IV. Einfluss der ständischen Verhältnisse auf das englische Staats- und Volksleben.

Diese Harmonie der Stände 27) ist es, aus welcher der eigentümliche Entwickelungsgang der englischen Verfassung sich erklärt.

Als unter den Stuarts die kritische Periode der englischen Verfassung herannahte, als das Königtum zum ersten Male nicht als Schützer, sondern als Gegner der parlamentarischen Rechte auftrat: da finden wir Ritterschaft und Städte als Stände einig, und eben darauf beruht der verschiedene Ausgang des Kampfes; während auf dem Kontinent überall die landständischen Verfassungen unbedauert fielen.


Die englische Revolution ist eine Spaltung der besitzenden Klassen über das System der Regierung, kein Kampf der gesellschaftlichen Klassen unter sich.

Die englische Geschichte kennt überhaupt nur Einen Bauernaufstand, unter Richard II., 1382. Die damaligen Demagogen waren Geistliche. Ihr Führer Ball nahm zu seinem Lieblingstext den alten Reim:

„Als Adam grub und Eva spann,
Wer war denn da ein Edelmann?“

Er predigte den Bauern: der Erzbischof, die Grafen, Barone, Richter u. s. w. müssten Alle aus der Welt geschafft werden, — und rührte und begeisterte sie in dem Maße, dass sie versprachen: „dann solle er auch selbst Erzbischof und Lordkanzler werden.“

Solche Empörer waren natürlich nicht gefährlich.

Auch während des heftigsten Kampfes der Revolution ist kein Hass der gesellschaftlichen Klassen gegen einander sichtbar. Im Westminsterparlament saßen Lords so gut wie im Parlament des Königs; die Parlamentsheere wurden von Lords kommandiert; Cromwell ist nach Geburt, Erscheinung und Denkungsweise durchaus Gentleman; und noch am Schluss des Kampfes kommt unter den Friedensvorschlägen die Erhebung Cromwells zum Lord und ähnliche Standeserhöhungen vor. Selbst nachdem die Puritaner das alte Oberhaus aufgelöst und die Republik erklärt hatten, kam man sofort wieder auf die Bildung eines Oberhauses zurück, und Cromwell wusste sein Parlament nicht anders anzureden: als, „Mylords and Gentlemen!“

Damals haben Adel und Ritterschaft die Probe ihrer Popularität und ihres Einflusses siegreich überstanden.

In Wechselwirkung nun mit dieser Harmonie der Stände steht der ganze Entwickelungsgang der englischen Gesetzgebung.

Ober- und Unterhaus vertraten im Mittelalter zwei völlig gesonderte Systeme des Besitzes.

Übrigens wurde keine rechtliche Absonderung der Stände anerkannt; weder ein Oberhaus zwischen Lords und Bischöfen (die niemals zwei Curien bildeten), noch im Unterhaus zwischen Rittern und Städten.

Es trat daher auch im Privatrecht niemals eine Sonderung der Gesetzgebung nach Ständen ein. 28)

Die Gesetze über das Grundeigentum, Erbrecht, Testamente, Schuldrecht, kennen keinen Unterschied der Stände.

Ebenso im Familienrecht. Der Rechtsgrundsatz von der Standesmäßigkeit der Ehen ist in England nie bekannt gewesen, weder für das Königshaus, noch für die Lords, geschweige denn für die Ritterschaft. Der Stammvater der Tudors war ein einfacher Privatmann; Herr Hyde, später Lord Clarendon, Großvater zweier regierenden Königinnen.

In Wechselwirkung damit steht ferner die Einheit der Gerichtsverfassung.

Durch den Satz, dass alle Justiz vom König ausgeht, sind in England schon im 14ten Jahrhundert überwunden die Lehns- und Patrimonialgerichte, die Land- und die Stadtgerichte, die Handels- und die Gewerbegerichte. Es gibt in ganz England seit Jahrhunderten nur Eine Justiz, verwaltet durch königliche Richter in Verbindung mit Ausschüssen aus den Gemeinden, welche der königliche Sheriff ernennt (Jury).

