Vom geweckten Wissens- und Gesellichkeitstrieb

Von da an schoss der Wissenstrieb, welcher von jeher in ihm gelebt hatte, vollends in den Halm. Und zwar nahmen seine wissenschaftlichen Bestrebungen nunmehr immer entschiedener das Gepräge einer für sein Alter ungewöhnlichen Selbständigkeit an, wozu außer seiner natürlichen Geistesanlage nicht wenig der Umstand beitragen mochte, dass sich für ihn nicht wie für die meisten seiner Mitschüler der lehrende Mund auch außerhalb der Schule öffnete, ja dass er zu Hause statt aller Nachhilfe nur Abhaltungen und Störungen fand. Die erste und stärkste Anregung zu seinen fernern Studien, sowie die feste Grundlage seines Wissens und Urteilens hatte er freilich den oben genannten Gymnasiallehrern zu verdanken, deren Unterricht er mit dem regesten Eifer in sich aufnahm: namentlich bildete zunächst Visbeck seinen Geschmack an mathematischen, philologischen und historischen Studien und förderte späterhin K. Müller, gleichfalls begeisterter Kantianer und Verehrer Niemeyers, durch seine in reiner, edler und lebensvoller Sprache gehaltenen Vorträge ungemein Theodors moralisch-religiöse Entwicklung. Auch war er unter Visbecks Schülern bald einer der tüchtigsten in der Lösung schwieriger geometrischer und algebraischer Aufgaben und ragte aus der Zahl seiner Griechen, Lateiner und Geschichtskundigen mächtig hervor. Aber seinem ungestümen Wissensdrange konnten die gewöhnlichen Gegenstände des Gymnasial-Unterrichtes nicht genügen; nach den verschiedensten Richtungen hin trieb es seinen Geist in endlose Weiten hinaus, und er trachtete auf eigene Hand die Kenntnisse zu erwerben, zu welchen ihm die öffentlichen Lehrstunden mit ihren festbegrenzten Aufgaben nicht verhelfen konnten. Die aus jener Zeit stammenden Briefe von Lehrern und Freunden, welche sich in seinem Nachlass vorgefunden haben, geben bereits Zeugnis von dem Streben nach einem möglichst vielseitigen Wissen, welches ihn sein ganzes Leben hindurch beseelt hat und in auffallender Weise gerade in den letzten Monaten vor seinem Tode mit erneuter Kraft hervorgebrochen ist. Da finden wir den kaum sechszehnjährigen Jüngling nicht nur „in den Werken der lieben Alten verloren“ und mit den Hauptwerken der deutschen Nationalliteratur vertraut, bald für Goethe und Schiller, bald für die neuen Romantiker schwärmend, bald in das Studium Shakespeares vertieft: angeregt einerseits durch Schleiermacher, anderseits durch die deutschen Mystiker bis auf Jakob Böhme, wagt er sich keck an die höchsten Probleme der Theologie und Philosophie, und ein unendliches Sehnen zieht ihn zur Betrachtung des gestirnten Himmels, ob er dem etwa die Geheimnisse des Weltgeistes ablauschen könne.

Alle diese Beschäftigungen aber trieb er in der ungebundensten Weise, aller Schranken methodischer Regelung spottend. Was irgend durch Schwierigkeit seinen Verstand, durch Schönheit seine Phantasie reizte oder durch sittliche Hoheit und Reinheit zu seinem empfindsamen Herzen sprach, das ergriff er jeweilen mit einer oft zu leidenschaftlichem Ungestüm sich steigernden Begeisterung, welche ihn zeitweise alle übrigen Gegenstände vernachlässigen oder vergessen ließ und es ihm, freilich zuweilen der Schulordnung zum Trotz und häufiger noch auf Kosten seiner ohnehin schwachen Gesundheit, möglich mochte, alle Hindernisse, welche sich ihm entgegenstellten, in erstaunlich kurzer Zeit zu überwinden. Entschieden bis zur Hartnäckigkeit setzte er Alles an die Erreichung seines Zieles und er ließ nicht eher nach, als bis sein erster Drang völlig gestillt oder durch einen neuen stärkern Geistesdrang überwältigt oder durch völlige Erschöpfung seiner Kräfte zur Ruhe verwiesen war.


