Jena, eine wahre Universitas literarum

Die unmittelbarste und wesentlichste Wirkung der durch Kant angeregten und durch seine Anhänger fortgepflanzten philosophischen Methode war, dass die studierende Jugend in Jena dazu angeleitet und gewöhnt wurde, sich nicht mehr mit einem blindgläubigen und mechanischen Anlernen fertiger wissenschaftlicher Sätze und Systeme zu begnügen, sondern über alle ihrer geistigen Beschäftigung dargebotenen Gegenstände selbsttätig nachzudenken, selbst zu beobachten und zu prüfen und die wissenschaftlichen Resultate mit Aufbietung ihrer eigenen Kräfte selbst zu erringen. Zu der nur auf diesem Wege erreichbaren geistigen Durchbildung, welche bald die Jenenser Studenten vor denen anderer Universitäten auszeichnete, hatte schon der 1787 auf den Lehrstuhl der Philosophie berufene Reinhold sein redlich Teil beigetragen; mit weit stärkerem und allgemeinerem Erfolg aber strebte der im Jahre 1794 an seine Stelle getretene, durch Genialität des Denkens und Energie des Willens ihm weit überlegene Fichte nach diesem Ziele hin, indem er in seinen Vorlesungen die Ergebnisse seiner Forschung vor dem innern Auge seiner Zuhörer erst werden ließ und sie in die innerste Werkstatt seines eigenen Denkens einführte. Dieses Verfahren, verbunden mit dem Feuer seines Vortrages und der in jener Zeit neuen und außerordentlichen Gemeinverständlichkeit seiner philosophischen Sprache, leitete selbst minder begabte und geübte Geister unter der akademischen Jugend zu einem echt wissenschaftlichen Studium an, und die gleich im ersten Jahre seiner akademischen Tätigkeit gehaltenen und auch durch den Druck veröffentlichten „Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten“ öffneten durch ihre populäre Fassung die Pforten der Wissenschaft auch einem weitern Publikum und brachten selbst Laien zu der Anerkennung oder Ahnung der hohen Bedeutung, welche echte Philosophie für die geistige Gesamtentwicklung des Volkslebens habe. In ähnlicher Weise hatte außer Reinhold auch schon Schiller (seit 1789) sich bemüht und gewirkt, und zu demselben Zwecke veröffentlichte später Fichtes Nachfolger, Schelling, seine „Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums“ (1803). Mochten auch bei gar manchen Zuhörern die in strengerer Form vorgetragenen Lehren nur halb oder gar nicht oder falsch verstanden oder verworfen werden: der allgemeine wesentliche Gewinn war doch immer die Erweckung des echt wissenschaftlichen Sinnes, die Anerkennung der hohen und fruchtbaren Wahrheit, welche Schiller in seiner akademischen Antrittsrede ausgesprochen hatte, dass es nicht sowohl darauf ankomme, „was man treibe, sondern wie man das, was man treibe, behandle.“ Wenn F. C. Schlosser (in seiner Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, B. 7, S. 33) mit Recht sagt: „in Jena habe einige Zeit hindurch“ — und diese Zeit ist noch nicht vorüber — „die Philosophie die Bedeutung erhalten, welche sonst auf deutschen Universitäten nur die Brotwissenschaften zu haben pflegen,“ so können wir darin eine tiefe und allgemeinere Beherzigung der den sachlichen Eingang jener Schiller'schen Rede bildenden, in den schneidendsten Kontrasten sich bewegenden Schilderung des Brotgelehrten und des philosophischen Kopfes nicht verkennen.

Im engsten Zusammenhang hiermit stand auch die mit der Fortentwicklung der neuen Philosophie nach den verschiedensten Seiten hin gleichmäßig wachsende Anerkennung des organischen Zusammenhangs der einzelnen Wissenschaften und die Erweiterung des wissenschaftlichen Horizontes, welche ebenfalls das Studium der akademischen Jugend Jenas nicht nur bis zu der Zeit, wo Theodor Müller dort einzog, sondern noch weit über dieselbe hinaus kennzeichnet. Nachdem einmal Fichte die in Kants Kritizismus enthaltenen Keime seiner transzendentalen Idealphilosophie befruchtet und in der Wissenschaftslehre zu Tage gefordert und Schelling den einseitig subjektiven Standpunkt derselben durch Wiedereinsetzung der Natur in ihr reales Dasein mit dem objektiven Standpunkt zu versöhnen gesucht und mit genialer Keckheit sein Identitätsprinzip wie einen zündenden Blitz in die Geister seiner Zeitgenossen hineingeschleudert, also schon bevor Hegel dieses Prinzip durch seine dialektische Methode nach allen Richtungen hin in lebendigen Fluss gesetzt und das absolute Wissen als höchsten Zielpunkt aller intellektuellen Tätigkeit aufgestellt hatte: konnten die Fakultäts-Wissenschaften, in ihrer Vereinzelung als haltlos und unfruchtbar erscheinend, den strebsamen jungen Geistern nicht mehr genügen und zugleich mit der Philosophie, als der Wissenschaft im strengern Sinne, wurden alle besondern Wissenschaften als Zweige desselben Stammes in ihrem wahren Werte und ihrer gegenseitigen Unentbehrlichkeit erkannt und namentlich Naturwissenschaften und Geschichte von Theologen, Philologen, Juristen und Medizinern in den Kreis ihrer Studien hineingezogen. So bildete sich in Jena lebendiger als irgendwo ein geistiger Verkehr Aller mit Allen, eine wahre Universitas literarum.


