schuhmacher zu wechseln, als wir es beschließen. Und doch würden wir, wenn wir genauer sprächen, und wenn die Würde dessen, was ein Entschluss ist, uns hinreichend gegenwärtig wäre, solche Kleinigkeiten höchstens beschließen, uns aber nimmer dazu entschließen. Aber wir sind es müde geworden, in diesem und in manchem ähnlichen Punkte Unterscheidungen zu machen, und legen deshalb in unserer Umgangssprache dem schweren Entschluss nicht mehr durchweg den Adel bei, der ihn über den leichten Beschluss erhebt. Es muss wohl sein, dass unser heutiges, in bestimmten Geleisen monoton verlaufendes, von denselben weltlichen Motiven bewegtes Leben nicht mehr genug Entschlüsse produziert, um das, was sie von bloßen Beschlüssen trennt, im allgemeinen Bewusstsein lebendig zu erhalten. So ist denn der Begriff „Entschluss“ allmählich in den „Beschluss“ hinabgetaumelt, ohne dass der Beschluss von der Superiorität des ehemaligen Entschlusses merklich erhoben worden wäre. Es ist nunmehr fast Alles Beschluss geworden, ein Vorsatz, der Einen nicht besonders erregt, der aber auch nichts Besonderes bezweckt.

In all den Beispielen, die wir bisher gemustert haben, fanden wir, dass die betreffenden Völker dieselben Gedanken hatten, und, wenn auch in verschiedener Stärke, so doch immer stark genug, um sie ohne Umschreibung mit einem einzigen Worte auszudrücken. Denn nur diejenigen Gedanken werden ja mit einem einzigen Worte bezeichnet, welche oft genug vorkommen und lebhaft genug aufgefasst werden, um diese kurze Vortragsweise nöthig zu machen. Aber manche Gedanken kommen manchen Völkern nicht oft genug vor, oder werden nicht lebhaft genug empfunden, um besondere Worte für sie nöthig zu machen, während sie von anderen Völkern für wichtiger gehalten und des Vorzugs besonderer Worte gewürdigt werden. Naturanlage, Umgebung und Geschichte entscheiden darüber. Alle Sprachen z. B. haben ein besonderes Wort für Vater — gibt's doch bei allen Völkern Väter, und sind doch bei allen die Väter von jeher wichtig genug gewesen, um in der kürzesten und schärfsten Weise, d. h. mit einem Worte benannt zu werden. Aber nur manche Idiome, in denen verwandtschaftliche Beziehungen besonders innig oder besonders streng aufgefasst werden, unterscheiden zwischen der Schwester des Vaters und der der Mutter. Die meisten sagen für beide gemeinsam Tante. Ebenso haben alle Sprachen ein Wort für „werfen“; aber manche wilde Völker, deren Mitglieder sich ziemlich häufig zu bombardieren pflegen, haben verschiedene Ausdrücke für „scharf und schneidig werfen“, für „matt werfen“, „im Bogen werfen“ u. s. w. Und wir brauchen gar nicht bis zu den Wilden zu gehen, um dieselbe Erfahrung zu machen. Haben Sie einmal englische Damen Kleider einkaufen gesehen? Es wird Ihnen dann gewiss aufgefallen sein, wie genau sie die verschiedenen Farbenschattierungen unterscheiden. In Deutschland behelfen wir uns gewöhnlich mit den allgemeinen Bezeichnungen: rot, grün und gelb, braun und blau, und haben höchstens noch ein paar fremde Worte, wie lila, rosa und dergl. für beliebte Mitteltöne. Darüber hinausgehende Unterscheidungen macht nur der Maler, der Fabrikant und höchstens die Putzmacherin. Für die Masse gewöhnlicher, farbloser Menschenkinder wäre es affektiert, ihnen nachzuahmen. Anders in England. Kein englisches, einigermaßen entwickeltes, Kind wird die beiden Farbentöne rose colour und pink mit einander verwechseln, obschon wir beide nur mit „rosa“ bezeichnen. Keine englische Dame wird es unnatürlich finden, zwischen violet und peach d. h. zwischen Veilchen- und Pflaumenblütenfarbe zu unterscheiden, obgleich ihre deutschen Schwestern die letztere Farbe, so weit meine Erfahrung reicht, gar nicht benennen. Kein englischer Schriftsteller, der etwas auf treffenden Ausdruck hält, wird es unterlassen, hazel, hazel, auburn auburn und bay bay zu nennen, wenn auch ein Deutscher, der nicht gesucht erscheinen will, in allen drei Fällen nur „braun“ zu sagen pflegt. Ein gültigerer Beweis, dass die sinnliche Naturbetrachtung in England lebhafter ist, als bei uns, ließe sich nicht beibringen. In Deutschland wird nur derjenige, der ein besonderes Auge für Farben hat, jene Abstufungen entdecken, und dann mit eigengeschaffenen Umschreibungen bezeichnen müssen, die in England Jedermann als selbstverständlich verschieden ansieht, und deshalb mit speziellen, allgemein angenommenen und althergebrachten Worten benennen kann. Hier hat also der deutsche Sprachschatz gradezu eine Lücke im Vergleich zum englischen. Es ist dies einer der wesentlichsten Unterschiede, die zwischen zwei Sprachen obwalten können, eine jener Tatsachen, die am schlagendsten zeigen, wie die Sprache ein Spiegel ist der Gedanken, die allen Mitgliedern eines Volkes gemeinsam sind, und wie verschieden sich diese Gedanken und darum die sprachlichen Spiegel derselben gestaltet haben.

