Das Vaterhaus und die Schule. 1790—1810.

Viktor Bernhard Theodor Müller wurde am 12. November 1790 zu Altstrelitz im Großherzogtum Mecklenburg-Strelitz geboren. Sein Vater, Friedrich Philipp Müller, welcher daselbst seit einer Reihe von Jahren als Schulhalter durch Unterricht im Lesen, Schreiben und Rechnen mühselig seinen Lebensunterhalt erworben hatte, verlegte wenige Jahre nach der Geburt des einzigen Kindes seinen Wohnsitz nach Neustrelitz, wo er Notariatsgeschäfte trieb und zugleich die Stelle eines Kopisten in der Kanzlei des Konsistoriums versah. Die Ausübung dieses doppelten Berufes, sowie der Besitz eines Häuschens in der Töpferstraße und eines kleinen Gartens am Ende der Tiergartenstraße sicherte ihm ein für das einfache Leben einer kleinen Familie zwar hinreichendes, aber immerhin sehr bescheidenes Einkommen. Als ein fleißiger und gewissenhafter Arbeiter und als ein Mann von durchaus rechtschaffenem und biederem Charakter erwarb und bewahrte er sich bis zu seinem Ende die Achtung Aller, die ihn kannten.

Theodors Mutter starb leider sehr früh. Er selbst konnte sich ihrer gar nicht erinnern und kannte sie nur aus den Äußerungen seines Vaters, welcher ihr stetsfort ein liebevolles Andenken bewahrte. Sein liebesbedürftiges Gemüt hat diesen Mangel tief gefühlt, und noch in seinen spätesten Jahren verriet seine Miene bittere Wehmut, so oft ihn irgend etwas daran erinnerte, und wenn gar Jemand, gleichviel ob aus Neugierde oder aus tieferer Teilnahme, ihn nach seiner Mutter frug, so konnte er seinen lebhaften Unmut nur mit Mühe unterdrücken und brach nach seiner Gewohnheit, gerade die schmerzlichsten, tiefsten und zartesten Gefühle in drolliger Form zu äußern, die Unterhaltung mit den Worten ab: „Ich habe gar keine Mutter gehabt; mich hat entweder eine Ostseenymphe geboren oder ein Fischweibchen an den Strand gespieen, weil es wohl spürte, dass sich meine Natur mit dem mütterlichen Elemente nicht vertragen würde.“


Der Vater verheiratete sich, wahrscheinlich bald nach seiner Übersiedelung nach Neustrelitz wieder mit einer Jungfrau Müller, und als auch diese bald hernach gestorben war, mit deren Schwester, einer Wittwe, welche ihm aus ihrer ersten Ehe eine mit Theodor ziemlich gleichaltrige Stieftochter, Dorothea Ehrhardt, zubrachte. Ist er diese spätern Ehen, welche übrigens beide kinderlos blieben, wie es scheint, um seines Sohnes willen eingegangen, so war er sehr übel beraten. Zu einer veredelnden Einwirkung auf die beiden Kinder durch einmütige und planmäßige Erziehung fehlte den Stiefeltern die Weihe einer herzinnigen Liebe sowie einer höhern Geistesbildung. Das reine und volle Glück eines gemütlichen Familienlebens hat der arme Theodor in dem väterlichen Hause, in welchem er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens zubrachte, nicht kennen gelernt, und dieser Umstand hat ohne Zweifel wesentlich zu seiner nachmaligen Abneigung gegen den Ehestand beigetragen.

