Ueber Auswanderung

Ein Vortrag gehalten am 2. Februar 1871 im Berliner Handwerker-Verein
Autor: Kapp, Friedrich (1824-1884) deutsch-amerikanischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Politiker, Erscheinungsjahr: 1871
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Deutschland, Deutsche, Amerika, Auswanderung, Auswanderer, Einwanderung, Einwanderer, Geschichte der deutschen Einwanderung, Ursachen, Kultur-, Sitten- und Sozialgeschichte, Folgen
Der nachstehende Vortrag stützt sich im Wesentlichen auf ältere Arbeiten von mir welche teils in deutscher teils in englischer Sprache zwischen 1866 und 1870 in New-York veröffentlicht, indessen in Deutschland nicht bekannt geworden sind. Aus dem letzteren Grunde glaubte ich mich für meine hiesigen Leser teilweise selbst zitieren zu dürfen.

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Zur Vermeidung von Missverständnissen ist es notwendig die Bemerkung vorauszuschicken, dass ich im Folgenden keine allgemeine Geschichte oder Statistik der Auswanderung zu geben gedenke, sondern dass ich dieselbe hauptsächlich in ihren Beziehungen zu Deutschland und zur neuern Zeit, zur Gegenwart, besprechen will. Natürlich sind dabei geschichtliche Rückblicke und allgemeine Gesichtspunkte nicht ausgeschlossen; allein selbstredend sollen sie nur zum bessern Verständnis meiner Aufgabe dienen. Wenn ich mich auf die Vereinigten Staaten als Ziel der deutschen Auswanderung beschränke, so glaube ich deshalb keiner besonderen Rechtfertigung zu bedürfen, einmal weil sie mehr Auswanderer anziehen als alle übrigen Länder zusammengenommen, dann aber, weil sie das einzige Land sind, in welchem seit den letzten fünfzig Jahren zuverlässige statistische Nachweise über die Einwanderung vorliegen, so dass wir uns mit unseren Berechnungen und Schlussfolgerungen auf festem Boden, nicht in der Luft bewegen.

Auswandern heißt ein Land freiwillig und in der Absicht verlassen, nicht dahin zurückzukehren, sondern sich anderswo niederzulassen. Auch das Altertum und das Mittelalter kannten die Auswanderung; aber sie trat hier überwiegend in Gestalt der Kolonisation auf. So waren die griechischen Kolonien in Unteritalien und Gallien, die Eroberung und Besiedelung der Ostseeprovinzen durch die deutschen Ritter, die Niederlassungen der Spanier in dem neuentdeckten Amerika zwar auch Auswanderungen im großen Stil, allein sie unterschieden sich wesentlich von, der zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts mit der Besiedelung Neu-Englands eröffneten modernen Massenauswanderung. Diese ist ausschließlich ein Kind der neuern Zeit, der Reformation, entspringt individuellen Beweggründen, dem Willen des Einzelnen, der auf Niewiederkehren den Zusammenhang mit der alten Heimat freiwillig löst und auf eigener persönliche Verantwortlichkeit hin sein Schicksal bestimmt. Erst durch Addierung der sie bildenden Einer wird die Einzelauswanderung zur Massenauswanderung. Die Kolonisation dagegen ist von vornherein Massenauswanderung; sie entspringt nur teilweise einem spontanen Akte des Individuums, ihr Wesen ist eine einheitliche, von Oben, sei es vom Staate oder von Privatkorporationen, geleitete Bewegung, welche Kapital und Menschen lediglich im eigenen Interesse aussendet, um aus ihnen Macht und Gewinn für sich zu ziehen. Hinter dem Kolonisten steht das Mutterland, das selbst in der Fremde, sei es hindernd oder fördernd, in sein Schicksal eingreift, das seine politischen und rechtlichen Ansprüche an ihn nicht aufgibt, aber ihm auch bei seiner Rückkehr die alte Stellung wieder einräumt.