Diese Einheit des Ganzen lies weder besondere Rechte für einzelne Stände entstehen, noch geschlossene Orts- und Provinzialrechte.

Sonderbar ist nun aber die Meinung, dass diese Gestaltungen des englischen Staatslebens „naturwüchsig“ 29) seien.

Es gibt in der Tat nur Ein Land in Europa, welches im Mittelalter nicht naturwüchsig geblieben, und das ist England. Alle Punkte, um die sich heute die Naturwüchsigkeitsfrage dreht, Verhältnis der Stände, Militär- und Gerichtsverfassung, Gemeindeordnung, und die daraus folgenden Sätze des Privatrechts, sind in England schon im Mittelalter durch hunderte und abermals hunderte von Gesetzen und Amtseinrichtungen geordnet; während in Deutschland freilich die Staatsgewalt untätig blieb, weil das Kaisertum im Verfall, die Landeshoheit erst im Entstehen war.

Solche Gesetze, die aus dem harmonischen Zusammenwirken nicht geschiedener Stände hervorgehen, sind ihrem Wesen nach gerechte und gute Gesetze, gehen in das Bewusstsein und die lebendige Übung des Volks über.

Aus der gleichen Anwendung dieses Rechts auf alle Stände und auf das Beamtentum selbst, entsteht dann, weiter der feste Sinn für das Recht und die sprichwörtlich gewordene Achtung vor dem Gesetz.

Daher denn auch die konservative Behandlung dieser Gesetze, daher das Dasein einer konservativen Partei in England.

Jene Harmonie der ständischen Verhältnisse dokumentiert sich endlich in dem ganzen Volksleben. 30)

Wir wissen, wie das Bewusstsein, dass jeder Soldat General werden könne, eine ganze Armee elektrisiert. Von Tausenden erreicht kaum Einer das hohe Ziel; für Hunderte aber, welche die Kraft in sich fühlen, wird es der Sporn zur höchsten Anstrengung der Kräfte.

Dies Prinzip wiederholt sich in dem ganzen englischen Volksleben.

Nirgends stellt sich hier die Staatsgewalt hin zwischen den Einzelnen und sein Emporstreben; nirgends setzt sie der Tätigkeit des Einzelnen eine Grenze; keine Rechtsschranke trennt den Stand vom Stande, das Verdienst von der Ehre. Dem Genie in Staat, Heer und Wissenschaft stand jederzeit ein Platz unter den alten Grafen und Herzögen Englands offen. Was Graf Derby von seinem Ministerium rühmt, war Politik der Tories schon seit vielen Menschenaltern. Die Pitts, George Cainning, Robert Peel, und jetzt der toryistische Lordkanzler Sir Edward Sugden (Lord St. Leonards) sind redende Beweise dieser Maxime; während der Whigadel seine Führer mehr in den eigenen Reihen fand.

Auf diesem Wegfall der Rechtsschranken beruht die Tat- und Willenskraft des britischen Volks, sein Muth und seine Ausdauer in allen Kämpfen des Lebens. „Tummle dich“, lautet das Volkssprichwort in einem Lande, wo niemals das Gesetz den Handwerker in seinem Gewerbe, den Kaufmann in seinem Geschäftszweig, den Grundbesitzer in einem unveräußerlichen Besitz, den Adel gegen die Verdienste der Emporstrebenden schützte. Jede Ehre und Würde in diesem Lande will nicht bloß erworben, sie will auch durch Kraft, Mäßigung, Tüchtigkeit erhalten werden.

Aus diesem Angewiesensein auf sich selbst entwickelt sich die Charakterstärke und der persönliche Muth der höheren Klassen in England; der Ernst, die Redlichkeit, die Zuverlässigkeit und Treue, mit der allein eine höhere Stellung im öffentlichen Leben zu gewinnen und zu erhalten ist. Entwickelung der Selbstständigkeit und Selbstachtung wird dadurch ein Gemeingut aller Klassen und gibt der englischen Sitte ihr festes Gepräge, dem Einzelnen wie dem Volk seine Willensstärke und seinen Charakter.

