Vorwort

Der Mann, dessen Lebensbild ich hiermit veröffentliche, hat sich nicht durch öffentliche Taten, weder als Staatsmann oder als Kriegsheld noch als Schriftsteller, weder als Erfinder kulturgeschichtlich wichtiger Maschinen noch als Begründer großartiger und dankbarer Gewerbe oder Handelsunternehmungen hervorgetan. Fern von dem lauten Getümmel des politischen, literarischen und industriellen Marktes, meistens in der tiefsten Zurückgezogenheit des Privatlebens, hat er sein Leben einem nach der Schätzung unserer materiellen Zeit jedenfalls undankbaren Berufe, der geistigen Bildung und Erziehung der Jugend gewidmet. Aber wenn dieser Beruf schon an und für sich zu den höchsten und segensreichsten gehört, wenn insbesondere eine fast ein halbes Jahrhundert hindurch mit unermüdlichem Eifer, mit den ausgezeichnetsten Fähigkeiten und Kräften fortgesetzte, mit dem reichsten Erfolge gekrönte Ausübung desselben vollen Anspruch auf öffentliche Anerkennung begründet, so verdient schon deshalb das Andenken an Theodor Müller, den Veteranen von Hofwyl, von dankbaren Zeitgenossen auf die Nachkommen fortgepflanzt und sein Name neben denen eines Pestalozzi, Girard, Fellenberg und L. Snell, zunächst in der Schweiz, stetsfort mit Dank genannt zu werden.

Ebenso jung wie der ebenfalls aus dem Norden Deutschlands stammende Heinrich Zschokke und durch keinerlei äußere Nötigung oder Rücksicht, sondern lediglich durch die Aussicht auf eine freiere und wirksamere Ausübung seines Berufes getrieben, vertauschte er seine erste Heimat Mecklenburg mit der Schweiz. Dieser hat er fast ebenso lang und noch ausschließlicher als jener seine Kräfte zugewendet, und die Schweiz, die Hauptstätte seiner stillen, aber darum nicht minder bedeutenden und gesegneten Tätigkeit, die wahre Heimat seines Geistes, das Vaterland seiner Wahl, darf ihn mit Stolz zu ihren Söhnen zählen. Im Jahr 1815 an die Hofwyler Erziehungsanstalt berufen, deren Grundsätze und Bestrebungen mit den seinen wesentlich übereinstimmten, harrte er daselbst, nur mit wenigen Unterbrechungen durch Fortsetzung seiner Studien in Heidelberg sowie durch vorübergehende Übernahme öffentlicher Lehrämter zu Basel und Murten, in der begeisterten Ausübung seines Berufes aus bis zur völligen Aufhebung der Fellenbergischen Institute im Jahr 1848. Von da an widmete er seine herrlichen, bis zur Todesstunde ungeschwächten Geisteskräfte teils der trefflichen Gladbach'schen Erziehungsanstalt in Wabern bei Bern, welche ihm ein „neues Hofwyl“ war, teils dem öffentlichen Schulwesen des Kantons Bern, um welches er sich bereits in den Jahren 1832 —1836 durch seine Mitwirkung an den Hofwyler Fortbildungskursen für Volksschullehrer verdient gemacht hatte. Er bewährte dem Staate, welcher ihm zu seiner Lieblingstätigkeit Gelegenheit bot, dieselbe unentwegte und aufopfernde Treue, mit welcher er sich dem Dienste der Idee Fellenbergs hingegeben hatte. Und er tat dies mit derselben Bescheidenheit und Selbstverleugnung, mit welcher er zu dem Rufe des Mannes, der Hofwyls Namen bis über den Ozean getragen, sein redlich Teil beigetragen hat.