Wir also haben es hier nur mit der modernen Auswanderung zu tun, einer der größten völkerpsychologischen Erscheinungen unserer Zeit. Für uns fragt es sich zunächst, wer sind die, welche auswandern, und welches sind die Gründe, aus denen sie auswandern? Natürlich bleiben diejenigen in der Regel zu Hause, welche glücklich sind oder sich des Genusses der Güter des Lebens erfreuen; nur die durch Armut oder sonstiges wirkliches oder vermeintliches Unglück gedrückten Volksklassen entschließen sich, um ihre Lage zu verbessern, zur Auswanderung. Schon der berühmte römische Philosoph Seneca gibt die drei Ursachen, welche zu seiner Zeit zur Auswanderung geführt haben und noch heute dazu führen, in so erschöpfender Weise an, dass man sie überhaupt auch jetzt noch als maßgebend gelten lassen kann. Einmal sind es politische oder religiöse Unterdrückung, wie Krieg, Revolution oder Verfolgung um des Glaubens willen, sodann soziale Übelständer wie Teuerung, Hungersnot, Pestilenz, Armut des Bodens, relative Übervölkerung, endlich aber ein unbestimmter Drang nach Verbesserung der augenblicklichen Lage, oder das verlockende Beispiel des Gedeihens früher Ausgewanderter, selbst der Zufall, die Laune oder die Stimmung des Moments. Das letztere Motiv wirkt aber durch seine Unklarheit ebenso bestimmend, wenn nicht stärker auf die Einbildungskraft und die daraus fließenden Entschlüsse, als die beiden erstgenannten Gründe durch ihren kategorischen Zwang. Also ideale und materielle Ursachen oder eine Mischung von beiden bestimmen die Auswanderung.

Auch bei uns entsprang die Massenauswanderung zunächst dem politischen und religiösen Druck. Sie begann gerade ein Menschenalter nach dem Dreißigjährigen Krieger jenem schrecklichen nationalen Unglück, welches das sonst so blühende Land in eine Wüste verwandelte, dessen Einwohner verarmt oder verwildert und welches leider nur die Macht der aufstrebenden Territorialherren gehoben hatte. Der Staat war fortan nichts als eine fürstliche Domäne, in welcher die aus dem Schutte und den Ruinen des ehemaligen Wohlstandes sich schüchtern und verkrüppelt herausarbeitende Bevölkerung nur als gehorsam ersterbende Untertanen und Steuerzahler geduldet wurden. Der Dreißigjährige Krieg - das ist sein größter Fluch für unser Land! hat uns Deutschen den Staat und seinen Hauptträger, den gebildeten und wohlhabenden Mittelstand genommen; die tatkräftigen Naturen waren in jener Zeit zu schwach, standen zu vereinzelt darum gegen die allgemeine, täglich härter drückende Knechtung erfolgreich anzukämpfen. Es gab für sie nur einen Weg, sich diesem Zustande zu entziehen, und dieser Weg war die Auswanderung. Erst gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts fingen der gedrückte Bürger und Bauer an, sich notdürftig von den härtesten Schlägen zu erholen, sich aus der physischen und sittlichen Versunkenheit scheuen Blickes wieder zu allgemeineren Gedanken zu erheben. Nicht dass sie gewagt hätten, gegen ihre heimischen Dränger aufzustehen. Dazu waren sie zu schwach, zu abgemattet; andrerseits aber fühlte sich der von Frankreich genährte Absolutismus des Landesfürstentums desto stärker. Nein, der gedrückte Untertan entging dem heimischen Elend nur durch die Flucht. Verzagt, der eigenen Kraft nicht trauend, fremder Anregung folgend und alles Fremde unbedingt bewundernd, gab er, wo er nur konnte, das Vaterland ohne Bedauern, ohne Schmerz auf. So nahm die Auswanderung allmählich immer größere Verhältnisse an, wandte sich nach Norden und Süden, vor Allem aber nach Amerika. Also zu einer Zeit entstanden, wo die Entfremdung des Volkes von seinem eigenen Wesen den höchsten Gipfel erreicht hatte, griff diese Flucht aus dem Vaterlande täglich weiter um sich. Die zahlreichen Verbote, welche die verschiedenen Landesregierungen in ihrer polizeilichen Weisheit gegen die Auswanderung erließen, weil sie ihnen die Steuer-Subjekte und -Objekte entzog, bewirkten das gerade Gegenteil von dem, was sie bezweckten, denn sie trugen die Kunde von dem, was der Untertan nicht wissen sollte, in immer größere, weitere Kreise. Diese innerliche Zersetzung des natürlichen Verhältnisses zum Vaterlande, dieses bereitwilliger ja oft leichtfertige Aufgeben alles dessen, was den Menschen an den heimischen Boden, an die eigentlichen Wurzeln seiner Kraft fesselt, ist seitdem ein krankhafter Zug im Charakter gerade der gebildeten Klassen unseres Volkes geblieben. Auf fast jeder Seite unserer Geschichte findet er sich wieder. Es ist deshalb auch überflüssig, ihn chronologisch auf Schritt und Tritt zu verfolgen; genug, dass er heute ebenso erkennbar, wenn auch natürlicher Weise bei dem großen Fortschritte der letzten Jahrzehnte nicht mehr so mächtig ist, als vor fünfundzwanzig, vor fünfzig, vor hundert und zweihundert Jahren.

