Die Auswanderer auf ihrer Reise

Wenn die menschlichen Dinge allein von der Gerechtigkeit und Vernunft regiert würden, so sollte man meinen, dass ein so wertvoller Volksbestandteil wie die Auswanderer, auf ihrer Reise wenigstens in der Sicherheit ihrer Habe und ihrer Person geschützt wären. Allein leider ist dem nicht so. Es gibt kaum eine Klasse, die so viel von Betrug, Übervorteilung und Misshandlung zu leiden hat, als die Auswanderer. Ich erkläre mir diese Erscheinung aus drei Gründen. Einmal gehören sie nicht mehr der Heimat und noch nicht dem Lande ihrer Wahl an, schweben also rechtlos zwischen beiden, so dass jeder Gauch sie ungestraft rupfen kann; dann sind die an ihnen begangenen Verbrechen teils nicht in Geldeswert zu übersetzen, teils verhältnismäßig zu gering, als dass ein Prozess die entsprechende Entschädigung gewähren könnte, endlich aber vergisst der Auswanderer, dem Gefängnis seines Schiffs entronnen, nur zu leicht die ausgestandenen Leiden oder tröstet sich damit, dass es Anderen ebenso schlecht ergangen sei oder noch ergehen werde. In neuester Zeit hat das Übel vielfach abgenommen, allein das Los Einzelner ist noch immer hart genug. Damit Sie sich die an denselben begangenen Grausamkeiten aller Art besser vergegenwärtigen können, bitte ich Sie, einen kleinen geschichtlichen Rückblick auf die Art und Weise der Beförderung und Behandlung der Auswanderer zur See zu werfen. Nehmen wir als Ausgangspunkt das vorige Jahrhundert.

Holland bildete zu jener Zeit die natürliche Vermittlung zwischen Deutschland und Amerika; von Holland gingen damals alle Anschläge auf Ausbeutung der Auswanderer aus. Namentlich waren es die sogenannten Neuländer, die amerikanische Zielverkoopers, welche gegen ein gutes Trinkgeld von einem Dukaten per Kopf die Auswanderer für die amsterdamer und rotterdamer Reeder anwarben. Im Interesse dieser Seelenverkäufer durchstreiften sie Jahr ein Jahr aus die zur Auswanderung geneigten Landschaften und stahlen dort gleichsam die Leute unter den schönsten Vorspiegelungen. Im vornehmen Anzuge, mit goldenen Uhren, Ketten und Ringen behangen, schilderten sie mit großen Übertreibungen das Paradies, in welches sie die armen Deutschen führen wollten, versprachen den Unbemittelten freie Überfahrt, ja sogar noch Geld und Kleider auf die Reise und verleiteten auch sehr oft wohlhabende Personen zur Auswanderung. Je ärmer aber der Auswanderer war, desto mehr wurde an ihm verdient, denn der kolossale Nutzen des Geschäfts bestand darin, dass der Passagier seine Fracht nicht im voraus bezahlte, sondern sich in Amerika einen unverhältnismäßig hohen Preis dafür anrechnen lassen musste, zu dessen Deckung er dann auf Zeit verkauft wurde.