Wie ein Tropfen zum Ocean, so verhalten sich die wenigen Worte, an denen ich mir erlaubt habe, das Walten des Sprachgeistes in den Bedeutungen darzulegen, zu den mannigfachen anderen Beobachtungen, die darüber gemacht, und zu den Tausenden von Beispielen, mit denen sie belegt werden könnten. Was ich gesagt habe, wird indes vielleicht genügen, um zu erweisen, wie die Sprache die genaueste Photographie der den Mitgliedern eines Volkes eigentümlichen und gemeinsamen Gedankenwelt ist. In der Tat, wenn wir bedenken, dass alle Worte aller Zungen Bedeutungen haben, die nur ihnen zukommen, und dass die Worte anderer Idiome, die dasselbe bedeuten sollen, ihnen fast niemals genau entsprechen, so mögen wir danach ermessen, wie national unsere Gedanken durch die Sprache gemacht werden. Wer im Deutschen „Freund“ sagt, erkennt dadurch den deutschen Begriff der Freundschaft an; wer „Entschluss“ sagt, den deutschen Begriff von Entschluss. Wenn dagegen der Franzose sein ami ausspricht, ist es, wie wir gesehen haben, nicht genau unser „Freund“; wenn der Engländer resolution gebraucht, nicht genau unser moderner „Entschluss“. Und so fort durch alle Wörter, alle Sprachen.

Eine Folge dieser Verschiedenheit ist es, dass dadurch das Übersetzen von einer Sprache in die andere nicht allein schwer, sondern, genau genommen, unmöglich gemacht wird. Das klingt der Flut von Übersetzungen gegenüber, mit der besonders unsere deutsche Literatur überschwemmt wird, paradox, ist aber, wenn man unter Übersetzung eine völlig exakte Wiedergabe des Originals versteht, nichtsdestoweniger gewiss. Wörtliche Übertragung ist nach dem, was wir gefunden haben, nicht immer genau. Im Gegenteil, je wörtlicher sie ist, desto ungenauer wird sie in vielen Fällen sein, wenn wir sie mit dem höchsten Maßstabe innerlichen, geistigen Entsprechens messen. Durch Umschreibungen kann man dem Sinne eines fremden Wortes allerdings näher kommen, als durch wörtliche Übertragung; ihn völlig wiederzugeben, müsste aber die Umschreibung eine sehr weitläufige sein. Enthält doch jedes Wort einen so zart schattierten Begriff, dass, wollte man ihn gehörig zur Anschauung bringen, man seitenlange Erklärungen darüber geben müsste, wie wir oben über ami, resolution u. s. w. Und so lässt sich denn doch nicht übersetzen, dass man für jedes fremde Wort eine ganze Seite in der eigenen Sprache schreibt. Der Zusammenhang des Satzes wenigstens würde durch diese Klarheit, die man dem einzelnen Worte gäbe, verdunkelt werden, und die Wirkung auf das Gefühl, die nur durch die rasche Auffassung des Zusammenhangs erzielt werden kann, verloren gehen. Indessen, wie wir alle wissen, ist es glücklicherweise nicht nötig, so genau zu sein, um ein für alle praktische Zwecke hinreichendes Abbild desjenigen, was in einer Sprache gesagt ist, in einer anderen wiederzugeben.