Auch hatte er sich schon bei seinen Lebzeiten nicht nur im Kanton Bern, sondern in allen pädagogischen Kreisen der Schweiz eine so reine Anerkennung seiner Verdienste und Vorzüge erworben, dass weder in amtlichen Verhältnissen von Seiten der Behörden noch im Privatverkehr sein nichtschweizerischer Ursprung auch nur im entferntesten in Betracht gezogen oder geltend gemacht wurde. Und als er mitten in der Ausübung seines Berufes und infolge der damit zuletzt verbundenen außerordentlichen Anstrengungen am 23. Juli 1857 in seinem lieben Hofwyl nach einem schmerzhaften Leiden sanft entschlafen war, da wurde um ihn nah und fern so tief und allgemein getrauert, wie es Wohl selten bei dem Tode eines schlichten Schulmanns der Fall gewesen ist. Zeugnis davon gaben außer manchem tiefbewegten Nachruf in öffentlichen Blättern sein Leichenbegängnis und die am nächsten Jahrestage desselben bei Errichtung seines Grabdenkmals gehaltene Gedächtnisfeier zu Hofwyl.

Was dem Veteranen von Hofwyl eine so ungemeine Teilnahme erworben hatte, das war aber keineswegs bloß seine Berufstätigkeit. Wohl wurde es mit Recht als ein großer Verlust für die Wissenschaft, als ein noch größerer für die Schule bezeichnet, dass ein so reicher Schatz von gründlichen Kenntnissen und Einsichten, eine so seltene pädagogische Tüchtigkeit, erworben durch das redlichste Nachdenken sowie durch die Beobachtung und Erfahrung eines halben Jahrhunderts, mit Theodor Müller in die Gruft gesenkt worden war; es wurde um so mehr beklagt, da er bei seiner Bescheidenheit und seinem gänzlichen Mangel an persönlichem Ehrgeiz sich so selten und wenig dazu hatte verstehen können, als Schriftsteller in die Öffentlichkeit zu treten, sondern es vorzog, den Reichtum seines Geistes durch persönlichen Verkehr seiner jeweiligen nächsten Umgebung, Schülern, Freunden, Amtsgenossen und Behörden zugute kommen zu lassen. Was aber seinen Verlust für Alle, welche ihm näher standen, am empfindlichsten gemacht hat, das ist die ganze Persönlichkeit des ebenso liebenswürdigen als in seiner Sphäre bedeutenden Mannes, das originelle und gemütvolle Wesen, durch welches er ihre Herzen an sich gekettet, mit ihrer Achtung zugleich ihre innigste Anhänglichkeit erworben hatte, insbesondere der jugendliche Sinn, durch welchen er noch als Greis unter jüngern Männern und Jünglingen hervorleuchtete, der unerschöpfliche Witz und Humor, die unverwüstliche Heiterkeit, welcher er sich, harmlos und unbekümmert um splitterrichterliche Nachreden, nach getaner Arbeit in vertraulicher Gesellschaft hinzugeben pflegte und welche ihn sogar auf seinem letzten Schmerzenslager nicht verließ.

Natürlich, dass gleich nach dem Tode dieses Menschen — denn nichts als das wollte er sein — bei seinen Freunden und Verehrern allgemein der lebhafte Wunsch laut wurde, sein Andenken nicht nur durch Errichtung eines angemessenen Grabsteins zu feiern, sondern es auch durch eine möglichst vollständige und ausführliche Biographie für die Dauer zu sichern. Wenn die Erfüllung dieses Wunsches von verschiedenen Seiten her, insbesondere von den nächsten Freunden, mir ans Herz gelegt wurde, so geschah dies deshalb, weil ich, besonders während des letzten Jahrzehnts das Glück des vertrautesten Umgangs mit dem Hingeschiedenen genossen hatte und von seinem Haupterben in den Besitz seines ganzen schriftlichen Nachlasses gesetzt worden war. Auch war es mir ein wahres Herzensbedürfnis, auf eine dieser Aufforderung entsprechende Weise den Verkehr mit meinem verewigten Freunde im Geiste fortzusetzen, und so legte ich unverzüglich Hand ans Werk.