Ganz in demselben Maße haben von jeher soziale Missstände auf die Auswanderung gewirkt. Sie bilden das ständige Gefolge staatlicher Krankheiten oder Unregelmäßigkeiten und entspringen andrerseits dem modernen Industrieleben oder werden auch durch außerordentliche Naturereignisse erzeugt. Die soziale Not also schwellt die Zahl der Auswandernden unverhältnismäßig an, während ruhigere und bessere Zeiten den Strom wieder in sein altes Bett lenken. Als die Auswanderung nur nach Hunderten und höchstens Tausenden per Jahr zählte, waren die den eben geschilderten Klassen angehörigen Auswanderer unverhältnismäßig stark in ihr vertreten. Als sie dagegen anfing, in die Hunderttausende zu steigen, da verschwanden sie völlig unter der Masse derer, welche auswandern, um ihre wirtschaftliche Lage zu verbessern oder welche sie wenigstens durch das Verlassen der Heimat zu verbessern meinen. Es ist natürlich schwer, ja unmöglich, den psychologischen Prozess bei jedem Einzelnen zu verfolgen, der mit Unmut oder Unzufriedenheit beginnt und mit der Auswanderung sein Ende erreicht. Auf der einen Seite setzt er wirkliche oder vermeintliche Übel voraus, auf der andern tritt diesen eine größere Lebhaftigkeit des Willens, eine größere Tatkraft entgegen. Ein gewisses Unbehagen, die Kümmerlichkeit des Daseins, Aussichtslosigkeit für die Zukunft daheim, die Möglichkeit des Gedeihens in der Fremde sind die am Häufigsten maßgebenden Faktoren. Ein Nachbar hört von den Plänen des andern und schließt sich ihm an, der eine vielleicht aus guten Gründen, der andere ohne viel zu denken, bloß aus Lust an Veränderung. Es kommen die ersten Briefe der Ausgewanderten, die natürlich höchst günstig und vortrefflich lauten. „Drüben über dem Wasser ist ein freies Land, da kann Jeder tun, was er will, und wenn er auch hart arbeiten muss, so weiß er doch für wen und warum?“ Das ist der stete Refrain, und natürlich wird das ganze Dorf von der Botschaft ergriffen. Der Gedanke der Auswanderung tritt jetzt auch dem bisher Gleichgültigen näher. Nicht Alles kann erlogen, die Hälfte wenigstens muss wahr sein, räsoniert der Zurückgebliebene. Wenn ihm etwas schief geht, so denkt er an Auswanderung. Noch führt er seinen Plan nicht aus; aber ein neues Missgeschick, ein unerwarteter Zwischenfall reift den Entschluss, und der Bruch mit dem Vaterlande ist vollzogen. Diese ländliche und arbeitender nach Verbesserung ihres Loses strebende Bevölkerung bildet den Stamm der modernen Massenauswanderung. Um ihn aber ranken sich allerlei nichtsnutzige Schlinggewächse, Glücksritter, Abenteurer, Traugenichtse und jene zahlreiche Klasse „sozialer Flüchtlinge“, welche zum eigenen, zu ihrer Angehörigen und der Gemeinde Besten eine gründliche Luftveränderung brauchen, oder jene, welche das Leben selbst für einen schlechten Witz nehmen und ihren ganzen Ehrgeiz darein setzen, möglichst lange und bequem oben auf dem Strom zu schwimmen.

Ein paar aufs Geratewohl aus der Geschichte herausgegriffene Zahlen mögen das ihr zu Grunde liegende Gesetz näher erläutern.

