Ueber Marokko

Vortrag, gehalten auf dem 7. deutschen Geographentag zu Karlsruhe 1887
Autor: Rein, Johann Justus Dr. (1835-1918) deutscher Professor, Geograph und Japanologe, Erscheinungsjahr: 1887
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Marokko, Marocco, Landesbeschreibung, Forschungsreise, Expedition, Flora, Fauna, Klima, Politik, Araber, Juden, Sitten und Gebräuche, Moslem, Islam, Religion, Atlas-Gebirge,
Als August Petermann im Jahre 1862 seine Spezialkarte der Meerenge von Gibraltar herausgab, hob er die Bedeutung dieser Straße mit folgenden Worten hervor: „Sie bildet eine Scheidewand zwischen zwei Erdteilen, zwischen dem Weltmeer und seinem größten Busen, dem Mittelmeer, zwischen zwei Staaten und zwei Religionen, zwischen Bibel und Koran. Auf dem einen ihrer Gestade steht das Kreuz, auf dem andern weht die grüne Fahne des Propheten mit dem Halbmond“. Größer und einflussreicher jedoch, als die Scheidewand, welche die Natur hier gezogen hat, ist diejenige, welche die muhamedanische Religion bewirkte. Ihr ist es zuzuschreiben, dass Marokko, obgleich es in wenigen Stunden von der iberischen Küste aus erreicht werden kann, doch immer noch, wie dies schon Cosson hervorgehoben hat das am wenigsten erforschte und am schwersten zugängige Land Nordafrikas ist.
Günstige Gelegenheiten führten mich im Frühling 1872 mit einem Freunde, dem Professor Freiherr K. von Fritsch in Halle nach Marokko und auf den Kamm des hohen Atlas, anderthalb Jahre später aber nach Japan. So habe ich hintereinander zwei Länder der alten Welt mehr oder weniger kennen gelernt, welche man wohl als ihre äußersten Glieder in westöstlicher Richtung bezeichnen kann: das ,,Maghreb el Aksa“ oder den äußersten Westen der Araber, und Nippon, das Morgenland der Chinesen im fernen Osten.

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Inhaltsverzeichnis
Die Natur beider Länder und ihre Produkte sind grundverschieden; größer noch ist der (Gegensatz zwischen den Bewohnern und ihrer Kultur. Die Gestalt Japans, eines langgestreckten, vielgegliederten Inselreichs, ist wohl bekannt. Marokko erscheint dagegen an der nordwestlichen Ecke Afrikas abgerundet und schwer zugängig, wie der ganze Erdteil. Ein ansehnlicher Teil der Gebirge und isolierten Kuppen, ja selbst der Ackerkrume der Ebenen, bekundet gleich zahlreichen Solfataren und häufigen Erdbeben die weitverbreitete vulkanische Tätigkeit in Nippon, während deren Spuren in Marokko noch nicht beobachtet wurden. Jenes hat infolge reicher Niederschläge, zumal im Sommer, Wasser in Überfluss und eine üppige Vegetation mit einer Menge der verschiedenartigsten wertvollen Holzgewächse, während in Marokko das auf den Winter beschränkte bescheidene Regenmaß sich an mancherlei Erscheinungen erkennen lässt. Das Land nimmt eben Teil am Charakter der Mittelmeerregion, wie im Klima so in der Flora und Fauna und vielen seiner Erzeugnisse. Es weist dementsprechend vielerlei aromatische Kräuter, zumal Labiaten, mit Filz- oder Borstenbedeckung und starkbewehrte Sträucher, nirgends aber, außer bei künstlicher Bewässerung, tropische Fülle und holzreiche Wälder auf. Viehzucht ist in ihm hervorragender Erwerbs- und Nährquell, während dieselbe in Japan bisher nur untergeordnete Bedeutung hatte; Milch, Butter und Wolle gar nicht gewonnen und Fleisch nur wenig genossen wurde. In Marokko wechseln Berge mit Buschwald und Ebenen von steppenartigem oder Wüsten-Charakter mit weiten Strecken von größter Fruchtbarkeit ab; aber auch in diesen ist der Ackerbau vernachlässigt und erzeugt nicht viel über den Bedarf der dünnen Bevölkerung. In Nippon gibt es viele Gebirge mit Wald- und Ödland, das der gewohnten Kultur nicht fähig ist; aber die kleinen Ebenen, die Talsohlen und ihre sanfteren Gehänge hat man mit der Sorgfalt und dem Geschick gelernter Gärtner bebaut und entlockt ihnen jahraus jahrein mehr als genügend Nahrung für die sehr dichte Bevölkerung.

