Tierkatastrophen in Vergangenheit und Gegenwart

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1929
Autor: Raoul H. Francé, Erscheinungsjahr: 1929

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Massengräber, Fossilien, Tier- und Pflanzenreste, Kohle, Katastrophen,
Wenn man von München über Thüringen nach Berlin reist, leitet die Bahn an einem Punkt vorbei, von dessen einzigartiger Weltbedeutung im Naturbild wohl nur die wenigsten Reisenden eine Ahnung haben. Das ist die sogenannte Bohlenwand bei Saalfeld, eine nicht allzu hohe Felsenwand, wie sie im Thüringer-Wald-Gebirge nicht selten sind. Man muss erst genauer Hinsehen, um ihre Besonderheit zu erkennen. Sie besteht nämlich aus zweierlei Schichtungen. Die einen sind in mächtigen Wellen aufgetürmt wie ein wogendes Meer, rot und schieferdunkel, die andern aber liegen über ihnen ganz ruhig, waagrecht, als ein bleicher fester Kalk, der gleichsam wie ein steinerner Grabdeckel eine uralte Geschichte abschließt. Sogar dem ganz Naturunkundigen wird bei diesem seltsamen Anblick klar, dass sich hier etwas ganz Besonderes zugetragen haben muss, und so ist es auch. Die roten aufgefalteten Stümpfe der Bohlenwand sind um viele Jahrtausende älter als die helle Kalkschicht über ihnen. Sie sind die Reste eines uralten Steinkohlengebirges, einer Alpennatur vor der unseren, einer unfassbar gewaltigen Riesenbergwelt, von der man annimmt, dass sie fast die Höhe des Himalajas hatte, aber eine weit größere Ausdehnung, denn sie reichte, nach ihren abgetragenen Resten zu urteilen, etwa von Russland durch ganz Europa, vielleicht sogar bis Amerika.

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Dieses Gebirge stand mit Schneegipfeln, Gletschern, Riesenwäldern Jahrtausende lang zu Erdzeiten, in denen es noch keinen Menschen gegeben hat. Sonnenglut, Frost, Wind und Wetter brachen davon eine stolze Felswand nach der andern, so wie sie heute die Alpengipfel verwittern und erniedrigen, und nach ungemessenen Zeiten standen nur mehr Ruinen, niedrige Stümpfe von dem mächtigen Bau. Eben jene, von denen an der Bohlenwand heute noch etwas sichtbar ist. Und dann kam das Meer, stand hoch über der Gebirgsruine, warf seine Wellen und lagerte seinen Kalkschlamm, eben jenen, der so waagrecht als erhärteter zäher Kalkstein über den Bergkuppen liegt.



Wie ein Märchen klingt derartiges, und eine Wissenschaft, die solches behauptet, mutet an wie Romanphantasie. Aber dennoch ist dieses Wissen ganz zuverlässig, denn es gibt einen unantastbaren Beweis, dass der waagrechte Kalk, der „Zechstein“ der Bohlenwand, aus dem Meere stammt. Im Zechstein sind nämlich zahllose Meeresfische eingeschlossen, ausgerechnet Heringe, zu Millionen wunderbar erhalten, oft mit metallischem Kupfer inkrustiert, so dass man mit diesen „Kupferheringen“ des Zechsteins einen ganzen Handel eröffnet hat. Und da stehen wir vor dem zweiten großen Unverständlichen, das uns die Natur unserer Heimat aus ihren ältesten Tagen her aufzulösen gibt. Warum sind gerade an der thüringisch-sächsischen Grenze so massenhaft vorweltliche Heringe zusammengeschwemmt? Warum finden sich Tier- und auch Pflanzenreste der Urwelt überhaupt oft in so unglaublichen Mengen? In der Eifel gibt es ganze Berge, die nur aus Korallen erbaut sind, viel massenhafter als es die Korallenriffe von heute zu leisten vermögen. Im Schwäbischen an vielen Orten, namentlich zu Holzmaden, liegen Tausende und aber Tausende von Vorweltdrachen auf ganz engem Raum beisammen versteinert. In ganz Süddeutschland bis in die Alpen sind an vielen Stellen Muschelkalkbänke aus der Vorwelt übriggeblieben, die aus zahllosen Tierresten geradezu bergehoch aufgehäuft sind. Im Becken von Paris, an gewissen Fundorten in Nordamerika oder in unserem einstigen köstlichen südwestafrikanischen Kolonialland hat man ganze Friedhöfe vorsintflutlicher Riesensäugetiere oder Echsen aufgedeckt, wo Hunderte der ungeheuren Tierleichen übereinander lagen wie auf einem Schlachtfeld.