Kräftigen und gesunden Armen leistete man auch bis zu einer gewissen Höhe bereitwilligst Vorschüsse, die natürlich bei der Ankunft in Amerika verzehnfacht berechnet wurden. Im Laufe des ganzen vorigen Jahrhunderts und in den beiden ersten Jahrzehnten des gegenwärtigen war das Vorausbezahlen der Passage die Ausnahme und das Nachbezahlen die Regel. Die Auswanderer galten eben als eine Ware, die je wohlfeiler sie sich beschaffen lässt, desto besser verkauft wird. Die Schwarzen welche man noch heut zu Tage in Afrika stiehlt und nach Amerika schafft, werden wenn nicht besser, so doch keinen Falls schlechter behandelt, als die deutschen Auswanderer des vorigen Jahrhunderts. Es war nichts Seltenes, dass Schiffe, welche kaum für 300-400 Passagiere Raum hatten, doppelt und dreifach überladen wurden. Im Hafen schon starben sie wegen schlechter Verpflegung zu Hunderten; so wurden unter Anderen im Jahre 1784 in Amsterdam, ehe das Schiff nur reisefertig war, 315 Passagiere von 1.230 begraben. Es kam häufig vor, dass 20 % derselben auf der Reise zu Grunde gingen, und es war etwas ganz Gewöhnliches, dass der Kapitän, um einer Hungersnot vorzubeugen, vom Tage der Abfahrt an nur halbe und später sogar nur Viertelrationen verabreichen ließ. Ein armer Mann, der aus der Vorratskammer ein Stück Brot für sein hungerndes Kind nahm, wurde zu Tode gepeitscht und ins Meer geworfen. Ein anderer Kapitän lief in England ein und verkaufte 40 kräftige Passagiere als Rekruten an englische Werbeoffiziere. Ein paar anderer welche sich geweigert hatten, in dieser Weise verkauft zu werden und sich auf ihren Vertrag zu beziehen wagten; wurden bei Wasser und Brod eingesperrt. Ein andrer Mann, der mit Frau und Kind auswanderte, wurde ohne weitere Anfrage von diesen getrennt, und die Frau, die ihrem mit dem Werbeoffizier abfahrenden Mann nachzuspringen suchte, einfach ergriffen und festgebunden. Einen furchtbar erschütternden Bericht seiner Leiden zur See gibt der spätere Herrnhuter Missionar unter den Indianern, Johann Georg Jungmann. Er machte die Reise 1731 und war 25 Wochen, also fast ein halbes Jahr unterwegs. Von 156 Passagieren blieben nur 48 am Leben. Eine Ratte wurde für einen halben Thlr., eine Maus zu 5 Sgr, als Leckerbissen verkauft. Jungmann selbst war durch den Hunger so sehr geschwächt, dass er auf Händen und Füßen ans Land kriechen musste.

Sobald ein Schiff im Hafen ankam, wurden die Passagiere von den Reedern zur Bestreitung der Reisekosten öffentlich zum Verkaufe ausgeboten, worauf die wohlhabenden Einwohner der Stadt oder des Landes an Bord eilten und sich unter den Gesunden die für ihre Geschäfte geeigneten heraussuchten. Erwachsene mussten für ihre Überfahrt drei bis sechs Jahre dienen, und wer unter 21 Jahren alt war, musste, bis er dieses Alter erreichter Knecht oder Magd werden. Ganze Familien wurden auf diese Weife zerstreut, Eltern verkauften ihre Kinder, um selbst frei zu werden, Geschwister wurden häufig auf Niewiedersehen von einander getrennt. Der Herr aber konnte seinen Dienstboten weiter vermieten und unbedingt über seine Person verfügen. Diese zeitweise Knechtschaft, dieses Abdienen der Reisekosten war eine, allen unter der Herrschaft des englischen Rechts stehenden Kolonien gemeinsame Einrichtung. Es ist das auf die Einwanderer ausgedehnte Lehrlingssystem, welches im Interesse des Herrn den Lehrling, resp. Knecht jedes selbständigen Willens entkleidete und sogar zu einem zeitweisen Vermögensgegenstande, zum Zessionsobjekt machte.