England schloss sich Jahrhunderte lang durch Schranken gegen das Ausland ab; aber niemals in seinem Innern. Jeder künstlich gemachte Rechtsschutz der Klassen kann wohl eine schnell verwelkende Blüte herbeiführen, wird aber Niemandem gefährlicher, als der geschützten Klasse selbst.

Allerdings schmeichelt stets ein Schutzzoll für Besitz und Ehre den nächsten Interessen und Wünschen. Jeder Mächtige findet Schmeichler, also auch die besitzenden Klassen.

Es schmeichelt dem Grundbesitzer, zu wissen, dass sein Besitz unveräußerlich, ewig in seiner Familie, und seinem Stande sei. Dies Bewusstsein gibt ihm ein Gefühl der Sicherheit: aber dies Gefühl der Sicherheit ist ein gefährliches. Wohl gibt der vererbte Besitz dem Adel seine Kraft und Haltung, aber nur dann, wenn diese Erhaltung des Besitzes das Verdienst der eigenen Mäßigung und Einsicht war. Die Schutzwehr der Majorate und Fideicommisse dagegen soll den Schwächling und Verschwender auf Kosten Dritter in seinem Besitze schützen und entzieht ihm eben dadurch den sittlichen Halt.

Es schmeichelt dem nächsten Interesse der höheren Klassen, die Standesmäßigkeit ihrer Familienverbindungen durch ein Gesetz zu schützen. In der Tat hält man auf diese Standesmäßigkeit der Ehen nirgends mehr, als in der englischen Gentry:

„like blood, like goods, like ages,
„make the happiest marriages,“

lautet das englische Sprüchwort: — gewiss richtig, wenn es das Erzeugnis eigener Einsicht und Mäßigung ist; nicht aber da, wo das Gesetz einen künstlichen Schutz gegen die Schwäche und Sinnlichkeit des Einzelnen aufrichtet.

Die höheren Klassen haben es gern, durch Titel und äußere Zeichen ihre Abstammung darzutun: aber diese Namen und Zeichen erhalten ihren Wert nur, wenn sie durch Tüchtigkeit erworben und erhalten werden. Ohne sittliche Würde und ohne die äußeren Mittel werden sie zur Last für den Einzelnen, wie für den Staat, und zur Herabsetzung des Standes.

Jeder Schutzzoll für Besitz und Ehren erzeugt ein schwächliches, entartetes Geschlecht, stets schütz- und rettungsbedürftig.

Diese Wahrheit hat Adel und Gentry in England von jeher gefühlt: und darauf beruht der positive Begriff der Aristokratie in England. Der Gentleman weiß, dass er zuerst Edelmann sein muss in seiner Familie und in seinem Haus, gegen seine Dienerschaft und seine Leute, ein Edelmann im Worthalten und Schuldenbezahlen, ein Edelmann in seiner Gesellschaft, im Vereins-, Genossenschaft- und Gemeindeleben, — und dann erst ein Edelmann im Staat.

Allerdings hatte auch England aus seinem Mittelalter heraus eine Reihe solcher Schutz- und Sonderrechte zu überwinden: es hat sie aber überwunden — schrittweise, — und war dabei immer dem Kontinent voran, bis zum Ende des 18ten Jahrhunderts. Und dabei machte man die Erfahrung, dass jedes Aufgeben eines Sonderrechts nur die Folge hat, einen Widerstreit der Interessen unter den besitzenden Klassen aufzuheben und die Macht des Besitzes im Ganzen zu verstärken. Dies ist der nächste Sinn der sogenannten Emanzipationen. Darum ist jeder Fortschritt in England unwiderruflich.