Um dem immer dringender sich äußernden Verlangen nach baldiger Veröffentlichung zu entsprechen, gedachte ich mich anfangs auf ein nur flüchtig skizziertes Lebensbild Theodor Müllers und zwar insbesondere auf die Darstellung seines Lebens in der Schweiz zu beschränken. Aber im Verlaufe der Beschäftigung hiermit erfuhr mein Plan eine bedeutende Erweiterung. Ich musste je länger je mehr erkennen, dass hier ein Stoff vorliege, welcher, vollständig ausgebeutet und angemessen verarbeitet, nicht nur bei Bekannten und Freunden, sondern auch in weitern Kreisen ein bedeutendes und mannigfaltiges, insbesondere psychologisches und kulturhistorisches Interesse zu erwecken geeignet sei.

Theodor Müller war der echte Typus eines Deutschen im weitesten Sinne, ein wahrer Universal-Deutscher. Mit dem scharfen und feinen Geiste, dem Verstand und Witz des Norddeutschen verband er die Gemütlichkeit des Süddeutschen sowie die Gesinnungstüchtigkeit und den praktischen Sinn des Schweizers. Und dieser seltene Komplex von Grundzügen deutschen Wesens war durchdrungen von einem ungemeinen Reichtum individueller Eigentümlichkeiten, um derentwillen er nicht nur allgemein als ein Sonderling galt, sondern sogar vielen seiner nähern Bekannten und Freunden ein psychologisches Rätsel war. Bei seinem urgermanischen, an Trotz streifenden Unabhängigkeitssinn war er zugleich der hingebendste und nachgiebigste Freund, bei einer außerordentlichen natürlichen Reizbarkeit, welche ihn besonders in seinen jüngern Jahren nicht selten bis zum Jähzorn fortriss, war er im Grunde die sanfteste, weichste, versöhnlichste und liebevollste Seele von der Welt, der heftigste, hartnäckigste Eiferer oder Spötter und zugleich der mildeste, nachsichtigste Beurteiler und Richter. Zerfahrenheit und strengste Sammlung seines Geistes zu wissenschaftlicher und pädagogischer Tätigkeit — Verschmähung aller äußern Autorität, unbedingte Freiheit des theologischen Denkens und Forschens und tiefe, lebendige Religiosität — frivoler Schein und heiliger Ernst des Strebens — kynisches Gebaren und Reinheit der Gesinnung — Regellosigkeit und unverbrüchliche Gewissenhaftigkeit in Ausübung seines Berufes — Ungebundenheit und Scheu, Rücksichtslosigkeit und Verlegenheit im geselligen Verkehr — kurz eine Menge zum Teil unverträglich scheinender Gegensätze traten in seinem Leben dicht neben einander hervor. Und trotz alledem war er ein ganzer, scharf und rein ausgeprägter Charakter, innig eins mit sich selbst, fest in sich zusammengeschlossen und abgerundet.

„Dies Leben bedarf einer Aufklärung“,*) und es verdient sie.

Aber nicht nur in psychologischer Hinsicht schien mir ein ausführlicheres und die Entwicklung eines so eigentümlichen Charakters möglichst aufklärendes Lebensbild der Mühe zu lohnen und allgemeinere Teilnahme zu verdienen. Die vollständige Lösung des psychologischen Rätsels enthielt zugleich den Anlass, ja die Nötigung, das Bild des Einzellebens mit einem umfassenderen kulturhistorischen Gesamtbilde zu vereinigen, jenes diesem einzufügen oder dieses jenem zum Hintergrunde zu geben. Bei einem Manne, der weder durch Worte noch durch Taten unmittelbar in das öffentliche Leben eingegriffen hat, mag dieser Ausspruch von vorn herein kaum glaublich und der Versuch ihn zu verwirklichen ein Wagnis scheinen. Ich selbst kann die Außergewöhnlichkeit, vielleicht darf ich sagen die Neuheit dieses Versuchs nicht in Abrede stellen, und doch habe ich ihn wagen zu müssen geglaubt.

