Über die Juden und ihre Geschichte

Die Weltgeschichte zeigt uns Beispiele mehrerer Völker, welche, aus ihren Wohnsitzen vertrieben, in fremden Ländern einen Zufluchtsort suchten. Alle diese Nationen aber vermischten sich früher oder später mit den Einwohnern des Landes, wohin sie entweder in Masse als Eroberer, oder zerstreut als Flüchtlinge gekommen waren, und es bedurfte vielleicht keines Jahrhunderts, um aus beiden Völkern nur Eine Nation zu machen. Die Juden allein haben, nach der Zerstörung ihres Reichs durch die Römer, sich beinahe in alle Länder des Erdbodens zerstreut, und gleichwohl länger als 15 Jahrhunderte hindurch ihre Nation unvermischt mit den Völkern, unter welche sie sich niederließen, erhalten. Diese Erscheinung ist zu merkwürdig und steht mit dem gegenwärtigen Zustand der Juden in zu naher Verbindung, als dass ich eine Abschweifung zu machen fürchten dürfte, wenn ich über die Gründe, welche jene Erscheinung wahrscheinlich hervorgebracht haben. Einiges erwähne.

Die große Verschiedenheit in Ansehung des Glaubens und des Gottesdienstes zwischen der jüdischen und der christlichen Religion, musste freilich viel dazu beitragen, Juden und Christen von einander entfernt zu halten. Doch würde die Wirkung dieser Klassen-Verschiedenheit sich schwerlich auf so viele Jahrhunderte erstreckt haben, und noch weniger lässt sich aus ihr allein der niedrige und verachtete Zustand, in welchen die Juden geraten sind, erklären. Das römische Reich hatte, zur Zeit der Zerstörung des jüdischen, einen so weiten Umfang, dass die Juden fast überall, wohin sie sich zerstreut hatten, unter römischer Herrschaft standen, und sie konnten freilich die Zerstörer ihrer Verfassung, ihrer Freiheit und ihres Gottesdienstes, die Urheber ihres Unglücks, welche sie oft mit Härte und Grausamkeit behandelt hatten, nicht lieben. Aber diese harte Behandlung war nicht, von langer Dauer. Ihr folgte bald eine sehr gelinde, die den Juden, während eines Zeitraums von mehr als vier Jahrhunderten, unter den heidnischen und ersten christlichen Kaisern, den Genuss völliger Religionsfreiheit und aller bürgerlichen Rechte gewahrte. Ohne Zweifel sind während dieses langen Zeitraums viele der Juden zum Christentum übergegangen und haben sich amalgamiert mit den Völkern, unter welchen sie lebten; aber es geschah doch keine allgemeine Verschmelzung. Der Grund davon ist wahrscheinlich in dem Eigentümlichen der jüdischen Religion, wodurch die Juden nicht nur zu dem auserwählten Volk Gottes erhoben werden, sondern auch die Verheißung eines politischen Befreiers und Beglückers erhalten, zu suchen. Denn dadurch gehindert, konnten die Juden, mit Beibehaltung ihrer Religion, sich nie mit andern Völkern vermischen, nie konnte ein anderes Volk die Religion der Juden annehmen; diese selbst hingen aber auch um so fester an ihr. Dennoch lässt sich vermuten, dass die Macht des Glaubens auch bei den Juden durch die Wirkung der Zeit und das Licht der Vernunft allmählich würde geschwächt und eine Verschmelzung doch, endlich erfolgt sein. Aber fanatische Christen erwirkten nun gegen die Juden harte Gesetze und Verfügungen, wodurch diese immer mehr in den Zustand der Niedrigkeit und Verachtung herabsanken; barbarische Völker eroberten dann das römische Reich, und behandelten die schon verachteten Juden noch geringschätziger; mit rohem, fanatischem Eifer sahen die Christen in den Juden nur die von Gott zur Strafe für die Hinrichtung des Messias Verstoßenen. Was konnte also natürlicher sein, als dass unglückliche und unterdrückte Menschen an die einzige Hoffnung festhielten, welche ihnen Erlösung von ihren Leiden versprach, dass eine unterdrückte und von Leiden aller Art gequälte Nation, deren ererbte Religion die Zusage eines Messias enthält, mit der Hoffnung auf diesen Messias sich tröstete, in dieser Hoffnung nur um so fester zusammenhielt, und auch ihren Kindern von Jugend auf einen Glauben einzuflößen suchte, der vielleicht allein in, Stande war, ihre Lage erträglich zu machen?


