I. Heutige Macht des Adels und der Gentry.

England ist das Land der Aristokratie — ein Land, in welchem Rangverhältnisse Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen, gesetzlicher Feststellungen, ein Teil des Staatsrechts sind.

Die bekannten fünf Stufen des englischen Adels sind: Herzöge, Marquis, Grafen, Vicomtes und einfache Lords oder Barone.


Vor den Herzögen rangieren des Königs Söhne, Enkel, Brüder, Onkel und Neffen. Der Adel lässt ferner den Vortritt den Spitzen der gelehrten Professionen, d. h. der alten vornehmen Zweige, der Theologie und der Rechtswissenschaft. Die Erzbischöfe und der Lordkanzler rangieren vor den Herzögen, die Bischöfe vor den Lords. Auch der Lord-Schatzmeister, der Präsident des Staatsraths (Geheimraths) und der Geheimsiegelbewahrer haben den Vortritt vor den Herzögen, wenn sie Lords sind.

Nach dem Herkommen haben endlich die Söhne des Adels einen gewissen Rang, obgleich sie nicht Pairs sind.

Mit den Lords schließt der wirkliche Adel, die Nobility.

Nach derselben folgen dann einige Klassen, welche, obgleich nach dem Gesetz nicht adlig, dennoch eine Art von niederem Adel bilden, in folgender Reihe: Der Sprecher des Unterhauses, die Ritter des Hosenbandordens, die Staatsräthe (Geheimräthe), der Schatzkanzler, die Vicekanzler, die Präsidenten und Richter der ordentlichen Gerichtshöfe, die Baronets, die Ritter des Bath- und anderer Orden, Land- und See-Offiziere mit Obristenrang, Doktoren, geistliche Dekane und Kanzler.

Das Ganze bildet eine zusammengesetzte Präcedenztafel 2), in welcher alle übrigen Honoratioren unter dem Namen Esquires und Gentlemen den Schluss machen.

Verhältnismäßig einfach sind die Titulaturen 3).

Das eigentliche Prädikat des Adels ist der Titel „Lord“, welcher von Rechtswegen nur zusteht den 421 Pairs und den Häuptern der 128 Familien des schottischen und irischen Adels, die keinen Sitz im Oberhaus, den Rang aber unmittelbar nach den Pairs gleicher Stufe haben.

Nach dem Herkommen führen Lordstitel die Söhne, zum Teil auch die Enkel der höheren Pairsklassen, jedoch nicht in amtlichen Urkunden. Pairssöhne niederer Klassen heißen Honourables. Das Prädikat Right Honourable teilen aber die Adelsklassen mit den Staatsräten und andern hohen Beamten.

Ein Ritter und Baronet erhält das Prädikat Herr (Sir), vor den Vornamen gesetzt.

Die Gemalinnen aller Lords und Ritter heißen Ladies und teilen den Rang ihrer Gatten.

Die unvermählten Töchter der Pairs werden aus Courtoisie den ältesten Söhnen gleichgestellt; Töchter der Herzöge, Marquis und Grafen heißen Ladies.

Der Rang dagegen, der nur auf Amt oder gelehrter Profession beruht, teilt sich Frauen in der Kegel nicht mit.

Die gesamte Gentry, die keinen dieser höheren Titel führt, wird im gewöhnlichen Leben durch den Zusatz „Esquire“ hinter dem Hauptnamen stilisiert.



Esquire und Gentleman 4) bezeichnet im Allgemeinen den selbstständigen Mann, der von seinen Renten oder einer „respectablen“ Beschäftigung lebt. Dabei ist anerkannt, dass ein gewisses Einkommen die Grundlage der Gentry bildet; und da das geringste Einkommen eines Abgeordneten zum Unterhause 2000 Thlr. (£. 300) sein muss; so kann man dies als ungefähren Anhalt annehmen. Die ältere Ansicht, nach welcher selbst ein Millionair kein Gentleman war, so lange er einen offenen Laden zum Einzelverkauf hält, ist allmählig im Verschwinden. Ohne Rücksicht auf das Einkommen gehören die Söhne von Lords und Rittern zur Gentry. Ebenso die beiden alten Zweige der geistigen Arbeit. Der Geistliche und der Advokat ist immer ein Gentleman, ohne Bücksicht auf das Einkommen.

Die Gesamtzahl der selbstständigen Familien des Adels und der Gentry wird in England auf etwa 60,000 veranschlagt. Die Einkommensteuer ergibt mehr als 45,000 Personen mit einem jährlichen Einkommen von 2000 Thlr. und darüber.

Eine genauere Begrenzung der Gentry ist nicht zu geben; kein Historiker und kein Jurist weis sie zu definieren. Diese Unbestimmtheit des Begriffs ist nun aber kein zufälliger Mangel, sondern ein Erzeugnis der ganzen Geschichte und Gesetzgebung Englands.