*) Mit dieser treffenden Bemerkung eröffnete Ed. Dürre zwei Monate nach Theodor Müllers Tode eine Reihe interessanter Mitteilungen aus dessen Leben in der allgemeinen deutschen Lehrerzeitung (1857. Nr. 39).

Theodor Müller war bei aller Originalität seines Wesens doch ein echtes Kind seiner Zeit. Er hatte den offensten Sinn für alle höheren Interessen seines Vaterlandes und der gesamten Menschheit; alle bedeutendem Ideen, welche in der politischen, sozialen und religiösen, in der künstlerischen, wissenschaftlichen und pädagogischen Sphäre seine Zeit bewegten, machten auf ihn den stärksten Eindruck und wirkten mit zur Bestimmung seines Wesens; alle geschichtlichen Vorgänge und Zustände der von ihm durchlebten Jahrzehnte verfolgte er mit seiner lebhaften Sympathie oder Antipathie, und in jener wie in dieser spiegelte sich der Geist feiner Zeit anschaulich und lebendig, wenn auch mit starker individueller Färbung, ab. Bei diesem innigen Zusammenhang des allgemeinen und des individuellen Geistes bedurfte es der Zeichnung eines geschichtlichen Hintergrundes, um das Einzelleben in seinem Werden zu verdeutlichen und in das rechte Licht zu stellen, und während hierdurch die Biographie des bescheidenen Privatmannes ein über den Kreis seiner Freunde und Bekannten hinausreichendes Interesse zu erhalten versprach, konnte sie hinwieder dazu dienen, von dem Geiste der Zeit ein anschaulicheres und lebendigeres Bild zu geben. Eine solche Erweiterung und gegenseitige Hebung des Interesses für Allgemeines und Individuelles durch die Verflechtung geschichtlicher Zustände und Vorgänge von umfassender Bedeutung mit den persönlichen Verhältnissen, den Ansichten, Gesinnungen und Bestrebungen, Erlebnissen und Leistungen eines einzelnen Menschen erschien mir bei dem vorliegenden Stoffe als ein so wohlberechtigtes und des verstorbenen Freundes würdiges Ziel, dass dadurch gewisse theoretische Bedenken, welche bei mir selbst sowie bei einigen zu Rate gezogenen Freunden dagegen auftauchten, bald überwunden wurden.

Als Volksredner und Volkslehrer ein Heros der Geschichte zu werden, dazu fehlte bei Müller, wenn auch nicht die innere Fähigkeit, doch die Öffentlichkeit und Größe des Wirkungskreises, welchen er sich frei und nach innigster Überzeugung gewählt hatte. Seine Haupttätigkeit beschränkte sich auf das in engern Kreisen gesprochene Wort. Wie aber könnten öffentliche Redner und Lehrer des Volkes wirken, wenn sie die Geister, auf deren Bildung und Lenkung ihr Wort hingerichtet ist, nicht schon in gewissem Grade vorbereitet fänden? Sprechen wir darum den Männern, welche zunächst in engern Kreisen durch ihr Wort die Geister vorbereitet haben, nicht ihr Verdienst und ihre geschichtliche Bedeutung ab, weil ihre Wirksamkeit eine mehr mittelbare und stille war. Ein solcher Mann war Theodor Müller. „Wer begreift nicht — so ruft Ed. Dürre (a. a. O.) ihm nach — dass er auch in seine jüngeren Schüler Keime zu legen wusste, die später in der Welt zu herrlichen Erkenntnisfrüchten führten! Und wie viel Samen muss der Mann, der 67 Jahre alt gestorben, während eines vierzigjährigen Wirkens in die Herzen der Schüler gestreut haben! Es muss sein Lebenstrost gewesen sein, dass er, statt ein berühmter Gelehrter zu werden, wozu er wohl reichliches Zeug hatte, ein wahrhafter „Schulmeister von Gottes Gnaden“ blieb.“