Es konnte nicht fehlen, dass die von Kants Kritizismus ausgegangene „Erhöhung und Belebung des reinen Interesses für Wahrheit,“ welcher Fichte unter Anderem eine besondere Abhandlung in den Horen widmete, ein Sauerteig wurde, welcher bald alle Sphären der Wissenschaft durchdrang und sie in eine gärende Bewegung versetzte, aus der sie wesentlich verändert in Gehalt und Gestalt, herrlich geläutert und frisch befruchtet hervorgingen. In dem neugeweckten und unaufhaltsam sich fortentwickelnden Geiste der Philosophie fanden — um hier bei den in Jena wirkenden Männern stehen zu bleiben — Griesbach 1), Paulus 2), de Wette 3), Gabler 4) Danz 5), die kräftigste Anregung und Stütze für eine freiere, auf Vernunft und Geschichte fußende und auf Förderung der sittlich praktischen Interessen abzielende Behandlung der protestantischen Theologie; aus ihm schöpften G. Hufeland 6) und Anselm v. Feuerbach 7) ihre reinern Rechtsbegriffe; die Anwendung, welche Schilling von der Philosophie auf die Naturwissenschaften machte, kam auch der namentlich durch Chr. Wilh. Hufeland (1793—98), Gruner (seit 1773), Froriep (1801—4) und Loder (1778—1803) vertretenen Heilkunde zustatten, indem diese von der Betrachtung der mechanischen Seite der Natur entschiedener zur Beobachtung und tiefern Auffassung der dynamisch-organischen fortschritt. Dem Kritizismus und der Idealphilosophie verdankten Geschichte und Philologie den bedeutsamern und idealern Gehalt, die Hinwendung auf den in Literatur, Kunst und Staatsleben sich kundgebenden Geist der Völker, und die tiefere Forschung, wodurch in jener zunächst Eichhorns Nachfolger Schiller (seit 1789) und nach Weltmann und Heinrich namentlich Luden (seit 1806), in dieser Gottfr. Schütz (1779—1804), Eichstädt (1797 bis 1848), J. H. Voß (1802— 5), Ilgen (1794—1802) und Wilh. von Humboldt (1794 — 97) die Jenenser Hochschule auf die Höhe der meisten übrigen erhoben; an demselben Herde, zunächst an Kants „Kritik der ästhetischen Urteilskraft“ und fernerhin an Fichtes Wissenschaftslehre entzündete sich das hellere Licht, welches zunächst durch Schiller, Goethe und W. v. Humboldt („ästhetische Versuche,“ 1799), sowie nach ihnen durch die Gebrüder Schlegel (in Jena 1798—1802), Jean Paul u, a. über die Wissenschaft des Schönen, besonders der Poesie, verbreitet wurde. Und wie endlich auch auf die klassischen Schöpfungen unserer poetischen Großmeister, vor allen Schillers, und fernerhin auch der Romantiker die Idealphilosophie ihren belebenden und läuternden Einfluss ausgeübt hat, so ist sie es auch, durch welche diese erst zu ihrer vollen Anerkennung gelangten. Es fand auf dem Gebiete der schönen Nationalliteratur, der schönen Prosa wie der Poesie, eine ebenso innig in sich zusammenhängende, dialektischen Gesetzen folgende Fortbewegung statt wie auf dem der Wissenschaft, wobei namentlich der Anteil, welchen die ideale Richtung und Dichtung Schillers und Goethes an dem Entstehen der modernen Romantik und Humoristik gehabt bat, um der spätren Verirrungen und Sünden der letztern willen nicht verkannt oder verschwiegen werden darf. Was in dieser Hinsicht das damalige Jena für ganz Deutschland gewesen und mittelbar für die ganze gebildete Welt geworden, das vollends ist zu allgemein bekannt, als dass hier mehr als diese flüchtige Hinweisung erlaubt wäre.

