Der Jenenser Student. April 1810—Dez. 1812

Dass Theodor sich dem Studium der Theologie widme, war von jeher der innigste Wunsch seines braven Vaters gewesen, in dessen Charakter aufrichtige und streng an den protestantischen Kirchenglauben sich anschließende Frömmigkeit einen hervorstechenden Zug bildete, und auf diesen Wunsch war der Sohn um so bereitwilliger eingegangen, da sich in ihm ein tiefes religiöses Gefühl mit dem sehr früh schon erwachten Bedürfnis verband, über Alles, was in ihm lebte, für sich nachzusinnen, es zu möglichst klarem Bewusstsein zu erheben und wissenschaftlich zu durchdringen. Zur Entwicklung dieser natürlichen Anlage hatte nicht wenig das für den lebhaften und reizbaren Knaben eben nicht erquickliche Leben im väterlichen Hause beigetragen, welches ihn häufig genug zur stillen Einkehr bei sich selbst drängte. Ob er sich auch wirklich zur dauernden Ausübung des geistlichen Amtes eigne, oder ob nicht die gesamte übrige Eigentümlichkeit seines Wesens ihn auf einen andern Beruf hinweise, darüber hatte er sich freilich, wie so mancher Jüngling in ähnlichem Falle, noch gar keine Rechenschaft gegeben. So viel aber stand bei ihm damals schon fest, dass er sich nur auf geistigem Gebiet und in einer wissenschaftlichen Laufbahn seiner Natur gemäß, frei und wohlig werde bewegen können.

Der durch seine Tochter Louise dem preußischen Königshause verwandte Herzog von Mecklenburg-Strelitz hätte es am liebsten gesehen, wenn der junge Müller die durch seine Freigebigkeit ermöglichten Studien in Berlin absolviert hätte, und demgemäß suchte auch der Vater seinen Sohn zur Wahl dieser Universität zu bewegen. Unser Theodor aber hatte einen unüberwindlichen Widerwillen gegen das geräuschvolle und, wie er sich wenigstens vorstellte, durch allerlei äußere Rücksichten eingeengte Leben in der Residenz und gegen das ihm als philisterhaft und liederlich geschilderte Treiben der dortigen Studenten. Auch fürchtete er, dort den politischen Druck, welcher damals schon auf seiner Heimat schwer genug lastete, und gegen den er überaus empfindlich war, nur noch schmerzlicher zu empfinden. Eine leichtere und reinere Luft, in welcher seine von patriotischen Gefühlen geschwellte Brust freier atmen, der Unmut wenigstens durch Worte sich äußern dürfe und in rückhaltslosem Gedankenaustausch seine Begeisterung immer frische Nahrung fände, lebendiger Verkehr mit Lehrern und Freunden, welche ein acht wissenschaftlicher, über das Brotstudium sich erhebender Geist beseelte, frischer und voller Genuss aller Freuden, welche schöne Natur und zwanglose Geselligkeit darbieten, kurz ein flottes, geistig und gemütlich gehobenes, literarisch und patriotisch veredeltes Burschenleben — das war es, wonach ihn verlangte und was er nach den authentischen Berichten seiner ihm vorangegangenen Schulgenossen in Jena und zwar nur in Jena zu finden hoffte. Diesem entschieden ausgesprochenen Verlangen setzte der Vater keinen ernstlichen Widerstand entgegen, wie er sich überhaupt je länger je mehr daran gewöhnt hatte, de n ihm an Geist und Willenskraft überlegenen Sohn gewähren zu lassen. Der gute alte Herzog murrte zwar anfangs über den unwillfährigen Entschluss seines Pfleglings und äußerte gegen einen mit Theodor befreundeten Hofbeamten: „der junge Müller scheine doch ein bisschen eigensinnig zu sein;“ aber er grollte ihm deshalb nicht und hielt, wie wir sehen werden, die ihm gegebene Zusage — so gut er konnte.


Müller aber fand in dem selbstgewählten Musensitze, dem Ziele jahrelanger Sehnsucht, welches er nach einer ununterbrochenen, rüstigen Wanderung durch die schönsten Harzgegenden und das romantische Saaletal mit leichtem Gepäck und leichtem Mut erreichte, seine kühnsten Wünsche und Erwartungen bald in reichem Maße erfüllt. Hier erst begann er nach seinem eigenen Bekenntnis zu leben; hier, im heitern und warmen Sonnenschein der akademischen Freiheit, sprengte die feurige Triebkraft seines Geistes und Gemütes die Knospenschale, welche die Ungunst der äußern Verhältnisse bis dahin verschlossen gehalten hatte. Die Jenaer Studienzeit ward entscheidend für sein ganzes ferneres Leben; hier befestigte sich bereits sein ganzes Wesen und Gebaren in der Richtung und Weise, welcher er fast durchgängig bis zu seinem Tode treu geblieben ist; alle Hauptzüge seines nachmaligen Charakters finden wir in der aus jenen Jahren zu uns gelangten Kunde wenigstens angedeutet. Was damals mit ihm vorging, war aber nicht sowohl eine Umwandlung als eine naturgemäße Entwicklung, und für diese konnte kein Ort in der Welt geeigneter sein als gerade Jena, wo damals in wissenschaftlicher, ästhetischer, patriotischer und geselliger Hinsicht ein Geist herrschte, mit dem Müllers ganze Geistesanlage in wunderbar inniger Verwandtschaft stand.

Es wird daher, bevor wir den nähern Bericht über Müllers akademisches Leben beginnen, nicht überflüssig sein, den Geist und die Sitte, welche damals an der Jenaer Hochschule herrschte, wenn auch nur in gröbern Umrissen darzustellen und zum klareren Verständnis; unsern Blick auch auf die jener Zeit unmittelbar vorangehenden Jahrzehnte, die Periode ihres hellsten Glanzes, zurückzuwenden.