Auch in diesem Sinne, nicht bloß als bewirkt, sondern auch als wirkend, ist Müllers Leben inniger und mehrfacher, als bis jetzt in weitern Kreisen bekannt geworden, in die Geschichte seiner Zeit verflochten. Um so mehr habe ich mich für berechtigt, ja für verpflichtet gehalten, die Darstellung desselben mit der Darstellung allgemeinerer Zustände, Bestrebungen und Taten zu verbinden. Wie lebhaft und tätig Müller an den der Kulturgeschichte angehörigen Bestrebungen und Leistungen Fellenbergs teilgenommen, ist in der Schweiz wenigstens ziemlich allgemein bekannt. Dagegen dürfte es gerade hier zu Lande die meisten Lehrer überraschen, in den ersten Teil seiner Biographie, welcher sein Jugendleben bis zu seinem Eintritt in Hofwyl (1815) enthält, ein Stück Weltgeschichte, eine Skizze nicht nur literar- und kulturgeschichtlicher, sondern auch politischer Zustande und Begebenheiten jener Zeit eingeflochten zu finden. Und doch war dies unentbehrlich zur Verständigung und Verdeutlichung seines Lebens- und Charakterbildes. Müller stand während seiner Universitätsjahre als Mitglied der Jenaer Vandalia so recht in der Mitte der geistigen Bewegung, aus welcher die so ungemein lebhafte, wichtige und ruhmvolle Teilnahme der akademischen Jugend Deutschlands an der Befreiung ihres Vaterlandes von der Napoleonischen Gewaltherrschaft und die hieran sich anschließende Stiftung der Jenaer und der allgemeinen deutschen Burschenschaft hervorging, und er ist damals als Patriot in ähnlicher Weise wie nachmals zu Hofwyl als Pädagoge tätig gewesen. Dass die damalige politische Bewegung der Geister sich innigst mit derjenigen berührt, welche sich gerade jetzt wieder in Deutschland kundgibt, das ist in Bezug auf die Ausführung des ersten Teiles der Biographie als ein reiner Zufall anzusehen, und jeder unbefangene Leser wird dem Biographen das Zeugnis geben, dass er sich von der Verfolgung einer politischen Tendenz fern gehalten hat. Sofern jedoch dieser Zufall geeignet ist, das Interesse an Theodor Müllers Jugendgeschichte zu steigern, muss er ihm ebenso willkommen sein wie der Umstand, dass die vorjährige Säkularfeier die Aufmerksamkeit der gebildeten Welt neuerdings in gesteigertem Maße der Universität Jena zugewendet hat, aus deren Geschichte den ohne Zweifel interessantesten und wichtigsten Abschnitt darzustellen diese Biographie nicht nur Gelegenheit darbot, sondern geradezu aufforderte. Sollte man finden, ich habe eben diesem Abschnitt eine beziehungsweise zu große Ausdehnung gegeben, so werde ich diesen Vorwurf ruhig hinnehmen, wenn man nur das von dem Jenaer Leben entworfene Gesamtbild an und für sich nicht misslungen findet und, wie ich hoffe, hinterdrein seine Bedeutung für Müllers Lebensgeschichte nicht vermisst. Habe ich die Biographie des bescheidenen Privatmannes in der Absicht, ihr ein allgemeineres Interesse zu verleihen und hierdurch das Andenken des dahingeschiedenen Freundes mehr nach Verdienst zu ehren, über die gewöhnlichen Grenzen hinaus zu einem kulturgeschichtlichen Zeitbild erweitert, so wird das Urteil über die Berechtigung dazu am Ende doch davon abhangen, ob ich es auf Kosten oder unbeschadet der Einheit getan, ob ich den innern Zusammenhang zwischen dem allgemeinen und dem individuellen, dem sachlichen und dem persönlichen, dem geschichtlichen und dem biographischen Inhalt gewahrt oder aber über Gebühr gelockert, wohl gar aufgehoben habe. Ein zeitweiliges Überwiegen des Interesses an den Bestandteilen der einen oder der andern Art ließ sich dabei kaum vermeiden. Ob ich nun dieses Wechsels willen mehr den Dank oder die Missbilligung der Leser verdient habe, muss ich dahin gestellt sein lassen. Vermutlich werde ich dafür bei den einen diese, bei den andern jenen einernten. Dessen aber bin ich gewiss: wenn hier und da, wie namentlich in den Abschnitten, welche die Blütenzeit Jenas darstellen, die Hauptperson der Biographie eine Zeit lang ganz von dem Schauplatz verschwindet, so werden am allerwenigsten die Manen Theodor Müllers es sein, welche mir darob zürnen. Ja ich höre im Geiste den bescheidenen Freund schelten, dass ich seinen Namen unter die Leute gebracht und um seinetwillen den Pressbengel missbraucht habe, welchen in Bewegung zu setzen er selbst sich nur allzu sehr scheute. Möchten die Überlebenden mir die Absolution dafür erteilen, dass ich mit der Ausführung seiner Lebensgeschichte seinem Willen zuwidergehandelt habe; von Seiten seiner Freunde, Schüler und Verehrer darf ich es zuversichtlich erwarten.

