Die Gewalt der englischen Gentry im Staat.

Um eine Übersicht über den Umfang dieser Gewalt zu gewinnen, und folgende Hauptpunkte zu scheiden:

1) das Unterhaus war von jeher in den Händen der Grentry, und unter den Plantagenets kehren sogar dieselben Namen aus altritterlichen Familien ziemlich regelmäßig im Unterhaus wieder. Seit dem Ende des Mittelalters sind die parlamentarischen Steuern, welche die „außerordentliche Revenüe“ der Königs bilden, das Überwiegende geworden, im Gegensatz der „ordentlichen Revenüe“ des Königs aus dem Feudalsystem. Der Schwerpunkt der Verfassung fällt damit allmälig aus dem Oberhaus ins Unterhaus. Einem wiederholt und entschieden ausgesprochenen Willen des Unterhauses haben die Pairs stets nachgegeben, teils aus angeborener Mäßigung, teils bestimmt durch den Einfluss der Krone, teils durch ein äußerstes Zwangsmittel, welches im Hintergrunde liegt. Da nämlich die Krone stets neue Pairs ernennen kann, und da sie dies Recht nur durch Minister übt, die mit der Minorität des Unterhauses übereinstimmen, so kann im äußersten Falle durch Kreierung neuer Pairs eine Minorität geschaffen und die Harmonie der sogenannten drei Gewalten künstlich hergestellt werden; — ein Sicherheitsventil der Verfassung, welches jedoch nur einmal, bei Gelegenheit der Reformbill, geöffnet worden ist. Dies ist die praktische Bedeutung des königlichen Ernennungsrechts.


2) In der Militärverfassung hat das Unterhaus stets die direkte Unterordnung des stehenden Heeres festgehalten. Würde die jährliche Genehmigung dazu einmal verweigert, so würde die Soldzahlung, so wie die Unterwerfung unter die Disziplinargesetze (Mutiny Bill) aufhören, und das Heer ipso facto aufgelöst sein. Ferner bildet ein Gegengewicht die Landwehr oder Grafschafts-Mi1iz. Sie besteht überwiegend aus Mittelklassen, im Sinne der neuen Gesellschaft, die Reiterei durchweg aus wohlhabenden Leuten. Den Oberbefehl führt der Lord-Lieutenant der Grafschaft, d. h. ein Lord oder Grundherr, welcher dem König alle Offiziere vorschlägt. So unvollkommen diese englische Landwehr für den wirklichen Kriegsdienst, so ausreichend ist sie seit fünf Jahrhunderten gewesen für den inneren Landesdienst. Die Kämpfe zwischen Carl und seinem Parlament wurden Jahre lang nur mit Milizen geführt; bis die republikanische Partei ein stehendes Heer schuf, und damit dem Kriege, zugleich aber auch dem Königtum und der Verfassung ein Ende machte. Die Restauration löste diese Armee auf und setzte die Gentry in ihre früheren Rechte wieder ein: unverändert blieb aber seitdem die Eifersucht gegen das stehende Heer. Auflösung der Landwehr mit Beibehaltung des stehenden Heeres erscheint von Lesern Standpunkte aus als eine Bewaffnung der besitzlosen Klassen gegen den Besitz, — als eine Napoleonische Idee. Trotz der insularischen Lage hat die englische Gentry niemals ganz die Waffen aus den Händen gelegt

3) In der Zentralverwaltung sind alle höchsten Civilämter zunächst durch Mitglieder des Parlaments besetzt. Auch die Geistlichkeit der Staatskirche ist ein Teil des Beamtenorganismus. Die Richterstellen werden besetzt aus den Gentlemen der Advokateninnung. Die Richter der ordentlichen Gerichtshöfe beziehen ein Amtseinkommen von 30 — 60,000 Thlr. jährlich; und dennoch bringen die dazu berufenen Advokaten häufig ein Geldopfer, da sie ein höheres Einkommen aus ihrer Praxis schon hatten. Selbst der kleinste Polizeirichter und Kreisrichter bezieht mindestens 7000 Thtr. Gehalt. Auch die Gerichtsschreiber sind zum Teil höher besoldet, als unsere Obergerichts-Präsidenten, und gehen meistens aus der Innung der Anwälte hervor, die zum großen Teil auch in die Klasse der Gentry hineinreicht Wie die Advokaten die Pflanzschule des höheren, so sind die Anwälte die des niederen Beamtentums.