Über das Verhalten der Stiefmutter und der Stiefschwester gegen ihn hat, in späteren Jahren wenigstens, wohl nicht leicht Jemand ihn ausdrücklich klagen hören, aber er wich allen betreffenden Anfragen in sichtbarer Missstimmung aus, und so edel er auch, wie wir erfahren werden, nach dem Tode seines Vaters gegen dessen Wittwe und Stieftochter gehandelt hat, eine tiefere Zuneigung zu ihnen hat er offenbar nie gehegt. Auch gaben sie ihm gar wenig Grund zu kindlicher und brüderlicher Dankbarkeit und Anhänglichkeit. Vielmehr wurde von den Stiefmüttern sein Knabenalter arg verkümmert und verbittert. Je kärglicher sie ihm Kleidung und Nahrung zumaßen, desto reichlicher bedachten sie ihn mit Scheltworten, Püffen, Stößen und Schlägen. Erklärlich ist daher, dass man ihn hernach in der Schule kaum tiefer kränken konnte als durch die Anfrage: „mi Ehrharde, was macht die Ehrharda?“

Überhaupt war das Hauswesen der Familie Müller in Neustrelitz, in welches der alternde und meist außerhalb des Hauses beschäftigte Vater nicht viel eingreifen konnte und bei dem eben nicht sanften und fügsamen Charakter seiner letzten Ehehälfte auch wohl nicht gern eingreifen mochte, unter deren Leitung übel bestellt und zu Besuchen nichts weniger als einladend. Trat man in das nur ein paar Stübchen und Kämmerchen umschließende Häuslein ein, so wurde man unfehlbar von einem bissigen Möpschen, Nette genannt, angebläfft. Der Freund des Hauses erduldete dies mit der dem Liebling des alten Hausherrn schuldigen Achtung, in der Voraussicht, dass derselbe dafür auf höhern Befehl ein Tänzchen kunstfertig aufführen oder auf das Wort: „Nette, sitz!“ sich gehorsam zur Ruhe niederlassen werde. Gelangte man nach solchem Empfang in die gemeinsame Familienstube, so fand man sich sogleich abgestoßen durch den Mangel an jener Sauberkeit und Ordnung, durch welche auch ein sonst ärmliches Hauswesen gehoben werden kann.

Dies veranlasste späterhin den Gymnasiasten Theodor zu einem humoristischen Schulaufsatz, welchen er mit denen seiner Kameraden ganz harmlos dem Klassenlehrer überreichte. Nach der Aufgabe sollten „die Freuden des Winters“ geschildert werden. Müller verweilte begreiflicher Weise bei der ihm am meisten bekannten Häuslichkeit und beschrieb die Herrlichkeiten des gemeinsamen Wohnzimmers bei unwiderstehlich eindringendem Schneesturm, knarrenden Fensterläden und klappernden Türen, bei dem süßen Geruch für ihn unerreichbarer, dampfender und platzender Bratäpfel, sowie anderer ihm ebenso unerbittlich vorenthaltener Leckerbissen im Kamin, auf ebenso ergötzliche als herzliches Mitleid erregende Weise. Der Lehrer las tief gerührt diesen Aufsatz unter schallendem Gelächter der Hörer vor, in welches der sonst sehr ernste Mann zuletzt nicht umhin konnte einzustimmen.

Bei der die ganze Haushaltung erfüllenden Unsauberkeit, an welcher zunächst die Hausmutter Schuld war, dürfen wir uns auch nicht wundern, dass Theodor, als er bereits die Schule besuchte, durch ihre Schuld in Kleidung, Wäsche und Reinlichkeit des Körpers gar unvorteilhaft gegen seine Mitschüler abstach, welche ihm ungewaschene Hände und ungewissen Haarschmuck oft recht nachsichtslos vorwarfen und den zur Zielscheibe ihres Muthwillens erkorenen, verwahrlosten und schwachen Knaben in unbändigen Zweikämpfen mit leichter Hand zu Boden schleuderten.