Mögen dieselben mir es auch nicht zur Last legen, dass ich mein Versprechen nicht eher erfüllt habe und auch jetzt nur zum Teil erfülle. Die Durchführung des in der bezeichneten Weise erweiterten Planes, welchem sie selbst ihre Billigung gaben, stieß auf Schwierigkeiten und Hindernisse, welche ich beim besten Willen nicht in kürzerer Zeit überwinden konnte. Um den psychologischen Teil meiner Aufgabe zu lösen, musste ich bis auf die ersten Lebensjahre zurückgehen und namentlich über die Einwirkungen des elterlichen Hauses und der Schule auf den Knaben und angehenden Jüngling mir möglichst volles Licht zu verschaffen suchen. Nur dort waren die Keime zu finden, aus welchen ein so eigentümlicher, ja absonderlicher Charakter sich entwickeln konnte. Von diesen aber hatte ich anfänglich nur wenige und zum Teil nicht hinlänglich sichere Spuren. Müller selbst war über sein früheres Leben, besonders über die Verhältnisse, in welchen er aufgewachsen war, wenig mitteilsam. Dies hatte seinen Grund nicht nur in der Diskretion, welche er, wenigstens in seinen spätern Jahren, hinsichtlich des Benehmens dritter Personen beobachtete, und in der Bescheidenheit, welche ihn seine Person und sein Leben zu geringfügig erscheinen ließ, sondern auch in der bis zu seinem Ende ungeschwächten Frische und Strebsamkeit des Geistes, welche bei ihm das dem Greisenalter so gewöhnliche Bedürfnis, an der Erinnerung zu zehren, nicht aufkommen ließ. So habe auch ich mit ihm mehr in der Gegenwart und Zukunft als in der Vergangenheit gelebt und ihn um so weniger zu ausführlichern und zusammenhängenden Mitteilungen über sein Jugendleben drängen mögen, je mehr ich mich an dem erlabte, was er gleichzeitig war und tat und anstrebte. Wissenschaftliche und politische Unterhaltungen sowie pädagogische Besprechungen, Entwürfe und Arbeiten füllten neben ästhetischen und gesellschaftlichen Genüssen fast allein die für mich so kostbare Zeit unseres persönlichen Verkehrs aus; von persönlichen Verhältnissen und Erlebnissen kamen meist nur solche zur Sprache, welche zeitlich nahe lagen. —

