020. Mehl-Eiche

Auf der Straße von Hildburghausen nach Schleusingen kommt man durch die Stadtwaldung, und in dieser ist es nicht geheuer. Vor nicht gar zu langer Zeit ging eine alte Frau in jenen Forst ins Leseholz und als sie so recht im tiefen Walde war, sah sie unter einer ganz alten Eiche eine schlossenschleierweißgekleidete und totenbleiche Frau, die trug auf ihrer Schulter einen langen und schweren Sack voll Mehl, ruhte damit an der Eiche, und winkte der armen Frau, näher zu ihr hinzukommen, gab ihr auch zugleich mit Gebärden zu verstehen, sie möge ihr den Sack abnehmen. Die arme Alte aber hatte Angst und fürchtete sich, und sah wo anders hin — wie sie aber nun endlich wieder den Blick erhob, und nach der Eiche hinsah, war jene Frau verschwunden. Als nun die Alte nach Hause gekommen war, erzählte sie, was sie gesehen, ihrer Nachbarin, und diese sprach: Ei Nachbarin, wisst Ihr denn das noch nicht? Das ist ja die böse Müllersfrau gewesen, die bei ihren Lebzeiten das Getreide der armen Leute auf unbarmherzige Weise gemetzt hat. Da ist sie von einem Pöpelsträger, weil sie nach ihrem Tode gar zu gräulich spukte, in den Stadtwald getragen, und darin fest gebannt worden, und muss nun mit dem schweren Mehlsack umgehen, bis sie jemand findet, der ihr den Sack abnimmt, wodurch sie erlöst wird. Die Eiche, an der die schlimme Müllerin jedesmal ausruhen darf, heißt die Mehleiche.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Thüringer Sagenbuch