So undefinierbar diese Gentry erscheint, so unzweifelhaft ist es, dass sie seit mehreren Jahrhunderten die eigentliche Staatsmacht in England darstellt.5)

Der Schwerpunkt der englischen Verfassung liegt bekanntlich im Unterhause durch das Steuerbewilligungsrecht.

Das Unterhaus war nun aber von jeher ausschliesslich in den Händen der Gentry. Ein Abgeordneter der Grafschaft muss mindestens 4000 Thlr., ein städtischer mindestens 2000 Thlr. an jährlichem Einkommen nachweisen; und tatsächlich ist das Durchschnittseinkommen zehnfach höher.

In dem Unterhaus von 1853 sitzen 64 Titularlords, irische Lords und Honourables, 87 Ritter; die Übrigen Rittergutsbesitzer nach unseren Begriffen und Capitalisten. Schon am Schluss der Periode der Stuarts wurde das Durchschnittseinkommen eines Unterhausmitgliedes auf 5-6000 Thlr. jährlich veranschlagt. Dem langen Parlament, welches den Krieg gegen Carl I. führte, rechnete man ein Gesamteinkommen von £ 400,000 nach, höher, als das damalige Gesamteinkommen der Lords.

Dieser Gentry im Unterhaus unmittelbar untergeordnet ist der Arm der Staatsgewalt, das stehende Heer; es existirt nur durch die jährliche Genehmigung des Parlaments. Die Offizierstellen sind von der Gentry besetzt und bis zum Capitain hinauf für die reichen Klassen sogar käuflich.

Noch bedeutsamer für die innere Landesverfassung ist die Landwehr oder Grafschaftsmiliz; ihre Offiziere sind aber ohne Ausnahme Gentlemen; die Oberbefehlshaber (Lordlieutenants) große Grundherren.

Eben so entschieden ist die Gewalt der Gentry in der Zivilverwaltung. In allen Staaten gehören die Träger der obrigkeitlichen Ämter der herrschenden Classe an. Der reine Beamtenstaat erhebt aber auch den arm und niedrig Gebornen zu den höchsten Stellen und gibt ihm durch das lebenslängliche Gehalt die Stellung der höheren Klasse.

In England dagegen ist tatsächlich nur die Gentry zu obrigkeitlichen Ämtern befähigt. Der Beamte wird nicht erst Gentleman, sondern er war es bereits, ehe er Beamter oder Offizier wurde, und accentuirt diesen Umstand in der Regel sehr bemerkbar.

Alle höchsten Staatsämter werden besetzt aus dem Parlament, also aus Lords und Gentry.

Die 15,000 Geistlichen der Staatskirche bis zum einfachen Pfarrer herab, alle Richter und Advokaten sind Gentlemen, und reichen mit den Spitzen ihrer Profession in das Oberhaus hinein. Wenn man einen einfachen Advokaten, wie Henry Brougham, als Lordkanzler über die Herzöge setzen kann: so lässt sich schließen, welche Stelle die Advokaten überhaupt unter der Gentry einnehmen.

In der Grafschaftsverwaltung üben die Friedensrichter jene Straf- und Polizeigewalt aus, welche im täglichen Leben vorzugsweise die Gewalt der Obrigkeit darstellt. Von den 14,000 Friedensrichtern Englands besteht nun aber der größere Teil aus Rittergutsbesitzern (in unserm Sinne), der kleinere Teil aus städtischen Honoratioren.

Die unteren Verwaltungsbeamten für die Kreise und Ortschaften werden größtenteils von den Friedensrichtern eingesetzt, und insbesondere von dem Sheriff, dem Hauptrepräsentanten der Gentry der Grafschaft.

Zahlreiche Funktionen ferner, welche nach unseren Begriffen der Staatsgewalt zustehen, fallen in England Privatvereinen und Corporationen zu.

Bei Vereinen mit dem Prinzip der Beiträge und gewählten Vorsteher ist aber das Übergewicht des Besitzes nur noch stärker; sie stehen sämtlich unter dem Patronat des Adels und unter ausschließlicher Leitung der Gentry.

Von den 60,000 Familien der Gentry sind mehr als die Hälfte als Offiziere in Marine, Heer oder Landwehr, als Prälaten oder Pfarrer, als Beamte der Zentralverwaltung, als Richter oder Unterrichter, als Sheriffs, Friedensrichter, Grafschaftsbeamte, als Vorsteher von Vereinen oder Corporationen, irgendwie an der Ausübung der Staatsgewalt beteiligt.