Um Theodors Kinderjahre vollends zu umdüstern, verhinderte die Herrschaft der Stiefmutter über den schwachen und friedliebenden Vater nicht nur eine zärtliche Bevorzugung von dessen Seite, sondern überhaupt eine freie Äußerung der natürlichen Gefühle, eine rückhaltslose und liebevolle Hingebung an den einzigen, leiblichen Sohn: auch der Vater zeigte sich nicht von der heitern und gemütlichen, sondern von der ernsten und finstern Seite, nicht als freundlichen Schützer und Tröster, sondern als strengen Richter und Züchtiger. — Einer der frühesten Auftritte, deren sich Theodor aus dem väterlichen Hause erinnerte, ist eine kleine Tragikomödie. Die Familie hat sich zum Mittagessen niedergesetzt. Vom Tische duftet dem lüsternen Knaben eine selten bis zu ihm gelangende Lieblingsspeise, ein frischer Apfelkuchen entgegen. Der Vater beginnt zu beten: „komm', Herr Jesu! sei unser Gast —“ da wird er durch ein herzzerreißendes Klagegeschrei des einfältigen Söhnleins unterbrochen:

„Der kleine Kuchen langt ja kaum für uns, und nun ladest du gar noch einen Herrn ein; da krieg' ich gewiss wieder nichts!“ Und die Hände des Vaters entfalten sich zu einer unvergesslichen Ohrfeige.

Nicht minder lebhaft erinnerte sich Theodor Müller noch in seiner letzten Lebenszeit des folgenden Straffalles. Etwa zwölf Jahre alt sollte er nach elterlicher Verfügung mit mehreren gleichaltrigen Knaben und Mädchen bei einem französischen Tanzmeister Unterricht nehmen. Was die Stiefmutter bewogen haben mag, die Kosten dafür gutzuheißen, ist nicht bekannt geworden — vielleicht geschah es mit Rücksicht auf die Tochter — so viel aber ist gewiss, dass Theodor gleich in der ersten Stunde von einem unüberwindlichen Widerwillen gegen diese „affenschänderische Menschenabrichtung“ ergriffen wurde und seinem Vater rund heraus erklärte, er könne und möge nicht tanzen lernen; es sei an einer Nette im Hause genug. Für diesen unerhörten Trotz vom Vater mit der Gerte aus dem Hause gejagt, trieb er sich, statt seinen Weg zum Tanzmeister zu nehmen, heimlich in Schnee und Frost außerhalb der Stadt herum. Nach diesem ersten Verzweiflungsschritte zog es ihn unaufhaltsam weiter auf dem Wege des Ungehorsams. Mit jeder neuen Versäumnis fiel ihm der Mut, seine Schuld zu bekennen und um Verzeihung und Erlösung zu bitten in demselben Grade, in welchem seine Furcht vor der härtesten Züchtigung stieg. Und als ihm nach einigen Wochen der Vater zu Händen des Tanzmeisters das Geld für den Unterricht übergab, da steigerte sich die Furcht zum Grausen; zugleich aber schloss die Empörung über den ihm angetanen Zwang einen heillosen Bund mit der Lüsternheit, welche durch den Anblick versagter oder nur sehr spärlich vergönnter Leckerbissen bis zu einem wahren Heißhunger herangewachsen war. Dem vereinten Andrang so gewaltiger Dämonen vermochte der schwache Knabe nicht zu widerstehen. Das Geld, welches er nicht zurückzuweisen gewagt hatte, brannte ihm in Hand und Tasche, und er entledigte sich dieses klingenden Zeugen seiner Schuld — in einem Zuckerbäckerladen. Die ärgste Freveltat seiner Kindheit war vollbracht; Scham und Reue folgten ihr auf dem Fuße, vermochten aber nicht von seinem Rücken die Gertenstreiche abzuwenden, welche ihm nach der baldigen Entdeckung der ganzen Sündenreihe zahlreicher und nachdrücklicher als je zuvor zufielen.

