Tiedemann, Karl Ludwig Heinrich v. (unbekannt-1812) preußischer Major und russischer Oberstleutnant. Biographie

Allgemeine Deutsche Biographie Bd 38 (1894)
Autor: Poten, Bernhard von (1828-1909) Preußischer Oberst, Militärbiograph, Erscheinungsjahr: 1894
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Tiedemann: Karl Ludwig Heinrich v. T., preußischer Major und demnächst russischer Oberstlieutenant, ward am 3. April 1793 zum Fähnrich beim preußischen Infanterieregimente Nr. 55, damals v. Holwede und am 3. September 1794 zum Secondlieutenant ernannt. In dieser Eigenschaft gehörte er zu denjenigen Offizieren, welche Scharnhorst seit 1801 zu Berlin in den Kriegswissenschaften unterrichtete und zwar war er einer der Lieblingsschüler des Meisters. Als dieser am 27. März 1802 dem Könige die besten der von seinen Hörern eingelieferten Ausarbeitungen überreichte, waren die von Tiedemann darunter, und als er in einem vom 29. November 1803 datierten „Verzeichnis der Offiziere, welche sich in dem hiesigen Lehrinstitut durch Fähigkeit und Kenntnisse ausgezeichnet haben“ seine Schüler in vier Klassen teilte, zählte er zur ersten nur Clausewitz und Tiedemann; von ihnen sagt er: „zeichnen sich durch Fähigkeiten, Beurteilung, Fleiß und Kenntnisse ganz besonders aus. Die Folge hat gezeigt, daß er Recht hatte. Am 28. Januar 1806 rückte Tiedemann zum Premierlieutenant auf, am 12. April des nämlichen Jahres wurde er zum Stabskapitän von der Armee ernannt. Am Kriege von 1806/7 nahm Tiedemann als Generalstabsoffizier teil, eine am 30. August 1806 aufgestellte Liste der letzteren nennt als solchen „den interimistisch zu Generalstabsdiensten angestellten Stabskapitän der Armee v. Tiedemann.“ bei dem westpreußischen Corps des Herzogs Eugen von Württemberg; ein späterer, aber vor Beginn der Feindseligkeiten, von Scharnhorst unterzeichneter „Vorläufiger Entwurf zur Verteilung der Generalstabsoffiziere bei den Divisionen“ sagt, daß Tiedemann zum Dienste des Generalstabes bei der Armee gebraucht werden könne, er sei beim Reservecorps überflüssig, weil dort schon vier Generalstabsoffiziere vorhanden wären. Im Juni 1807 befand Tiedemann sich als solcher beim russischen General Kamenskoi, dem Führer der Reservedivision des L’Estocq’schen Corps. Diesen bestimmte er am 8. Juni in Mehlsack auf eigene Verantwortung Bennigsen, der eine Schlacht annehmen wollte, zu Hilfe zu eilen, und demnächst vermochte er, in Verein mit Grolman, Kamenskoi, sowie Grolman’s Vorgesetzten, den General v. Rembow, mittelst verwegenen Gewaltmarsches rechtzeitig die Walstatt von Heilsberg zu erreichen. Auch auf letzterer bewährte er sich. Am 19. Juli 1807 ward er wirklicher Kapitän, am 20. Oktober 1809 Major. In der Zeit der Wiederaufrichtung Preußens nach dem Tilsiter Frieden war Tiedemann einer der tätigsten und einsichtigsten unter den Vorkämpfern für die im Heerwesen zu schaffenden Neuerungen und einer von denen, welche sobald als möglich wieder zum Schwerte zu greifen wünschten. Tiedemann gehörte zu den Eingeweihten und zu den Vertrauten der leitenden Staatsmänner. Schon im Herbst 1808, als Österreich zwischen Krieg und Frieden schwankte, war er mit einer Sendung zum Grafen Götzen in Schlesien und nach Wien beauftragt, welche Preußens Stellungnahme betraf (M. Lehmann, Knesebeck und Schön, Leipzig 1875, S. 52). Als am 15. Oktober 1810 die Kriegsschule zu Berlin, die Vorgängerin der jetzigen Kriegsakademie, eröffnet wurde, lehrte Tiedemann dort Taktik und Strategie, auch war er Mitglied der Studiendirektion der Anstalt. 1811 begleitete er Scharnhorst auf seiner russischen Reise. Dieser wünschte Tiedemann zum Nachfolger von Boyen, der, als Preußen 1812 auf die Seite Frankreichs trat, nach Russland ging, an die Spitze der 1. Division des Allgemeinen Kriegsdepartements treten zu sehen, damit diese hochwichtige Stellung ein ganz zuverlässiger und im Sinne der franzosenfeindlichen Partei wirkender Offizier erhielte, aber Tiedemann war entschlossen, ebenfalls nicht in der preußischen Armee zu bleiben, wenn diese dem Kaiser Napoleon Heeresfolge leisten würde. Tiedemann erbat seinen Abschied, welcher ihm am 8. Mai 1812 bewilligt ward, trat in russische Dienste, wurde zum Oberstlieutenant ernannt und dem Gouverneur von Riga, General Essen, beigegeben. Es war eine unerquickliche Verwendung, denn sie stellte ihn seinen eigenen Landsleuten gegenüber und verleitete ihn, im Gefechte bei Schlock am 5. August unter dem Schutze der Parlamentärflagge eine Abteilung der letzteren zum Verlassen ihrer Fahne und zum Eintritte in die russisch-deutsche Legion aufzufordern, wodurch er mit Recht Yorck’s Zorn und das Missfallen seiner früheren Kameraden erregte. Boyen, der ihn in seinen „Erinnerungen“ einen der edelsten und bestunterrichteten Officiere des preußischen Heeres nennt, entschuldigt Tiedemanns Handlungsweise mit den eigentümlichen politischen Verhältnissen, welche damals vorlagen und bald nachher Yorck bewogen, einen Schritt ganz ähnlicher Art zu tun, wie er Tiedemann gegenüber verdammt hatte. Aber vergebens bemühte dieser sich um einen anderen Wirkungskreis, namentlich in den Reihen jener Legion hätte er sich einen solchen gewünscht. Tiedemann sollte die Zeit, in welcher diese vor den Feind kam, nicht erleben. Das Treffen bei Dahlenkirchen am 22. August 1812 brachte ihm den Tod. Ob er denselben auf der Walstatt gefunden oder ob er einige Tage nachher in Riga gestorben ist, steht nicht fest. Gneisenau beklagte tief sein Hinscheiden. – Tiedemann hat über die von ihm in Riga geübte Tätigkeit ein vom 20. Juni bis zum 20. August reichendes Tagebuch geführt, welches nebst einigen anderen, ihn betreffenden Schriftstücken durch Max Lehmann im Augusthefte 1877 der „Jahrbücher für die Deutsche Armee und Marine“ (Berlin) veröffentlicht ist.

Akten der preußischen Geheimen Kriegs Kanzlei zu Berlin. – M. Lehmann, Scharnhorst, Leipzig 1886-1887.