Universität Jena

Als Müller die Universität Jena bezog, war jene Periode, welche ihr für immer eine der ersten Stellen in der Kultur- und Literatur-Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts erworben hat, freilich schon um einige Jahre vorüber. Begonnen hatte sie ungefähr mit dem letzten Viertel des Jahrhunderts unter den Auspizien dreier hochgebildeten, geistreichen und gesinnungstüchtigen Fürsten aus dem Ernestinischen Hause, welche damals bald nach einander zur Regierung gelangt waren. Die wohlwollende Fürsorge, der unermüdliche, opferfähige Eifer und der männliche Mut der Herzoge Ernst II. von Gotha, Karl August von Weimar und Georg von Meiningen, insbesondere die Lehrfreiheit, welche sie in auffallendem Gegensatze zu dem gleichzeitigen Verhalten anderer deutschen Fürsten, unbeirrt durch die Neuheit oder Kühnheit irgend einer Lehre gewährten, schützten und förderten, erwarb der Jenaer Hochschule eine von den letzten siebziger Jahren bis zum Ende des Jahrhunderts sich fortsetzende Reihe der ausgezeichnetsten deutschen Lehrkräfte für alle Hauptgebiete der Wissenschaft, und diese zogen bald nicht nur die Blüte der studierenden Jugend von ganz Deutschland, sondern auch lernbegierige Jünglinge und Männer aus fast allen Ländern Europas so mächtig und mit solchem Erfolg an, dass Jena seit der Mitte der achtziger Jahre der Brennpunkt der gesammten deutschen Geistesbildung genannt zu werden verdiente. Wer irgend unter den damaligen Gelehrten sich einen Namen machen, alle strebsamen Geister, welche sich zu der Höhe ihrer Wissenschaft oder Kunst aufschwingen wollten oder den Trieb in sich fühlten, derselben neue Bahnen zu brechen oder auf den neu betretenen weiter vorzuschreiten, glaubten in Jena lernen oder lehren zu müssen, und eine Zeit lang durfte die kleine Musenstadt an der Saale sich fast rühmen, Deutschland kenne keinen großen Namen der Gegenwart, den sie nicht ihren Gast genannt habe.

Leider aber konnten sehr viele, ja gerade von den hervorragendsten Lehrern wohl die meisten, eben nur „Gäste“ heißen. Gerade der hohe Ruf, dessen sich Jena erfreute, trug wesentlich bei zu dem raschen Verlaufe seiner Blütenzeit. Denn bald glaubten die andern deutschen Universitäten für die Hebung ihres eigenen Rufes nicht besser sorgen zu können, als wenn sie ihre Lehrstühle mit Jenenser Professoren besetzten, und dies gelang ihnen um so mehr, da nicht nur die größeren Staaten Deutschlands, namentlich Preußen und Baiern, ihren Hochschullehrern reichlichere Einkünfte, angesehenere Stellungen oder Titel und weitere Wirkungskreise anzubieten vermochten als die in ihren Mitteln beschränkten sächsischen Fürstentümer, sondern auch in den erstell Jahren unsers Jahrhunderts viele Jenenser Lehrer in eine gewisse Missstimmung und Unzufriedenheit über wirkliche oder vermeintliche Gebrechen und Übelstände in dem innern Leben der dortigen Hochschule verfallen waren. Wenn Goethe (Bd. 31, S. 152) diese auffallende Erscheinung unter Anderem damit erklärt, dass „seit der französischen Revolution eine gewisse Unruhe in die Menschen gekommen sei, dergestalt, dass sie entweder an ihrem Zustand zu ändern oder ihren Zustand wenigstens dem Ort nach zu verändern gedächten,“ so hat er damit wohl weniger das Rechte getroffen, als mit der Bemerkung (S. 154), infolge der Entlassung Fichtes „habe sich ein heimlicher Unmut aller Geister so bemächtigt, dass man in der Stille sich nach außen umtat.“ Derselbe mochte von dieser Seite her allerdings nicht wohl begründet sein — eine wirkliche Beschränkung der Lehrfreiheit war dem hochherzigen Karl August nie in den Sinn gekommen, und Fichte hatte die Einbuße seines schönen Jenaer Wirkungskreises durch sein gereiztes und ungestümes Verhalten gegen die Behörde zumeist selbst verschuldet—; aber das Übel war nun einmal da, und Tatsache bleibt, dass in den nächsten Jahren Jena eine bedeutende Anzahl seiner besten Lehrkräfte verlor. Dazu kam die Störung, welche durch den unglücklichen Ausgang der am 14. Oktober 1806 in der Nähe der Stadt vorgefallenen Schlacht in allen Jenenser Verhältnissen verursacht wurde und nicht nur den fernern Abgang einzelner Lehrer, namentlich Hegels, nach sich zog, sondern auch einen großen Teil der Studierenden, deren Zahl ohnehin schon nach Fichtes Entlassung merklich abgenommen hatte, von Jena verscheuchte. Die Befürchtung, Napoleon werde die ihm als Hauptherd revolutionären Geistes tief verhasste Universität sofort aufheben, erfüllte sich glücklicher Weise nicht, und die gleichzeitige Aufhebung der Universität Halle, sowie der Eifer, mit welchem die Landesbehörde, namentlich der Weimarische Minister von Voigt, unverzüglich die in dem Lehrpersonal entstandenen Lücken auszufüllen und die zugehörigen Hilfsanstalten zu vervollständigen und zu verbessern bemüht war, hoben die Frequenz und den Ruf der Hochschule schon in den nächsten Jahren wieder. Aber der frühere Glanz war verblichen und nicht wieder herzustellen.