Das erscheint ganz rätselhaft, angesichts der gemeinbekannten Erfahrung, dass alle Tiere, wenn es zum Sterben kommt, sich gewöhnlich verkriechen und von ihren Genossen absondern. Wenn man in den unzivilisierten Teilen der Erde reist, findet man niemals in namhafter Zahl Reste von gestorbenen Tieren. Man muss sich sagen, dass in jener fernen Zukunft, in der die Lebendigen von heute einmal die Fossilien von morgen bilden werden, keine solchen Massengräber übrigbleiben können wie die, welche uns die Vorwelt hinterlassen hat. Hat sich denn die Schöpfung in diesem Punkt geändert? Waren vielleicht die Tiere der Urwelt viel zahlreicher als die Tiere von heute? Wird das Leben allmählich ärmer?

Solche merkwürdigen, weittragenden Gedanken zwingen sich auf, wenn man vor einem der großen Fundorte von Versteinerungen steht, wie sie jede Landschaft dem Kenner an irgendeinem Punkt zu erschließen pflegt. Die Wissenschaft hat in den letzten Jahren über diese sehr wichtigen Fragen eifrigst geforscht und hält gegenwärtig zwei Antworten bereit, wenn man sie fragt: Hat es früher sintflutartige Katastrophen für die Tierwelt gegeben und gibt es sie heute nicht mehr?

Die eine Ansicht bekennt sich dazu, dass es wirklich den Eindruck macht, als sei in Bezug auf die Masse der Höhepunkt der Schöpfung überschritten. Solche Mengen pflanzlicher Stoffe, wie sie gleichzeitig da sein mussten, um die ungeheuren Steinkohlenflöze zu hinterlassen, gibt es heute nirgends auf Erden, selbst in den Tropen nicht. Einem derartigen Reichtum an Seetieren, wie er in gewissen Buchten des einstigen Jurameeres auf deutschem Boden aufgehäuft ist, begegnen wir derzeit nirgends.

Die andere Ansicht aber sagt noch Merkwürdigeres aus. Gerade neuestens verficht man mit guten Gründen die Meinung, auch heute fehle es nicht an Naturkatastrophen, durch die gleichzeitig Tausende und aber Tausende von Menschen und Großtieren begraben werden, die sicher einst in einer fernen Zukunft als Fossilien wieder ans Tageslicht treten und denselben Eindruck des Massengrabes machen werden, vor dem die Erdforscher von heute so oft erschüttert stehen.

Man erinnere sich nur an die fürchterliche Gaswolke, die im Jahre 1902 auf der westindischen Insel Martinique binnen wenigen Minuten zwanzigtausend Menschen mit allen ihren Haustieren tötete, worauf sie ein Aschenregen und Schlammstrom für immer begrub. Herzbeklemmend ist es, diesen Berg von Gestein zu sehen, der sich heute noch erhebt, wo eine blühende Stadt ihr frohes Leben entfaltete, und dabei zu wissen, dass da unten als Versteinerungen Tausende den kommenden Erdzeiten als Zeugen und Erinnerung an das Heute aufbewahrt sind.

Auch Überschwemmungen, Bergstürze, Orkane, Kälteeinbrüche und Hungersnöte schaffen in jedem Jahr große Friedhöfe des Lebens und dadurch zukünftige Fossilien.

Professor J. Weigelt, der einer der Hauptvertreter dieser Forschungen ist, macht zum Beispiel besonders auf die gefürchteten „Northers“ aufmerksam, die eiskalten Windströme, die von den Polargegenden bis nach Mexiko über ganz Amerika von Zeit zu Zeit brausend dahinfegen. In den Zeiten vor der Kultivierung der Vereinigten Staaten flohen vor diesen Eisorkanen Scharen von Tieren, Büffel, Hasen, Präriefüchse, in dichten Massen. Sie suchten nach Süden zu entkommen, fielen aber oft Hindernissen ihrer Flucht zum Opfer. Sie ertranken in Seen und Flüssen, stürzten in Felsspalten und wurden so vom Tod in Massen ereilt.