Von den an ihn gerichteten Briefen, welche sich sorgfältig nach der Zeitfolge geordnet in seinem Nachlass vorfanden, reichten zwar mehrere bis in sein siebzehntes Lebensjahr zurück und lieferten verschiedene interessante Beiträge zur Kunde von seinem damaligen Verhalten in der Schule und im Umgang mit Freunden; die Ausbeute war aber doch noch sehr mangelhaft; ich erhielt in manchen Punkten mehr Anregung zu Vermutungen als sichern Aufschluss, wie ich ihn zur Ausführung meines Planes nötig hatte. Zwar lernte ich aus Briefen und Stammbuchblättern die Namen mancher Gymnasial- und Universitätsgenossen kennen, deren Mitteilungen, wenn sie nur erhältlich waren, mir als die zuverlässigsten und ergiebigsten Quellen der Jugendgeschichte Müllers gelten mussten. Wie aber sollte ich bei so weiter Entfernung von seiner alten Heimat zu diesen Quellen gelangen? Wer mochte von den Jugendfreunden dermalen, nach einem halben Jahrhundert, noch leben, und wo mochten sie zu finden sein? — Schon war nach mehreren vergeblichen Nachforschungen meine Hoffnung tief gesunken, als die vorjährige Jenaer Jubelfeier mich endlich auf sichere Spuren führte. Zwar war ich selbst leider verhindert, den Festort zu besuchen; aber einer meiner hiesigen Kollegen, Herr Prof. K. Hagen, entsprach aufs bereitwilligste meiner Bitte, dort nach Müllers Jugendfreunden zu forschen. Und seine Bemühungen hatten den gewünschten Erfolg. Durch sie erhielt ich die Adressen des Herrn Pastor Horn zu Badresch in Mecklenburg-Strelitz und des Herrn Pastor J. U. Darjes zu Rethwisch bei Doberan, zweier Studiengenossen und vertrauten Freunde Müllers, welche sich zur Festfeier eingefunden hatten. Zugleich erfuhr ich durch meinen alten Freund und Universitätskameraden W. Kortüm, Domainenrat in Regensburg, dessen Aufenthaltsort mir ebenfalls infolge des Jenaer Festes wieder bekannt geworden war, dass Herr Heinrich Saur, welcher als Ratskellerwirt in Friedland 1814 und 1815 sehr lebhaft mit Theodor Müller verkehrt hatte, gegenwärtig als Domainenpächter in Klein-Nemerow bei Neubrandenburg lebe. Das waren gerade die Männer, nach deren Zeugnis mich am meisten verlangt hatte; gerade sie mussten mir, nach den hinterlassenen Briefen und Stammbuchblättern zu schließen, die sicherste und vollständigste Auskunft über die verschiedenen Abschnitte in Theodor Müllers Jugendleben erteilen können. Und sie haben es alle redlich getan, mit einer Bereitwilligkeit und Sorgfalt, welche von der liebevollen Anhänglichkeit an den seit länger als 40 Jahren ihrem Auge entschwundenen Freund ein ebenso rührendes als ihn und sie selbst ehrendes Zeugnis gibt. Die Mitteilungen, welche teils sie selbst aus ihrer eigenen und anderer Freunde Erinnerung, teils durch Herrn Pastor Horns Vermittlung, Frau Adelheid von Rieben auf Galenbek, geborene von Oertzen, eine Schülerin Müllers, und Herr H. von Michael auf Schönhausen bei Woldegk, Müllers Gefährte auf seiner Reise nach Hofwyl im Jahre 1815, mir gütigst zusandten, setzten mich in den Stand, im März dieses Jahres endlich die Ausführung der Biographie nach dem bezeichneten Plane zu beginnen. Außer ihnen habe ich für Beiträge zu Müllers Jugendgeschichte namentlich dem Herrn Professor Schömann in Greifswald und dem Herrn Geheimen Hofrat Göttling in Jena, für Mitteilungen über die Hofwyler Lebensperiode vorläufig dem Herrn Professor Fr. Weber in Marburg und dem Herrn Archivrat Vogt in Kassel meinen herzlichen Dank abzustatten. Über die zahlreichen Beiträge zur Geschichte der letztern Periode, welche mir aus der Schweiz teils bereits zugekommen, teils in Aussicht gestellt sind, werde ich bei der Herausgabe des zweiten Teiles der Biographie Bericht erstatten. Ein dritter Band wird eine Auswahl aus Theodor Müllers Briefen und sonstigen hinterlassenen Schriften, teils wissenschaftlichen, teils humoristischen Inhalts enthalten.