Der mongolische Japaner besitzt nur selten eine stattliche, ansprechende Gestalt, während die Araber und Mauren Marokkos oft dem Typus kaukasischer Schönheit nahekommen, mit einem Ebenmaß und einer Gelenkigkeit des kräftigen Körpers, welche uns in hohem Grade gefallen. Aber in diesen schönen Menschen wohnt kein tätiger Geist; Ignoranz und religiöser Fanatismus beherrschen Jugend und Alter, und von Fortschritt, von nationaler Entwicklung zeigt sich keine Spur.

Wie ganz anders erscheint der unscheinbare Japaner, der Heide! Welche hervorragenden Leistungen weist er nicht auf, im Feld- und Gartenbau, in mancherlei Zweigen des Kunstgewerbes, welche Bildungsfähigkeit, welches Streben! Kaum wurde er in der Neuzeit mit den Errungenschaften des christlichen Abendlandes näher bekannt so begann er ihre Vorteile seinem Lande zuzuführen; er eignet sich fremde Sprachen und Sitten an und bemüht sich seinem ganzen bisherigen nationalen Leben einen andern Zuschnitt zu geben.

Demgegenüber sind die Marokkaner ein Volk, das weder Fuhrwerke noch Fahrstraßen besitzt, dem das Bedürfnis nach Telegraphen, Eisenbahnen und Dampfschiffen noch nicht gekommen ist. Der blühende Zustand, in welchem das Land, das Mauritania Tingitana, zur Zeit der Römerherrschaft sich befand, ist verschwunden. Nicht klimatische Wechsel haben den Umschwung herbeigeführt, sondern der Einzug des Arabers und Muhamedanismus. Wie Mehltau ruht diese Religion auf den Menschen, erstickt alle Blüten des Geistes und der freien Entwicklung im Keime und hüllt die Völker in ein Traumleben, dem kein frisches Erwachen folgt. Willkür, Eigennutz und Stumpfsinn sind die Hauptzüge der Beamtenwelt und der Verwaltung muhamedanischer Staaten. Dem Despotismus stehen als Stützen religiöser Fanatismus und Ignoranz zur Seite. So ist es in persischen und türkischen Ländern und in Marokko, kurzum von Indien an bis zum Atlantischen Ozean. Wo in der Neuzeit, wie in Ägypten und Algier eine größere Tätigkeit sich kund gab, der Landwirtschaft neue Nutzpflanzen zugeführt, dem Handel durch Eisenbahnen und Kanäle neue Wege geöffnet wurden und infolge dessen die Leistungsfähigkeit mit Handel und Wandel sich hoben, geschah es unter dem Einflüsse des christlichen Abendlandes; das einheimische, muhamedanische Element verhielt sich passiv und indolent.

Mit der Unwissenheit und dem despotischen Druck, welche in Marokko die Herrschaft üben, gehen religiöser Fanatismus und Mangel an Wahrheitsliebe Hand in Hand. Wenn s. Z. Liebig den Verbrauch der Seife als Gradmesser der Zivilisation hinstellte, so scheint mir die Wahrheitsliebe eines Individuums und eines Volkes ein noch viel besseres Zeichen der Kulturstufe zu sein, auf dem es sich befindet. Nach den Eindrücken, welche wir in dieser Beziehung in Marokko erhalten haben, ist diese Tugend hier überaus selten. Wir haben keinen dort geborenen und erzogenen Menschen näher kennen gelernt, der uns nicht belogen hätte. Sir Joseph D. Hooker, der mit zweien seiner Landsleute, Ball und Maw ein Jahr vor uns Marokko bereiste, schrieb mir bezüglich dieses Punktes: „Wenn ich erklärte. Pflanzen und Sämereien für die Gärten der Königin von England zu sammeln, glaubte mir niemand, sondern erwiderte mir wohl, dass weder die Königin noch ich solche Toren seien, um hier nach Pflanzen zu suchen, deren es in England selbst genug gebe. Vom Hofe bis zum gemeinen Mann hielt man mich vielmehr für einen Spion, ausgesandt das Land zu erforschen, nur mit dem Unterschied, dass der Sultan dies von England annahm, die Paschas, Kaïds und Scheichs aber vom Sultan“. Diesem hatte Hooker das Versprechen zu geben, keinen Stein des Landes mitzunehmen. Das klingt sonderbar, ist aber leicht zu verstehen und ein weiteres Zeichen der tiefen Bildungsstufe, auf welcher sich Hoch und Niedrig befinden. Der Gedankengang ist dabei einfach etwa der: ,,Wenn Du Fremder es der Mühe wert hältst, einen Stein vom Wege aufzuheben oder vom Felsen abzuschlagen und mitzunehmen, so muss jedenfalls etwas Wertvolles darin sein; wir kennen dasselbe zwar noch nicht, möchten es aber unter keinen Umständen verlieren“. Das unwissende Volk, die Regierung obenan, hat keine Vorstellung von einem selbstlosen wissenschaftlichen Interesse, das den Fremden zu ihm führen könnte. Einige weitere Beispiele, wie beschränkt und befangen das Wissen und Urteil der maßgebenden Persönlichkeiten in Marokko ist, mögen hier noch Platz finden.