Eben dadurch wurde in England aus dem selbstständigen Besitz jeder Art eine feste, untrennbare, durch ihre Interessen fest vereinte Masse, — und das ist die Gentry, in welcher adlige Gesinnung Gemeingut geblieben ist.



Was aber die Mäßigung der höheren Klassen in England von jeher als notwendig fühlte, das hat mit klarem Bewusstsein und Konsequenz die Staatsgewalt geschaffen. 31)

Es gibt in der Geschichte allerdings nur Eine Gestalt des Staats, in welcher die ständische Gliederung vollständig und rein überwunden ist: das ist die römischkatholische Kirche; und darum war sie der Normal- und Weltstaat des Mittelalters. Sie ward erst schwach, als sie im 13. Jahrhundert sich von der ständischen Gliederung überwältigen lies.

Als aber die Kirche schwach wurde, da bemächtigte sich in England ein starkes Königtum der Aufgaben des Staats und setzte sie fort.

Mit der königlichen Suprematie wurde die ständische Gliederung in der Kirche überwunden.

Mit dem Satz: „der König ist das Haupt aller bewaffneten Macht“, wurde die ständische Gliederung im Heer überwunden, und die Wurzel des Lehnswesens, die Gutsabhängigkeit des Kriegers vom Führer, herausgehoben.

Mit dem Satz: „der König ist die Quelle aller Gerichtsgewalt,“ fiel die ständische Gliederung der Gerichte.

Mit dem Satz: „der König ist die Quelle aller Ehren“, ward die ständische Gliederung von Adel und Ritterschaft überwunden.

Die Geschichte Englands ist ein 1000 jähriger Kampf gegen die ständische Gliederung, und das ist Englands Größe.

Die Elemente des Besitzes und der Nationalität sind in Deutschland von jeher dieselben gewesen: der deutsche Reichstag ist das englische Parlament, die deutschen Landstände enthalten zersplittert das englische Unterhaus. Was aber in England durch ein starkes Königtum und durch den Gemeinsinn der Stände zur harmonischen Einheit verbunden wurde, zerfiel in Deutschland machtlos in ständischer Gliederung!

Das aber, wodurch das Königtum groß geworden, lernten später die höheren Klassen in ihrem einheitlichen Parlament als die wahre Aufgabe der Staatsgewalt kennen.

Als daher im 19. Jahrhundert die Industrie mit ihrer gewaltigen Umgestaltung aller Besitz- und Ständeverhältnisse auftrat, und der Staatsgewalt ganz neue, ungeahnte Aufgaben eröffnete: da war es die Gentry selbst, welche wetteifernd in Parlament, Gemeinden und Vereinen die Aufgabe der Staatsgewalt ergriff, — die Hebung der schwächern Klassen des Volks. Zum Herrschen geboren, hat diese Gentry begriffen, dass wenn sie die Staatsgewalt behaupten will, sie auch die Aufgaben des Staats selbst übernehmen muss.

Das Bewusstsein der Einheit und Kraft des Besitzes und der Intelligenz ist es denn auch, welches den Engländern ihre Haltung gibt in den Zuständen der Gegenwart. In dem Selbstbewusstsein ihrer Kraft und Würde sehen dort die besitzenden Klassen der Entwickelung der Dinge im Innern des Landes wie auf dem Kontinent zu; während in Frankreich 32) die durch Schutz und Ausbeutung der Staatsgewalt entnervte Gentry, nachdem sie in beschränkter Kurzsichtigkeit ein Menschenalter hindurch die Staatsgewalt gemissbraucht, uns ein Bild der Niederwerfung von Besitz und Intelligenz darbietet, wie es ohne Beispiel in der Geschichte ist.

Allerdings ist das Bild, welches die beiden Nachbarstaaten vor unsern Blicken entfalten, für die Zukunft Deutschland ein sehr ernstes.

Deutschlands Zukunft beruht, wie Englands ganze Geschichte: auf der Mäßigung und dem Gemeinsinn der besitzenden Klassen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber Adel und Ritterschaft in England.