4) In der Grafschaftsverfassung sind die Hauptbeamten die Friedensrichter als die regelmäßigen Organe der Polizei („Friedensbewahrer“). Die Polizei hat aber in England richterlichen Charakter und richterliche Geschäftsformen beibehalten, also namentlich auch die Öffentlichkeit Nach 34 Edw. III. c. 1. sollen in jeder Grafschaft ein Lord, drei oder vier der angesehensten Männer und ein Rechtsgelehrter zu Friedensrichtern bestellt werden. Nach 13 Rich. II. c. 7. sollen sie aus den wohlhabendsten Rittern, Honoratioren und Rechtsgelehrten erwählt werden. Nach 18 Henry VI. c. 11. sollen sie wenigstens einen Grundbesitz von £ 20 Rente haben; nach 5 Geo. II. c. 17. £ 100 Grundrente. Auch müssen sie in der Grafschaft ansässig sein. Dieser Census bildet eine Beschränkung für das Ernennungsrecht der Krone. Überdies werden sie durch die nach dem Herkommen lebenslängliche Berufung und durch den Vorschlag des Custos Rotulorum, Lord -Lieutenants, und in letzter Instanz des Lordkanzlers, unabhängig von den Parteischwankungen des Parlaments. Ob im Parlament eine Whig- oder Tory-Verwaltung herrscht, ist in der Gerichts-, Grafschafts-, und damit so ziemlich in der ganzen inneren Landesverwaltung kaum zu bemerken.

Eine Übersicht der Zahl der Friedensrichter im Jahre 1843 gibt Dodd Manual of Dignities pag. 552 — 555. Es sind danach in England und Wales 13754; darunter 2545 zugleich höhere Offiziere der Miliz (Deputy-Lieutenants). In den einzelnen Grafschaften wechselt die Zahl von etwa 100 bis 300. Nur Gloucester hat 325, Kent 309, Middlesex und Westminster 643, Northampton 379, York 723; dagegen Rutland nur 35, Huntingdon 72, Westmoreland 78, Monmouth 99 u. s. w.

Die allgemeinen Grafschaftsangelegenheiten, Correctionalgerichtsbarkeit, Beschwerdesachen und Appellationen werden in den Generalsitzungen erledigt; für die mehr lokalen Angelegenheiten zerfällt die Grafschaft in eine Anzahl von Kreisen, in welchen Special- und kleine Sitzungen zu diesem Zweck gehalten werden.

Für die übrigen Verwaltungsgeschäfte der Grafschaft ist der wichtigste Beamte der Sheriff. Er besorgt die Vollstreckung der gerichtlichen Dekrete, Vorladungen, Insinuationen, Anlegung von Arresten, Annahme von Kautionen, Bildung der Geschwornenlisten, Ladung der Geschwornen, Vollstreckung der Civilexecutionen und der Strafurteile, Aufbewahrung der Verhafteten. Er hat ferner confiscirte, erblose Güter, Geldbußen und Sporteln für Rechnung der Krone einzuziehen. Mit einem Wort: es sind den Sheriffs übrig geblieben die Verwaltungsgeschäfte unserer deutschen Gerichte außer der Urteilssprechung. Da bei der Centralisation des englischen Gerichtswesens unsere stehenden Untergerichte fehlen, so tritt der Sheriff in den administrativen Geschäften an deren Stelle. — Für alle diese Geschäfte ist nun aber der Sheriff, abgesehen von seiner Verantwortlichkeit, ein bloßer Name: die pracsische Leitung der Geschäfte besorgt der von ihm ernannte Untersheriff, gewöhnlich ein Anwalt. In den einzelnen Kreisen werden sodann Vicesheriffs, Deputy- und Bound-Sheriffs, so wie zahlreiche Baillifs und andere Unterbeamte für das Einzelne ernannt. Die Verwaltung dieser Geschäfte geschieht meistens gegen Sporteln und ist nichts weniger als musterhaft. Die Stellung des Sheriffs hat nur den Sinn, dass die ausübenden Ortsbeamten nicht von dem Ministerium, also nicht gerade von der herrschenden Partei ernannt werden, und dass sie keine gesonderte Klasse von besoldeten Beamten bilden.

5) Corporationen und Privatvereine übernehmen in England mancherlei Funktionen, welche nach unseren Begriffen dem Staat gehören, wie das Medizinalwesen, ganze Zweige das Unterrichtswesens u. s. w. So steht das ganze Medizinalwesen unter Verwaltung der Assoziationen der Ärzte, Chirurgen und Apotheker; d. h. nicht der Staat ernennt die leitenden Mitglieder, sondern Diejenigen, welche die größte Praxis und Einnahme, also das größte Ansehen haben, gehen von selbst als die leitenden Mitglieder aus der Association hervor. Bei Vereinen, die auf Beiträgen beruhen, ist das Übergewicht des größeren Besitzes noch stärker.