Diese Vorgänge der erdgeschichtlichen Gegenwart mögen auch die Massenfriedhöfe der Vergangenheit erklären. Manches, namentlich im Reiche der Meerestiere, mag sich auch so zugetragen haben, wie es heute noch an einem der merkwürdigsten Punkte des irdischen Lebens, nämlich der steil aus der atlantischen Tiefsee aufsteigenden unterseeischen „Flammenbarriere“ bei Neufundland, sich täglich und stündlich ereignet.

Dort ist doch der Punkt, wo die von zahllosen Klein- und Großtieren des kalten Polarmeeres belebten Wasser, die von Grönland nach Süden strömen, mit dem warmen Golfstrom Zusammentreffen, in dessen 20 bis 25 Grad lauen Fluten nur wenige Fische und größere Seetiere leben. Das Zusammenprallen der eiskalten mit der warmen Strömung hüllt jene Meeresgegenden in ununterbrochenen Nebel und Sprühregen. Dort ist der große Hexenkessel, aus dem das Schlechtwetter hervorbricht und mit dem herrschenden Westwind nach Europa wandert. Dort aber wirken die warmen Fluten wie ein feuriger Zaun, vor dem die Kaltwassertiere zurückprallen und sich aufstauen. Sie können im lauen Wasser, an das sie nicht angepasst sind, offenbar nicht gut atmen. Tausende und aber Tausende gehen an jener Linie zu jeder Stunde zugrunde und ein ununterbrochener Regen von Tierleichen rieselt an der Neufundlandbank in die dunklen unterseeischen Gründe. Wenn diese einst ihr Gestein dem Tageslicht offenbaren werden, werden zweifellos Hunderte und vielleicht tausende Meter dicke Schichten nur aus Tierresten bestehen. Das großartige Schauspiel der Längstvergangenheiten wird dort wenigstens immer noch aufgeführt. Vielleicht erklärt dieses Zusammentreffen zweier Meeresströmungen das Lebensrätsel der Urwelt. Jedenfalls aber stehen wir heute diesen merkwürdigen Dingen, den Tierkatastrophen in Vergangenheit und Gegenwart, nicht mehr so ratlos gegenüber wie noch die Wissenschaft zu unserer Väter Tagen.

Eine Muschelkalkbank der Zukunft. An den Küsten der Inseln im Korallenmeer herrscht ein solcher Lebensreichtum, dass ganze Hügel von Weichtierschalen aufgehäuft werden. Sie werden die Muschelkalkbänke der Zukunft bilden. Motiv von der Insel Baladea.

Fossilien der Zukunft. Die Bilder rechts und links zeigen inkrustierte Menschenknochen von Guadeloupe (Westindien), die man für „vorsintflutlich“ hielt, die aber von einer neuzeitlichen Vulkankatastrophe herrühren.
Die glühende Gaswolke, die St. Pierre auf Martinique zerstörte und zwanzigtausend Menschen begrub.

Fossilien der Zukunft, inkrustierte Menschenknochen von Guadeloupe einer neuzeitlichen Vulkankatastrophe 1

Fossilien der Zukunft, inkrustierte Menschenknochen von Guadeloupe einer neuzeitlichen Vulkankatastrophe 1

Fossilien der Zukunft, inkrustierte Menschenknochen von Guadeloupe einer neuzeitlichen Vulkankatastrophe 2

Fossilien der Zukunft, inkrustierte Menschenknochen von Guadeloupe einer neuzeitlichen Vulkankatastrophe 2

Die glühende Gasvolke, die St. Pierre auf Martinique zerstörte und zwanzigtausend Menschen begrub

Die glühende Gasvolke, die St. Pierre auf Martinique zerstörte und zwanzigtausend Menschen begrub

Muschelkalkbank der Zukunft

Muschelkalkbank der Zukunft