011. Die Stadt im Lautergrunde.

In der Richtung von Coburg nach Eisfeld zu liegt ein freundliches Tal, das ein Bächlein durchfließt, die Lauter genannt, darinnen liegen auch die Dörfer Unter- und Oberlauter, Tiefenlauter und die Lauterburg. Dort stand vor Zeiten eine große Stadt, in welcher lauter Freude wohnte, und kein Leid. Mag schon sehr, sehr lange her sein, dass solches goldene Zeitalter herrschte. Die Menschen, die in jener Stadt wohnten, waren alle zufrieden, es gebrach ihnen an nichts, sie waren ganz glücklich; und da geschah es, dass eines Jahres der Tag Allerseelen kam, an welchem die Kirche gebietet, Leid zu tragen um die Verstorbenen. In der glücklichen Lauterstadt aber war niemand gestorben, und ihre Bewohner sprachen unter einander: Was sollen wir ein Trauerfest begehen, da wir des keine Ursache haben, und keiner von uns Trauer hat? Lasset solches Fest uns nicht begehen! — Darauf aber fügte es Gott, dass ein Kindersterben unversehens sich anhub, und zwar mit so schrecklicher Gewalt, dass alle Kinder starben, fast in jedem Hause eine Leiche war und kaum Raum auf dem Kirchhofe für die zahllosen frischen Gräber. Da gab es Trauer in Fülle, herzzerbrechende, zermalmende Trauer, und Zug um Zug nach dem Gottesacker zu den offenen Gräberreihen. Und wie die Bevölkerung der ganzen Stadt droben stand auf dem Friedhof, und Millionen bittere Tränen flossen, da war es Nacht in allen Älternherzen, und dann wurde es Nacht vor aller Augen, und die Kirche sank und der Kirchhof sank, und alle die Gräber und alle Särge und alle die Leidtragenden sanken tief, tief hinab, auf dass alle die Letzteren ruhen sollten bis zum Allerseelentage der Auferstehung. So ward die glückliche Stadt eine öde Stätte, und was von ihr übrig blieb, das wurden lauter Dörfer. Am Allerseelentage aber hört man in der Tiefe die Glocken der versunkenen Kirche läuten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Thüringer Sagenbuch