Dieser Vorfall blieb aber nicht ohne gute Folgen. Nicht nur, dass Theodorchen, den es nicht gelüstete, einen solchen Sündenprozess innerlich und äußerlich zum zweitenmal durchzumachen, von nun an seinem Vater um so strenger Gehorsam leistete: der Vater selbst scheint bei jener Gelegenheit etwas stutzig und an der Trefflichkeit seiner bisherigen Erziehungs-Methode zum erstenmal irre geworden zu sein; wenigstens nahm er von da an in Betreff der Gegenstände und der Weise seiner Beschäftigung mehr Rücksicht auf die Wünsche und Neigungen des Knaben und ließ ihn, so weit dies ohne Beeinträchtigung seines väterlichen Ansehens anging, etwas mehr seinem Kopfe folgen. In der Tat hatte er es immer herzlich gut mit ihm gemeint, und seiner Strenge lag, abgesehen von dem Einfluss der Stiefmutter, das eifrige Streben zu Grunde, die frühe zu Tage getretenen geistigen Fähigkeiten des Knaben möglichst zu entwickeln, „einen tüchtigen Arbeiter und rechtschaffenen Gelehrten“ aus ihm zu machen. Theodor selbst erkannte dies mit den Jahren immer mehr an, und er sprach von seinem Vater immer nur mit der aufrichtigsten Dankbarkeit und Achtung.

Das pedantisch raue Verfahren aber, welches dieser selbst noch gegen den angehenden Jüngling beobachtete, war um so weniger am Ort, da Theodor bei aller natürlichen Reizbarkeit und Lebhaftigkeit im Grunde zugleich ungemein weich und gutherzig und für jeden freundlichen und herzlichen Zuspruch höchst empfänglich, überdies von Körper schwächlich und von äußerst zarter Nervenbeschaffenheit war.

Die nachteiligen Folgen einer so übeln Behandlung, wie Theodor sie als Knabe zu erdulden hatte, konnten nicht ausbleiben. Die väterliche Strenge, die Lieblosigkeit, parteiische Zurücksetzung und Verwahrlosung von Seiten der Mutter, die Spöttereien und Misshandlungen, welche er von seinen Kameraden erfuhr, alles das zusammen erweckte und nährte in ihm ein verlegenes, scheues und ängstliches Wesen, welches er, wenigstens innerhalb gewisser Lebenskreise, nie völlig überwunden hat und welches zu seiner gleichzeitig nach andern Seiten hin hervortretenden Ungebundenheit und Rücksichtslosigkeit einen wunderlichen Kontrast, ja einen scheinbaren Widerspruch bildete. Schon im zartesten Knabenalter entwickelte sich in ihm ein Hang zur Einsamkeit und zur Einkehr bei sich selbst, und während seine Altersgenossen sich lustigen und lärmenden, zugleich den Körper kräftigenden Spielen im Freien hingaben, schloss er sich am liebsten zu sinnigen Betrachtungen in das stille Dachstübchen seines elterlichen Hauses ein. Je mehr er zum Jüngling heranreifte und je tiefer er in das Leben des Menschen hineinblickte, desto mehr gewann er ein zurückgezogenes Leben lieb. Seine früh erwachte geistige Regsamkeit fesselte ihn bei der Einförmigkeit und Widerwärtigkeit des äußern Lebens sogleich an geistige Arbeiten, auf welche teils die Schule, teils ein angeborner Trieb ihn hinleitete. So selten sein leiblicher Hunger volle Befriedigung fand, so unablässig und begierig suchte er seinen Hunger nach geistiger Nahrung besonders durch Bücher zu stillen, wo er irgend deren habhaft werde n konnte, und er trieb solche Beschäftigungen um so eifriger und mit desto größeren Erfolg, da seine das gewöhnliche Maß überragenden geistigen Fähigkeiten ihn die mannigfachen Hindernisse, welche die beschränkte und unordentliche Häuslichkeit ihm entgegenstellte, leicht überwinden ließen. So weit bei dieser Lebensweise seine körperliche Entwicklung hinter seinem Alter zurückblieb, so weit war bald seine geistige Entwicklung diesem voraus, und so kam es, dass er in der Schule fast von Anbeginn solche Knaben zu Genossen erhielt, über welche er, obgleich jünger an Jahren, bei rascherer Auffassung der Unterrichtsgegenstände in Kenntnissen hervorragte.