Vor etwa 20 Jahren lebte in der Stadt Rabat ein Lehrer, Sohn eines griechischen Renegaten, der sich herausnahm, seine Schüler neben dem Koran auch etwas Geographie zu lehren. Er hatte dafür zwei Jahre im Kerker zu büßen. Der Kaïd (Gouverneur) von Mogador bemerkte uns bei einem Besuch, den wir ihm abstatteten, Prusse (Preußen), von dem er noch nichts gehört hatte, müsse wohl sehr weit sein, noch weiter als Mekka.

Dass die geographischen Kenntnisse der Marokkaner seitdem nicht gestiegen sind, können wir auch aus einer Unterredung ersehen, welche Dr. R. Jannasch, der um unsere Kolonialbewegung hochverdiente Leiter der vorjährigen deutschen Handelsexpedition nach der marokkanischen Küste, mit dem jetzigen Sultan hatte, wobei dieser sich nach dem Lande Kamerun erkundigte und fragte, ob es in demselben einen Fluss gebe, der Nil heiße.

Die vorerwähnten Beispiele dürften zur Kennzeichnung des Bildungszustandes des marokkanischen Volkes und seiner Regierung genügen. Dasselbe ist nicht ohne Schulen; die männliche Jugend lernt darin arabisch schreiben und im Chor den Koran lesen. Aber bei diesen elementaren Fertigkeiten bleibt es; der Aufbau, welcher die befangenen Geister freimachen und des Volkes Blick und Urteil erweitern und schärfen könnte, fehlt.

Die Autorität der despotischen Regierung erstreckt sich nur so weit man ihre Macht fühlt. Ist dies eine Reihe von Jahren hindurch nicht mehr der Fall, so lockern sich die Bande des Gehorsams, zumal bei den Berberstämmen des Atlas und jenseits desselben. Daher sind hier die Grenzen des Reichs schwer bestimmbar und vielen Schwankungen unterworfen. Hat anderseits die Aussaugung einer Provinz durch einen Kaïd oder Gouverneur, der auf seiner Kasbah wie ein Raubritter des deutschen Mittelalters wohnt, das gewöhnliche Maß überschritten, so empört sich wohl das Volk, verjagt den Tyrannen und zerstört seine Burg. Dafür muss es dann wieder in eigentümlicher Weise büßen. Der vertriebene Kaïd flüchtet zum Sultan und berichtet über das Treiben der Rebellen. Nach einiger Zeit wird ein kleines Heer aufgeboten und dasselbe so lange in das aufständische Gebiet verlegt, bis dieses „aufgegessen“ (so lautet der landläufige Ausdruck dieser Strafe) ist. Das macht mürbe und schafft dem inzwischen eingesetzten neuen Gouverneur den nötigen Gehorsam. So erging es bald nach unserm Aufenthalt in Mogador der benachbarten Provinz Haha, deren unbändige, aufständische Horden damals so gefürchtet wurden, dass wir den Gedanken an eine Reise nach Agadir und dem Sus aufgeben mussten.