Und gegen einen Eingriff in diese Stellung, d. h. gegen einen Bruch der Verfassung, hat sich die Gentry nach allen Seiten hin mit allen Mitteln gedeckt, die eine Verfassung dagegen gewähren kann. Nur ein Missbrauch der Staatsgewalt könnte die schwächeren Klassen einem Usurpator in die Arme führen. Dagegen schützt freilich keine Verfassung, sondern nur die Einsicht, die Mäßigung und der Rechtssinn der höheren Klassen, welche in England stets, in Frankreich nie vorhanden waren.

Dasselbe Verhältnis finden wir übrigens wieder in den nordamerikanischen Freistaaten, wo die obrigkeitliche Gewalt unmittelbar in den Händen der Gentry liegt, welche auch die englischen Lords in sich begreift. Dass dort ein neuer Mann, welcher nicht zur eingeborenen Gentry gehört, zu einer Stelle als Abgeordneter oder zu einem hohen Staatsamt gelangte, ist fast unerhört.



Der Grund, aus welchem in diesen parlamentarischen Verfassungen die erste Klasse des Besitzes sich der Staatsgewalt bemächtigt, liegt offenbar in dem Wesen des Besitzes selbst. 6)

Im ländlichen wie im städtischen Besitz erscheinen zunächst die arbeitenden Klassen massenweise abhängig durch das Gesindewesen und den häuslichen Verband der Arbeitsgehilfen, welcher in der neueren Entwickelung in ein kündbares Lohn- und Auftragsverhältnis übergeht, immer aber die Existenz des Arbeiters nur von der Mäßigung des Herrn abhängig macht, oder vielmehr von dessen verständiger Einsicht in sein eigenes Interesse.

Dies Abhängigkeitsband erstreckt sich sodann durch die mittleren Klassen hindurch und macht den kleineren Grundbesitzer, Kaufmann, Handwerker, Unternehmer, Kapitalisten abhängig von dem größeren. Auch durchkreuzen sich die verschiedenen Zweige des materiellen Besitzes unter sich und mit dem geistigen Besitz. Der Haus- und Gutsbesitzer wird abhängig von seinen Gläubigern, der Unternehmer vom Kapitalisten, und dieser von jenem; der Advokat und der Arzt von seinen Kunden, der Geistliche von seinen Pfarrkindern und umgekehrt; der Untergebene von dem oberen Beamten, u. s. f.

Es ist unmöglich, mit wenig Worten dies Netz der Abhängigkeitsverhältnisse zu erschöpfen. Es mag ein jeder Einzelne versuchen, die Personen zusammenzuzählen, die als Familienglieder, Diener, Handwerker, Arbeiter, oder durch sonstige Gönner- und Kundschaft, von ihm abhängig sind; dann die Betrachtung umkehren auf die Banden, die ihn selbst binden; diese Rechnung millionenmal vervielfältigen: so wird ein ungefähres Bild des Netzes von Abhängigkeiten entstehen, welches wir die Gesellschaft nennen.

Sie gliedert die Menschen nach materiellem und geistigem Besitz in feste Klassen, in welchen der Nichtbesitz im Ganzen eben so erblich ist wie der Besitz.

Sie verbreitet über alle Zweige des menschlichen Lebens eine Abhängigkeit, die mit hundert Fäden jeden Einzelnen von dem Willen und der guten Meinung Anderer abhängig macht, und den Schwerpunkt des ganzen Systems zuletzt in eine herrschende Klasse legt.

Abhängig nennen wir Den, der mit sichtbaren Banden von Einem oder Wenigen abhängt; unabhänngig Den, der durch hundert unsichtbare Fäden gebunden ist. Ein gewisser Grad von Charakterstärke mag versuchen, diese Banden zu zerreißen; zu lösen vermag sie der Einzelne überhaupt nicht. Nur die Gesamtheit kann in verständiger Einsicht in ihr gemeinsames wahres Interesse diese Abhängigkeit versittlichen, mildern, aufheben, so weit dies durch menschliche Einrichtungen überhaupt möglich: und diese Einrichtungen bilden den Staat.

Finden wir nun, dass in einem Staate der Adel, d. i. die besitzende Classe der Gesellschaft, eine dauernde Herrschaft unangefochten behauptet: so mögen wir schließen, dass dies das Verdienst seiner Mäßigung, der Lohn seiner verständigen Einsicht ist.

Steht England einzig in Europa da, als das Land, wo die Staatsgewalt sich niemals vom Besitze getrennt hat, so ist England auch das Normalland für die Frage: durch welche Gesetze und Einrichtungen besteht und erhält sich die Gewalt der besitzenden Klassen im Staat.

Und dies führt mich zunächst zur Entstehung des englischen Adels.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber Adel und Ritterschaft in England.