Aber selbst nach dieser Periode, also anfangend mit den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts war die Seereise noch beschwerlich genug, und erst mit der allgemeinen Einrichtung der Dampfschifffahrt wurde sie verhältnismäßig leichter und besser. Damals waren die Segelschiffe noch nicht so gut als heut zu Tage, dann aber gab es bis in die Mitte der dreißiger Jahre noch keine speziell für den Zweck der Auswandererbeförderung erbauten Schiffe. Ein Agent mietete für einen möglichst billigen Preis den unteren Raum eines Schiffs und richtete ihn notdürftig für die Reise her. Wenn der Reeder die ausbedungene Miete erhielt, so kümmerte er sich nicht weiter um die Einzelheiten des Geschäfts, und wenn der Agent vielleicht doppelt so viel Passagiere aufnahm als das Zwischendeck bergen konnte, so machte er einen um so größeren Profit. Jeder Auswanderer musste sich mit Lebensmitteln versehen und diese selbst kochen. Die aus dieser Anordnung hervorgehenden Übelstände liegen auf offener Hand. Viele kauften entweder zu wenig ein, indem sie sich absichtlich oder unabsichtlich über die Länge der Reise täuschten, Andere hatten nicht die Mittel, sich gehörig vorzusehen, und wieder Andere wurden beim Einkauf betrogen. Aber selbst diejenigen, welche einen vollen Vorrat mitnahmen, kamen kaum besser zurecht, denn es fehlte an Bord des Schiffes an Küchen und geeigneten Kochstellen. Sogar die größten Schiffe hatten deren nicht mehr als 4-6 bei mehreren hundert Passagieren, und das Resultat war, dass täglich Schlägereien um den Kochplatz stattfanden, so dass kaum Jemand ein ausgekochtes Essen bereiten konnte. So begnügten sich die Meisten mit kalter Kost, die Seekrankheit machte sie außerdem gleichgültig und bei einer einiger Maßen langen und schlechten Reise, wo die Schiffe nicht gelüftet werden konnten, fielen die armen Zwischendeckpassagiere dem Fieber oder der Cholera zur Beute. Am Längsten dauerte dieser Unfug auf den Liverpooler und Havrer Schiffen; am Frühesten wurde auf den Bremer und Hamburger Schiffen für alle Passagiere gekocht, so dass sie den englischen als Muster dienten. Im Winter 1847 auf 1848, wo die halbverhungerten Irländer so massenhaft auswanderten und viele deutsche Gemeinden sich ihrer Armen durch Zwangsauswanderung entledigten, starben in Folge mangelhafter Schiffseinrichtung und Verpflegung über 20.000 Menschen auf dem Wege nach Amerika oder, kaum angekommen in den dortigen Häfen. Vor 1847 fand keine Kontrolle statt, weshalb auch die statistischen Nachweise über die Todesfälle fehlen. Indessen war ihre Zahl im Verhältnis desto größer, je mehr wir in der Geschichte der Auswanderung zurückgehen. So starben von den im Jahre 1710 auf Kosten der englischen Regierung nach New-York geschafften 3.000 Deutschen 773 auf der Reise und unmittelbar nach ihrer Ankunft im Hafen, also mehr als 25 %. In den letzten zwanzig Jahren ist aber glücklicher Weise Vieles besser geworden. In den meisten Ein- und Ausschiffungshäfen sind besondere Behörden errichtet, welche den Auswanderern ratend und helfend zur Seite stehen. Vor Allem aber sind die Schiffe selbst besser und geräumiger eingerichtet und zugleich zur Verpflegung ihrer Passagiere verpflichtet. Nur im Ausnahmefalle wird noch über Mangel oder schlechte Beschaffenheit der Lebensmittel geklagt. Ein anderer großer Vorteil, der sich namentlich in den letzten Jahren täglich mehr geltend gemacht hat, besteht darin, dass die Dampfschiffe ziemlich allgemein die Segelschiffe zu verdrängen anfangen; wenigstens fahren sie jetzt fast schon ausschließlich nach den Haupthäfen der Vereinigten Staaten. Während - um hier ein schlagendes Beispiel anzuführen - 1856 in New-York nur 5% der Einwanderer in Dampfschiffen ankam, landeten 1869, also nur dreizehn Jahre später, ihrer 88 % in Dampfern und nur 12 % in Segelschiffen. Das Zwischendeck eines der neuen deutschen Dampfer ist schöner, luftiger und höher als die erste Kajüte eines Segelschiffs vor fünfzig Jahren, meistens acht bis neun Fuß hoch und gut ventiliert, die Verpflegung aber so reichlich, dass noch nie eine begründete Klage gegen diese Schiffe erhobenworden ist. Die Kapitäne sind erfahrene und humane Männer, welche die ihnen anvertrauten Passagiere menschlich behandeln und in ihren Rechten schützen. Ich habe Dutzende dieser Schiffe unmittelbar nach ihrer Ankunft im Hafen besucht und das Zwischendeck, noch ehe es von den Reisenden verlassen war, genau besichtigt. Ich fand selbst bei rauem Wetter die Luft verhältnismäßig rein und gut, die Passagiere aber frisch und wohlaussehend. Wenn man nun bedenkt, dass ein Dampfer im Durchschnitt etwa vierzehn Tage zu einer Reise braucht, während sie ein Segelschiff in wenigstens sechs Wochen macht, wenn man ferner bedenkt, dass die Sterblichkeit der Dampfschiffpassagiere in den legten Jahren nur 1 per Mille betrug, während sie auf den Segelschiffen sich durchschnittlich auf ½ % belief, so wird man mit mir darin übereinstimmen, dass es im Interesse der Auswanderer liegt wenn die Dampfer mit jedem Tage mehr die Segelschiffe verdrängen, um so mehr, als der Unterschied im Preise nur 10-15 Thlr. Beträgt, anderer Seits aber der Verlust an Geld doppelt und dreifach durch den Gewinn an Zeit wieder eingebracht wird.