Eine andere Folge der erwähnten Verschiedenheit ist es, dass, wer in die Fremde geht, seine Sprache aufgibt und eine andere annimmt, deshalb mit den Worten auch seine Meinungen unbewusst ändert. Er kann die alten Meinungen mit den neuen Worten eben nicht genau wiedergeben, während die neuen Worte ihm von selbst neue Meinungen in den Mund legen. Wer aber zu Hause bleibt und fremde Sprachen lernt, braucht seine nationalen Meinungen nicht aufzugeben, kann sie aber durch die Beobachtung der fremden bereichern; er fühlt, dass die fremden Worte etwas Anderes bedeuten als seine eigenen, und sieht, dass sie andere Ansichten voraussetzen. Darum ist das Studium fremder Sprachen so bildend für Geist und Herz, wenn es ernstlich betrieben wird; darum so anregend selbst bei der flüchtigen Methode, die wir gewöhnlich befolgt sehen. In Grammatik und Lexikon reisen wir gewissermaßen nach dem fremden Lande und sehen alle bekannten Dinge, vom Baustil bis zum Kleiderschnitt, vom feierlichen Ernst bis zum heiteren Scherz national verändert, gemodelt und maskiert vor uns. Es ist freilich müheloser, solche Betrachtungen in den Londoner Straßen zu machen, als im englischen Wörterbuch; aber wer nicht lange gering in London bleibt, um die Sprache wirklich zu begreifen, kann in Berlin besser aus dem Lexikon lernen, was die Engländer sind, als in London aus der Besichtigung aller Merkwürdigkeiten.

Nichts ist überdies mehr geeignet, uns gegen andere Völker gerecht zu machen, als die Erforschung der eigentümlichen Gedankenwelt ihrer Sprache. Die Nationalcharaktere mancher Völker, oder vielmehr einige hervorstechende Züge darin, widerstreben uns; mit anderen hat uns die Geschichte in feindliche Berührung gebracht; in beiden Fällen sind wir nur allzu geneigt, uns generalisierenden Vorurteilen hinzugeben. Wer ihre Sprachen eingehender betrachtet, wird in der Würdigung anderer Nationen milder und vorsichtiger werden. Er wird in den Bedeutungen und Verbindungen der Worte die tieferen Seiten der Völker erkennen, ihren Geist pulsieren, und mancherlei Warmes, Kluges und Menschliches darin walten sehen, was er als Gegengewicht gegen missfällige Eigenschaften und Handlungen in Anschlag bringen sollte. Er wird auch in weniger entwickelten Stämmen edle Anlagen schlummernd erblicken, Anlagen, die der weckenden Stimme harren, und von dem am ehesten wachgerufen werden, der das Gemüt des Volkes, der seine Sprache am besten begreift. Er wird es nicht unnatürlich finden, dass selbst die unzivilisiertesten unter diesen auf ihre Nationalität und Sprache, welche ihnen ihre Gedankenwelt, ihr eigenes Ich repräsentiert, Gewicht zu legen pflegen, und wird sich hüten, den Kampf, den manche von ihnen gegen geistig und ökonomisch vorgeschrittenere Nachbarn kämpfen, durch Spott und Missachtung zu verbittern. Vordringend wird er in jeder Sprache den Quell der göttlichen Vernunft rieseln sehen, in manchen nur ein Bächlein, in anderen schwellend zum weiten, tiefen Strom. Er wird die Sprechenden schätzen lernen in der Sprache, und die Sprache in den Sprechenden, und den Dichter verstehen und mit ihm sagen:

In jedem Wort, wenn wir's erwägen, liegt ein ganzes Buch,
Und mannigfach ist auszulegen der einfachste Spruch.
Viel kann aus wenig Worten lernen, wem es ist verliehn,
Als wie Du kannst aus kleinen Kernen große Bäume ziehn.