Mit besonderem Dank und zugleich mit schmerzlichem Bedauern gedenke ich schließlich der Teilnahme, welche der im vorigen Jahre zu Heidelberg verstorbene Professor Fr. Kortüm, der langjährige, vielbewährte Freund und Hofwyler Kollege Müllers, dieser Biographie, bewiesen hat. Bis wenige Tage vor seinem Tode ging er mir unermüdlich mit Rat und Tat, mit Nachrichten und Fingerzeigen zur Hand; mit seinem Leben ist mir eine der ergiebigsten Quellen versiecht. Eine Auswahl aus seinen zahlreichen und inhaltsschweren Briefen an Theodor Müller, welche die Geschichte der Zeit mit unverwandtem Scharfblick und entschiedener Gesinnung verfolgen, dürfte in dem letzten Bändchen eine angemessene Stelle finden.

Theodor Müllers Jugendleben vor der Vollendung der ganzen Biographie der Öffentlichkeit zu übergeben, bewog mich die wachsende Ungeduld vieler Freunde und Verehrer, welche immer stürmischer wenigstens eine vorläufige Befriedigung verlangte. Auch habe ich diesem Verlangen um so unbedenklicher nachgegeben, da mit der Ankunft in Hofwyl (1815) Müllers Leben und zugleich die Geschichte seiner Zeit eine scharfe Marke findet und sich zu einem kleinern Ganzen abrundet, welches bereits für den weitern Leserkreis eine gewisse Selbstständigkeit des Interesses gewinnt.

Der Versuchung, Müllers Leben auf Kosten der biographischen Treue und Wahrheit zu idealisieren, habe ich den entschlossensten Widerstand entgegengesetzt. Der nähere Zweck meiner Arbeit wird erreicht sein, wenn diejenigen Leser, welche Theodor Müller persönlich kannten, bezeugen: so war er wirklich. Ich habe den Menschen mit allen seinen Fehlern und Schwächen gezeichnet. Denen gegenüber, welche sich daran ärgern und über Theodor Müller oder über seinen Biographen das „Kreuzige“ ausrufen mögen, beruhige ich mich mit dem Ausspruch Ed. Dürres (a. a. O.):

„Theodor Müller war ein sonderbarer, aber ein bedeutender Mensch. Sein Leben klingt teilweise nicht erbaulich und ist doch, wie jedes Menschenleben, ein Gegenstand der Erbauung. Steine liegen genug am Wege; es bedarf nur eines leichten Neigens, um sie wider den Schwachen aufzuheben. Wer sich dazu berufen fühlt, der tu's. Wir andern sagen: Gott sei mir Sünder gnädig! “
Bern, im Juni 1859.

Anmerkung.

Das voranstehende Portrait hat nach einer von dem hofwyler Lehrer Leopold 1818, in Theodor Müllers 29. Lebensjahre ausgeführten Bleistiftzeichnung Herr Dill in Bern, ebenfalls ein hofwyler Kollege, auf Stein gezeichnet. Das Original ist Eigentum des allbeliebten Volkslieder-Komponisten Prof. Ferd. Huber in St. Gallen, welcher es bei seinem Abgang von Hofwyl von Theodor Müller zum Geschenk erhielt.