Während bis 1816 die Zahl der deutschen Auswanderer selten einige tausend Köpfe im Jahre überstieg, trieb die große Hungersnot von 1816/17 über 20.000 unserer Landsleute nach den Vereinigten Staaten. Vom 1. Oktober 1819 bis 30. September 1820 sank die deutsche Auswanderung dahin auf 968 Seelen, in derselben Periode von 1820-1821 auf 383 und von 1821-1822 sogar auf nur 148 Seelen. Aus Großbritannien vermehrte sich die Auswanderung nach der Union, von 7.709 Personen im Jahre 1826 auf 11.952 im Jahre 1827, und auf 17.840 im Jahre 1828, aber schon 1829 fiel ihre Zahl wieder auf 10.594 und 1830 sogar auf 3.874. Und doch belief sich im Jahre 1826 die Gesamteinwanderung in die Vereinigten Staaten auf 10.837, im Jahre 1830 aber auf 23.322 Seelen. Diese Schwankungen waren eine Folge der durch die große Panik des Jahres 1826 in den Fabrikdistrikten hervorgerufenen Stockungen und der Hungersnot in Irland. Beide Ereignisse trieben Tausende über den Ozean, die unter gewöhnlichen Verhältnissen nicht an Auswanderung gedacht haben würden. Als die revolutionären Bewegungen von 1830-1833 in Deutschland gescheitert waren, stieg die Zahl der Auswanderer ganz unverhältnismäßig. Im Jahre 1831 waren nur 2.395 Deutsche in den Vereinigten Staaten angekommen; 1832 kamen ihrer schon 10.168 und von 1834-1837, den Jahren der tiefsten Entmutigung, zählten die nach der Union Auswandernden Deutschen 17.654, 8.245, 20.139 und resp. 23.036. Die Auswanderung aus Irland, welche mit dem Jahre 1844 bedeutend über ihre frühere Zahl stieg, erreichte mit der Hungersnot von 1846 ihre höchste Höhe. In dem Jahrzehnt von 1845-1854 kamen nicht weniger als 1.512.100 Irländer in den Vereinigten Staaten an. Auch die Zahl der Deutschen, welche in demselben Jahrzehnt dort landeten, war ganz unverhältnismäßig groß, sie betrug 1.226.392 Seelen und war auf Grund schlechter Ernten, teilweiser Hungersnot und vor Allem der politischen und revolutionären Bewegungen so bedeutend.

Umgekehrt schrecken dieselben und ähnliche Übelständer wenn sie in den Ländern herrschen, welche Ziele der Auswanderer sind, von der Niederlassung daselbst ab. Bekanntlich brach im Sommer 1837 eine große Handelskrise in den Vereinigten Staaten aus. Während in dem letztgenannten Jahre noch 79.340 Einwanderer dort angekommen waren, schmolz 1838 ihre Zahl auf 38.914, also die Hälfte herab, erst zwei Jahre später erhob sie sich wieder zu ihrer alten Höhe und wuchs bald bedeutend über dieselbe. Dasselbe Verhältnis trat zwanzig Jahre später bei der Krise von 1857 ein. Auch der Bürgerkrieg, der von 1861-1865 in Amerika wütete, bewirkte eine bedeutende Abnahme der Einwanderung. Von 105.162 Seelen im Jahre 1860 sank sie 1861 auf 65.539 und 1862 auf 76.306, stieg aber schon 1863 und in den folgenden Jahren auf die doppelte Durchschnittshöhe der vorausgegangenen. Noch in neuester Zeit hatten wir für diesen alten Erfahrungssatz einen schlagenden Beweis: Nie war die Auswanderung aus Böhmen stärker als in den Jahren 1867 und 1868r und zwar kamen die Auswanderer gerade aus den Distrikten, welche durch den Krieg von 1866 am Meisten gelitten hatten. In Folge desselben Ereignisses vermehrte sich die deutsche Auswanderung im Jahre 1867 um mehr als 10.000 Seelen, obgleich sie schon 1866 die hohe Zahl von 106.716 Seelen betragen hatte und bis 1870 nicht wieder so hoch stieg. Dieses Plus bestand aus Angehörigen der nun von Preußen neu annektierten Provinzen, namentlich Hannover, welche politische Unzufriedenheit und Abneigung vor der Militärpflicht übers Meer trieb. Sobald sich das Volk jener Provinzen mit dem neuen Stande der Dinge zu versöhnen anfing, sank auch die deutsche Auswanderung nach der Union wieder auf ihre früherer ein paar Jahre vorher behauptete Durchschnittsziffer. Während diese von 1865 bis einschließlich 1869 im Jahre 100.000 Seelen in New-York betragen hatte, kamen dort 1870 in Folge des Krieges nur 71.280 an. Aus diesen Verhältnissen ergeben sich zwei Schlussfolgerungen, die mit der Bestimmtheit von Gesetzen auftreten: Einmal vermehren schlechte Zeiten in Auswanderungsländern die Auswanderung, während schlechte Zeiten in Einwanderungsländern sie vermindern; dann aber sinkt die Auswanderung auf die Dauer nie auf einen früher erreichten niedrigen Punkt zurück, sondern zeigt mit Hinwegräumung der im Wege stehenden Hindernisse stets auf eine höhere Ziffer.

Kapp, Friedrich (1824-1884) deutsch-amerikanischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Politiker

Kapp, Friedrich (1824-1884) deutsch-amerikanischer Rechtsanwalt, Schriftsteller und Politiker