Übrigens kommen von Zeit zu Zeit auf Segelschiffen immer noch Unglücksfälle vor, welche durch die Habgier oder den Leichtsinn des Reeders herbeigeführt, ein entsetzliches Licht auf die Zustände werfen, welche vor nicht zu langer Zeit auf Auswandererschiffen durchaus etwas Alltägliches waren. ich selbst habe einen dieser Fälle, welcher seiner Zeit in Europa und Amerika viel Aufsehen erregte und Anlass zu heilsamen Reformen gab, einer genauen Untersuchung unterworfen. Es betraf dieser Fall das Schiff Leibnitz, welches am 2. November 1867 von Hamburg mit 544 Passagieren abgefahren war und am 11. Januar 1868 mit 436, also mit Verlust von 108 Passagieren in New-York landete. Ich besuchte den Leibnitz zwei Tage nach seiner Ankunft im Hafen. Ich fand zwischen 80 und 90 Passagiere im Orlogsdeck untergebracht, jenem kaum sieben Fuß hohen Raum, der unmittelbar über dem Kielwasser und unter dem Zwischendeck liegt und weder Luft noch Licht von der Setter sondern erst durch das Zwischendeck erhält. Von diesem drangen bei der schlechten Beschaffenheit des Fußbodens fast alle schlechten und verdorbenen Stoffe und Flüssigkeiten herunter, während vom Orlogsdeck die wahrhaft mephitischen Dünste in die Höhe stiegen und die Lust verpesteten. Rechnet man zu diesen durch die äußere Einrichtung gegebenen Mängeln noch die schlechte, unzureichende Kost, die Unreinlichkeit der Passagiere, lässige Aufsicht der Schiffsoffiziere, Tage langer durch das stürmische Wetter bedingte Absperrung in diesen schlecht ventilierten Räumen, zahlreiche an der Seekrankheit oder am Typhus leidende Patienten mitten unter den Gesunden, so kann man sich einen Begriff von den Ursachen machen, welche so entsetzliche Folgen erzeugten. Die ersten Leichen hatte man vierundzwanzig Stunden im Zwischendeck liegen lassen; erst später, als sie häufiger wurden, warf man .
Sie, an einzelnen Tagen acht ja neun über Bord. Ich wünsche, dass Jedem ein Anblick erspart bleiben möge, wie der, welchen ein von Hunger und Typhus heimgesuchtes Schiff bietet. So schrecklich auch der Besuch eines Schlachtfeldes sein mag, der Gedanke hat doch immer etwas Tröstliches, selbst Versöhnendes, dass die Toten, die dort zu Hunderten und Tausenden umherliegen, wenigstens im Dienste ihres Vaterlandes, für das Wohl der Überlebenden gefallen sind. Die klaffenden Wunden, das frische Blut stimmen, wenn auch ernst, doch nicht so traurig, als diese wie Schatten einherschreitenden Jammergestalten, die ja nur der Habsucht zum Opfer gefallen sind, die heute noch gesund wären, wenn der Reeder ihnen gegenüber seine Schuldigkeit getan hätte. Der Hunger hat mit zitternder Hand die fahlen Züge der Abspannung, der Gleichgültigkeit und der herannahenden Auflösung in diese Gesichter geschrieben. Man sieht nicht allein, man riecht dieses menschliche Elend. Die penetrante Schärfe dieses Geruches prägt sich unauslöschlich dem Gedächtnis ein. Als ich fast ein Jahr nach diesem Besuch westlich vom Mississippi an einen Eisenbahnzug herantrat, sagte ich, ehe ich in einen der Wagen geblickt hatte, meinem Begleiter, das einer oder mehrere derselben frisch angekommener lange krank gewesene Einwanderer enthalten müsse. So war es: Schweden, die unterwegs lange krank gewesen waren, wollten in den Westen von Minnesota reisen, und waren schon zehn Tage von New-York aus unterwegs gewesen! Auf dem Leibnitz waren ganze Familien ausgestorben, Kinder hatten ihre Eltern, Ehefrauen ihre Männer, Eltern ihre Kinder verloren. Ein kleiner Junger den ich nach Vater und Mutter fragte, wies auf das Meer zu unseren Füßen und rief schluchzend: „Da unten im Wasser liegen sie!“

Eine Frau aus Mecklenburg hatte Mann und Kind verloren. Sie schien sich ob ihrer Auswanderung entschuldigen zu wollen. Ja, wenn ich das hätte voraussehen können! sagte sie zu mir; aber ich bin „aus dem Hahnischen“ d. h. von den Gütern jenes Grafen Hahn, der dem Kladderadatsch seine Berühmtheit verdankt.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber Auswanderung