1) An der Jenaer Universität tätig von 1777 bis zu seinem Tode, 1812.
2) Von 1789 bis zu seinem Abgang nach Würzburg, 1803
3) Dozent in Jena von 1805-1807
4) Professor in Jena 1804-1826
5) Akademischer Lehrer in Jena von 1798-1837
6) Professor in Jena von 1788-1803
7) 1799-1802

Zu dem glänzenden Ruf und der hohen literar-historischen Wichtigkeit Jenas trug wesentlich der rege und innige Wechselverkehr mit Weimar bei, welcher beide Städte als einen einzigen Musensitz erscheinen ließ und beiden, der Universität und der Residenz, wenn auch in verschiedener Weise, doch in gleich hohem Grade zugute kam. Wenn der von Jena ausströmende wissenschaftliche Geist dem Schaffen und Treiben der poetischen Kreise Weimars einen strengern Ernst und eine tiefere Grundlage verlieh, so gewann hinwieder das akademische Streben der Jenenser, der Studenten wie der Lehrer, durch das geniale und kunstsinnige Leben des Weimarschen Musenhofes freiern Aufschwung und erheiternde Schönheit. Anziehungspunkt und Bildungsmittel für den poetischen Sinn der akademischen Jugend war zunächst das Weimarsche Theater, welches von 1791 bis 1817 unter Goethes Leitung Schule und Sammelplatz trefflicher Schauspieler, zugleich durch seine und Schillers unermüdliche Tätigkeit und Fürsorge mit einem reichen Vorrat des Besten versehen wurde, was Deutschland zu jener Zeit an Bühnenstücken aufzuweisen hatte. Was aber vielleicht noch mehr als dies zu dem idealen Schwung und der Begeisterung beitrug, welche die damalige Jenenser Studentenschaft auszeichnete, war die persönliche Nähe jener Dichterfürsten und all der großen Geister, welche die Hochherzigkeit und der Kunstsinn Karl Augusts und seiner Mutter Amalie seit den siebziger Jahren in der „großen Stadt Weimar-Jena“ versammelt hatte und welche nicht nur, vorübergehende Störungen abgerechnet, durch gegenseitige Hochachtung oder innige Freundschaft zu einem harmonischen Chor zusammengeschlossen, einander liebreich fördernd oder ergänzend sich in den mannigfaltigsten Weisen und reichsten Akkorden vernehmen ließen, sondern auch eine magische Anziehungskraft auf alle nach wahrhaft Schönem und Edlem strebenden Geister Deutschlands ausübten, alles Unschöne und Gemeine dagegen, mochte es sich im Leben oder in der Literatur zudrängen, von ihrem Kreise fern hielten oder ausstießen und, wo es Noch tat, in heißem Kampfe durch die Überlegenheit ihrer Geisteswaffen zur Anerkennung zwangen oder unschädlich machten. Das waren herrliche, in der Geschichte des deutschen Kultur- und Literaturlebens noch nicht dagewesene und vielleicht nie wiederkehrende Jahre, als Wilhelm v. Humboldt, um des persönlichen Verkehrs mit seinem geistesverwandten Schiller teilhaftig zu werden, nach Jena zog (1794, und, während er sich an ihm erhob und fortbildete, zugleich die geistige Entwicklung seines großen Freundes durch Teilnahme an seinen ästhetischen Studien und Beschleunigung seiner Rückkehr zu poetischem Schaffen förderte; als bald darauf Schiller und Goethe, nachdem sie einmal trotz aller Verschiedenheit ihrer Anlagen und Richtungen in dem aufrichtigen Streben nach eigener künstlerischer Vollendung und nach ästhetischer Erziehung des Menschengeschlechtes zu ächter Humanität ihren geistigen Einigungspunkt gefunden hatten, ihren edlen Freundschaftsbund schlössen, der für ganz Deutschland ein wahrer Segen geworden ist. Und „wer nennt all' die Namen, die gastlich dort zusammenkamen“, um in der Sonne des deutschen Athen ihre geistigen Knospen zur Blüte zu entfalten oder sich in ihr zu erquicken? Die Wirkung jener magnetischen Kraft erstreckte sich sogar über Deutschlands Grenzen hinaus. Fühlte sich doch selbst die anspruchsvolle Frau von Staël (1803) in dem kleinen Weimar, dieser campagne, appelée ville, wie in einem Zauberkreise festgebannt und zu so liebevoller Verehrung und Bewunderung hingerissen, dass sie durch ihre Schilderung und Beurteilung der dortigen Personen und des dortigen Lebens sogar das nationale Vorurteil ihrer Landsleute überwand und ihnen zuerst eine gewisse Anerkennung unserer poetischen Literatur abnötigte.