In diesen fünf Punkten besteht nun aber im Wesentlichen Das, was wir Staatsgewalt nennen: die ganze Staatsgewalt ist also materiell in den Händen der Gentry. In ihr konzentrieren sich die Gewalten unserer Landräte, Regierungen, Polizeidirektoren u. s. w.; es gibt keinen Punkt des Staatslebens, an welchem nicht die Gentry als das leitende Element wiederkehrte.

Nur in der Gerichtsverfassung hat die Mäßigung und der Rechtssinn der besitzenden Klassen die Teilnahme aller staatsbürgerlich Berechtigten beibehalten. Die große Jury wird allerdings nur ans der Gentry gebildet; sie entscheidet aber nur die Vorfrage, Anklage. Die Urteilsjuri dagegen für die definitive Entscheidung der Tatfrage besteht grundsätzlich aus allen Klassen. Durch das Anklagerecht in Strafsachen ist die Verfassungsmäßigkeit aller Regierung bedingt; eben deshalb hält die Gentry so eifersüchtig das Institut der Anklagejury fest, trotz anerkannter Mängel.

6) Die Bedeutung des Besitzes für die parlamentarischen Verfassungen.

Die Hauptschrift über diesen Gegenstand ist:
L. Stein, der Begriff der Gesellschaft und die Gesetze ihrer Bewegung. Einleitung zur Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich. 1. Band. 1850.

Wegen des Mangels an Einsicht in die gesellschaftlichen Grundlagen des Staats sind allerdings die politischen Erörterungen der Gegenwart zum großen Teil unfruchtbar. Die deutsche Bildung wird indessen diesen Mangel sicherlich bald heben. Da in dem Beamtenstaat die Ansprüche und Interessen der einzelnen gesellschaftlichen Klassen sich nicht geschlossen geltend machen können, so war bisher für uns keine Gelegenheit, diese Gegensätze zum Bewusstsein zu bringen.

In England sind die Verfassungskämpfe seit den Stuarts, praktisch betrachtet, Kämpfe zwischen dem Besitz und dem Beamtensystem gewesen. Allerdings haben auch diese „freien“ Verfassungen ein ausgebildetes Beamtensystem; allein die obrigkeitlichen Ämter selbst sind nur in den Händen der herrschenden Klasse, und das Prinzip der Verantwortlichkeit unterwirft jeden Beamten der konzentrierten Gewalt der Gentry im Parlament, welches in der englischen Verfassung zugleich das höchste Reichsgericht für die verantwortlichen Beamten bildet

Politische Freiheit heißt Herrschaft der Gentry über das Beamtentum; Unfreiheit Herrschaft des Beamtentums über die Gentry: das ist der feste Sprachgebrauch des heutigen Organs der englischen Gentry, der Times.

Der Engländer ist zu praktisch, um sich eine Monarchie denken zu können, von welcher unsere Idealisten träumen, in welcher ein erleuchteter Regent wirklich den Staat verwaltete. Absolute Monarchie ist vielmehr der reine Beamtenstaat in welchem durch das feste traditionelle Verwaltungssystem und durch den Corporationsgeist des Beamtentums (meistens verwachsen mit sozialen Vorzügen einzelner Klassen) der Regent in seinem persönlichen Willen oft mehr gebunden ist, als durch das mächtigste Parlament. Die, Bezeichnung „formelle Spitze eines Systems,“ im guten wie im schlimmen Sinne, gehört ebensowohl dem Beamtenstaat, wie der parlamentarischen Verfassung an. England hat daher der Diplomatie des Kontinents gegenüber nachdrücklich die Behauptung festgehalten, dass seine Könige so souverain seien, wie irgend ein Monarch der Erde; und es hat darin die Erfahrung für sich. In der entscheidenden Periode, als es auf ein persönliches Eingreifen des Regenten ankam, in dem Jahrhundert der Tudors, war das Königtum in England allmächtig, trotz seiner Parlamente; während m Frankreich das Königtum durch den absoluten Beamtenstaat im entscheidenden Augenblick neutralisiert und ohnmächtig war, trotz des redlichen Willens Ludwigs XVI.

Die hier gegebene Untersuchung hat übrigens nur den ausdrücklich und wiederholt ausgesprochenen Zweck, nachzuweisen: unter welchen Bedingungen der Mäßigung, der Gerechtigkeit und des Gemeinsinns innerhalb der besitzenden Klassen freie Verfassungen entstehen und bestehen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Ueber Adel und Ritterschaft in England.