Ein schöner Abglanz aber blieb. Der in den achtziger und neunziger Jahren aus dem fruchtbaren Boden Jenas emporgeschossene Baum der Wissenschaft, der Kunst und der Sittlichkeit hatte bereits zu tiefe und feste Wurzeln geschlagen, als dass die Stürme, welche in dem ersten Dezennium unseres Jahrhunderts seinen Wipfel zerzausten, ihn hätten umwehen können; ja gerade in jener Zeit des Sturmes und Dranges wuchsen aus demselben Stamme zwischen entblätterten und abgeknickten Zweigen erst recht kräftig andere nach, die bis dahin im Wachstum zurückgeblieben waren, und trugen einige Jahre später Blüten und Früchte, welche seit Jahrhunderten auf deutschem Boden nicht mehr hatten gedeihen wollen: vaterländische Gesinnung und Tat.

Das fruchtbare Samenkorn aber, aus welchem jener herrliche und gewaltige, eine Zeit lang ganz Deutschland beschattende und zierende Baum hervorgekeimt und emporgewachsen, war kein anderer als der durch Kants Kritizismus neu belebte und geläuterte Geist der Philosophie.

Jena war der Ort, wo die Methode und die Ergebnisse der Kantischen Forschung, nachdem sie Jahre lang in weitern Kreisen unbeachtet oder unverstanden geblieben, missverstanden und von den Parteigängern der Oberflächlichkeit und behaglichen Sicherheit entstellt und verketzert worden waren, zuerst gründlicher begriffen, gerecht gewürdigt und zu allgemeinerer Anerkennung' gebracht wurden. Was hierfür nach dem wohlgemeinten aber schwächlichen Versuch des Königsbergers Schulze (in seinen Erläuterungen über des Herrn Prof. Kants Kritik der reinen Vernunft, 1784) namentlich Erhard Schmid und Reinhold seit der Mitte der achtziger Jahre in Jena geleistet haben, ist zu bekannt, als dass es hier näher dargelegt zu werden brauchte. — Dasselbe Jena war es auch, von wo aus die von Kant ausgegangene neue Philosophie teils mit dialektischer Konsequenz und Notwendigkeit durch Geltendmachung und Aussöhnung ihrer großen Gegensätze weiter entwickelt und fortgebildet, teils aus mehr subjektivem Antrieb in eigentümliche Seitenbahnen gelenkt, kurz für die ganze Bewegung auf diesem Zentralgebiet aller Wissenschaft der erste Anstoß gegeben wurde. Wir brauchen hier, ohne uns auf den Verlauf derselben weiter einzulassen, nur die Namen Fichte, Schelling und Hegel, Fries und Oken zu nennen, welche alle mehr oder minder der Universität Jena die beste Gelegenheit zu ihrer eigene n Entwicklung verdanken und ihr als Lehrer ihre frischesten Kräfte gewidmet haben. Es genügt zu unserm Zwecke, kurz die gewaltigen Wirkungen anzudeuten, welche der Geist der neuen Philosophie zunächst in Jena auf allen Hauptgebieten der Wissenschaft, der Kunst und der Sittlichkeit hervorbrachte.