Aus dem Erwähnten ergeben sich die großen Schwierigkeiten und Gefahren, welche sich dem Reisen in Marokko entgegenstellen. Sie sind nicht durch die Natur des Landes (Klima, Bodenverhältnisse, wilde Tiere u. dgl.) bedingt, sondern durch die Bewohner. Das Klima ist gesund, wiewohl im Sommer und landeinwärts von der feuchten und kühlen Küste, heiß und trocken, eine Folge der Besonnung und der herrschenden Passatwinde, welche, von dem stark erwärmten Landesinnern angezogen, an der Westküste ihre Hauptrichtung ändern. *)

*) Zur Zeit unseres fünftägigen Aufenthaltes (1 — 5. Juni) in der Stadt Marokko (unter 31° 37' N 483 m hoch gelegen) war das Temperaturmittel 26° C, während wir als Extreme 32° C u. 19° C im Schatten beobachteten. Die mittlere Temperatur in Mogador (unter 30° 30' N) betrug zur selben Zeit nur 19,3° C, und so ist die ganze Küste im Sommer verhältnismäßig kühl, so dass hier die Dattelpalme ebenso wenig ihre Früchte reift, wie in Andalusien.

Der Marokkaner ist träge, apathisch, sinnlich, unwissend und stolz, dabei argwöhnisch und fanatisch. Mit diesen Eigenschaften muss der fremde Reisende um so mehr rechnen, als er in der Regel die Sprache des Landes nicht versteht und auf einen Dolmetsch von einem der Hafenorte angewiesen ist, welcher — meist ein armer verachteter Jude — weder durch Bildung noch Stellung seine Interessen wirksam zu vertreten vermag.

Nur wer im Lande als Arzt oder Kaufmann reist, findet einigermaßen Verständnis für seine Zwecke. So folgten denn auch wir dem uns von erfahrener Seite gewordenen Rat und gaben uns für Hekim oder Ärzte aus, ohne genügend zu erwägen, welche Last und Verantwortung wir damit auf uns luden. In Mogador hatte damals der einzige gelernte Arzt eine längere Reise nach seiner südfranzösischen Heimat angetreten und für diese Zeit seinem Diener die Fortsetzung seiner Praxis anvertraut. Mit diesem konkurierten ein spanischer Barbier und während unseres mehrwöchentlichen Aufenthaltes daselbst auch wir, denen sich namentlich die vornehmere Judenschaft zuwandte. Aus der für uns mitgenommenen kleinen Hausapotheke wandten wir die unschuldigsten Mittel an, so dass wir wenigstens die Beruhigung mitnahmen, dass durch unsere Kurpfuscherei niemand zu Schaden gekommen ist. Während unserer Reise ins Landesinnere sollten wir hier und da auch vornehme Mauren und Araber von Leiden befreien, welche sich hier nicht näher bezeichnen lassen, die uns aber eine der großen Schattenseiten der Vielweiberei in überraschender Weise kennen lehrten.

Wer ohne des Sultans spezielle Erlaubnis und Empfehlung reist, setzt sich den größten Gefahren aus. So erwähnt O. Lenz in seinem „Timbuktu“, dass man 1880 den österreichischen Maler Lad ein, einen kräftigen Mann und tüchtigen Jäger, der sich ungeachtet der erhaltenen Warnung im Vertrauen auf seine Kraft und Geschicklichkeit allein und ohne einen solchen Schutz nach dem Atlasgebirge begeben wollte, eines Tags auf dem Wege von Marokko nach Amsmiz in der Nähe des Flusses Nfys ermordet fand. Anderseits hat ein Reisepass vom Sultan wieder eine Menge Belästigungen und Beschränkungen der freien Bewegung zur Folge, ohne in allen Fällen für persönliche Sicherheit vollständige Gewähr zu bieten.

Das Deutsche Reich besaß im Jahr 1872 noch keinen Vertreter in Marokko. Dafür waren wir durch Vermittlung des Auswärtigen Amtes in Berlin an die englischen und spanischen Gesandten in Tanger und die denselben unterstellten Konsuln der Hafenstädte empfohlen worden und fanden dementsprechend auch überall eine freundliche Aufnahme.

arabisches Ehepaar auf der Reise

arabisches Ehepaar auf der Reise

arabischer Karawanenführer

arabischer Karawanenführer

arabischer Straßenbäcker

arabischer Straßenbäcker

Ein schwarzer Scheich.

Ein schwarzer Scheich.

auf dem Kamelmarkt

auf dem Kamelmarkt

Beduienenfamilie

Beduienenfamilie

Eseltreiber

Eseltreiber

Faßtransport

Faßtransport

Karawane bei der Rast

Karawane bei der Rast

Karawane auf dem Weg

Karawane auf dem Weg

Straßenhändler

Straßenhändler

Karawane vom Sandsturm überrascht.

Karawane vom Sandsturm überrascht.

Karawane auf einer Wanderdüne.

Karawane auf einer Wanderdüne.