Lag daher in dem Eigentümlichen der Religion der Juden ein Hindern ist ihrer Verschmelzung mit den christlichen Völkern, so machte der Fanatismus der Christen und ihre harte Behandlung der Juden die Hebung dieses Hindernisses unmöglich. Barbarismus früherer Zeiten und fanatischer Aberglaube der Christen, scheint also vorzüglich die trübe Quelle gewesen zu sein, aus welcher die Geringschätzung und Verachtung der Juden, ihre bürgerliche Unterdrückung und Absonderung zuerst ihren Ursprung genommen haben. Wer zweifelt aber wohl, dass Menschen einer Klasse, die Jahrhunderte lang dem Hohn und der Verachtung preis gegeben ist, die immer nur als verworfen, als ausgeschlossen von allem, was Ehre bringt, angesehen worden, endlich selbst das Gefühl ihres Wertes verlieren und in dem Grade, als man sie herabwürdigt, wirklich in ihrer Moralität sinken? — So wurden denn auch die verachteten Juden eben dadurch wirklich verächtlich. Mochten nun immerhin die aufgeklärteren, minder fanatischen Christen den ersten Grund ihrer Zurücksetzung und Erniedrigung der Juden aufgeben, so sahen sie doch jetzt in dem großen Haufen derselben nur moralisch gesunkene, niedrige Menschen, die keine bessere Behandlung, als die schon gewohnte, zu verdienen schienen. Ausgeschlossen von fast allen Gewerbearten der Christen, ergriffen die Juden eine der verachtetsten von allen, den Geldwucher, eine Erwerbsart, die ganz dazu geeignet war, nicht nur sie selbst moralisch zu verschlimmern, sondern auch in den Augen der Christen zu erniedrigen. Zwar gab es von jeher unter ihnen auch gute, edle Menschen, sogar kenntnisreiche und gelehrte Männer; aber was vermochten diese wenigen, von dem großen Haufen der Christen kaum gekannt, und mit ihren übrigen Glaubensgenossen vermengt, zum Vorteil der Juden zu ändern!

Erst als die Juden mehr den eigentlichen Handel wie den Geldwucher zu ihrem Erwerbszweige machten, als sie, gleich christlichen Kaufleuten, im Großen zu handeln anfingen, ward ihnen auch hier und da, besonders in handelnden Staaten, ein höherer Grad bürgerlicher Achtung zu Teil. Die höher gestiegene und allgemeiner verbreitete Aufklärung des verflossenen Jahrhunderts lüftete endlich auch den Schleier des Vorurteils, welcher so lange uns gehindert hatte, in den Juden Menschen mit gleichen Ansprüchen auf Glückseligkeit und Veredlung, als wir selbst uns zuschreiben, zu sehen. Mit edler Menschen- und Wahrheitsliebe erhob zum Besten der Juden, Dohm *) seine Stimme; zugleich erschienen in einem der aufgeklärtesten Staaten auch Juden, welche durch die hohe Stufe der Kultur, die sie erstiegen hatten, durch ihre Kenntnisse und ihre Weisheit sich überall die größte Achtung als Gelehrte und als Menschen erwarben. Die Scheidewand, welche die Juden von den Christen so lange in drückender Entfernung und Absonderung gehalten. Welche ihnen die meisten Rechte der Bürger und Untertanen geraubt und sie der Niedrigkeit und Vernichtung preis gegeben hat, scheint immer mehr hinweggezogen zu werden, und schon zählen wir große und bedeutende Staaten, in welchen die Juden die Rechte aller übrigen Bürger genießen, und kein anderer Unterschied mehr zwischen ihnen und den Christen als der des Glaubens und des Gottesdienstes statt findet. Wenn Fanatismus, Aberglaube und die Finsternis voriger Zeiten die Quellen gewesen sind, denen der bisherige politische und in mancher Hinsicht auch moralische Zustand der Juden seinen ersten Ursprung verdankt, so müssen auch Vernunft und Aufklärung notwendig das Gegenteil erzeugen, mithin nach und nach den Zustand der Juden verbessern; und es liegt in der Natur jener wohltätigen Geschenke des Himmels, dass sie allmählich die Spuren der Barbarei und des Aberglaubens vertilgen.

*) Dohm, Christian Konrad Wilhelm von Dr. (1751-1820) deutscher Jurist, Professor, Diplomat, politischer-historicher Schriftsteller. Mit seiner wegweisenden Schrift: "Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" aus dem Jahre 1781, nahm er im Sinne der Aufklärung für die Juden Partei und trat für deren Emanzipation ein, die er europaweit förderte. Dohm war Freimaurer und ein Bewunderer Friedrich II.
Dohm, Christian Konrad Wilhelm von Dr. (1751-1820) deutscher Jurist, Professor, Diplomat, politischer-historicher Schriftsteller.

Dohm, Christian Konrad Wilhelm von Dr. (1751-1820) deutscher Jurist, Professor, Diplomat, politischer-historicher Schriftsteller.

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