Dies Letztere begegnete ihm denn um so leichter, da er sich nicht selten zu verfrühten oder riesenhaften, selbst ein außerordentliches Kraftmaß überschreitenden Entwürfen hinreißen ließ. So vermaß er sich einmal, nachdem er den ganzen Anakreon in wenigen Tagen mit Leichtigkeit seinen: Gedächtnis eingeprägt hatte, den ganzen Homer verbotenus auswendig lernen zu wollen. Diesen Gedanken musste er begreiflicher Weise nach einiger Zeit aufgeben; eine derartige Niederlage aber konnte ihn wenigstens für die Dauer nicht entmutigen oder in der Weise und dem Eifer seines Strebens irre machen; dafür war ihm unausgesetzte geistige Tätigkeit bereits zu sehr Bedürfnis. Hatte er an dem einen Gegenstande so recht eigentlich seine Lust gebüßt oder hatte sich nach Erzwingung des Verständnisses oder durch Ersättigung im Genuss der Reiz desselben so ermäßigt, dass ein anderer Gegenstand einen stärkern Reiz auf ihn ausübte, was bei seinem offenen Sinn für Wissenschaft und Poesie nie lange auf sich warten ließ: so warf er sich auf diesen mit derselben Energie, welche er auf jenen verwandt hatte, der nunmehr auf kürzere öder längere Zeit in den Hintergrund gestellt oder aus den Traktanden gestrichen wurde. Von einer eigentlichen Wahl war dabei oft gar nicht die Rede: der Wechsel des Gegenstandes wurde nicht selten durch den Zufall oder durch unwillkürliche Ideenassoziation herbeigeführt, manchmal aber auch durch das Streben nach Vollständigkeit und Gründlichkeit, indem er von einer Hauptwissenschaft auf eine Hilfswissenschaft, von einem sich ihm fertig darbietenden Resultat auf dessen Voraussetzungen zurückzugehen sich gedrungen fühlte. Dabei kam es denn wohl vor, dass sich die Einschachtelung eines Studiums in das andere in ähnlicher Weise fortsetzte, wie bei Ariosto die Einschachtelung einer Episode in die andere, und er zuletzt auf die Mittel eine ungebührliche Sorgfalt und Zeit verwendete und den ursprünglichen Zweck darüber aus den Augen verlor. Zeitweise, wenn er ein strengeres Studium bis zur Erschöpfung getrieben hatte, schwärmte er, der Biene gleich, von einer wissenschaftlichen oder poetischen Blüte zur andern und sog daraus die süßesten Säfte nach Herzenslust, bis er sich plötzlich wieder zur eifrigsten und ausschließlichen Durchforschung eines recht schwierigen Gegenstandes zusammenraffte.

Wenn er sich auf diese Weise einen für sein Alter allerdings ungewöhnlich reichen Schatz an Kenntnissen erwarb, so fehlte es demselben doch bei der Maß- und Planlosigkeit, womit er dabei verfuhr, gar sehr an Ordnung und Zusammenhang; in dieser Hinsicht war damals sein Geist wohl nicht viel besser bestellt als das ihm täglich vor Augen stehende elterliche Hauswesen, dessen nachteiliger Einfluss sich auch hier nicht verkennen lässt. Das Gute aber hatte schon sein damaliges Vielwissen, dass es gänzlich frei war von jener hohlen und unfruchtbaren Gelehrsamkeit, welche die Ausgeburt geistiger Armut, Seichtigkeit und Eitelkeit zu sein pflegt. Theodor war von frühester Jugend auf — und in diesem Betracht hat das Vaterhaus jedenfalls nicht nachteilig auf ihn eingewirkt — der entschiedenste Feind und Verächter alles prunkenden Scheines, und sein gesunder Sinn ließ ihn überall sogleich die Kerne von der Spreu unterscheiden, auch ehe er sich darüber bestimmte Rechenschaft geben konnte. Nur nahrhafte, Verstand, Phantasie und Gemüt bildende Geisteskost konnte ihm für die Dauer munden und ihn zur Tätigkeit reizen; wo er aber einmal solche zu finden glaubte, da ließ er sich's auch nicht verdrießen, nötigen Falls um den Preis einer nur durch anhaltenden Fleiß zu erwerbenden Gelehrsamkeit sie sich anzueignen; da scheute er keine Mühe und keine Zeit, ja selbst nicht das ihm so spärlich zugemessene Geld, „die Mittel zu erwerben, durch die man zu den Quellen steigt“; da schreckte ihn kein schweinslederner Einband und keine metallene Klammer, kein Staub und kein Gewicht ab, die ältesten Schmöker herbeizuschleppen und zu durchwühlen. So kam es, dass man ihn nicht selten in der Schule vermisste, auf näheres Erfragen aber in der Giebelstube des väterlichen Hauses auf dem Fußboden umherkriechen sah, rings umgeben von bunt durcheinander liegenden Duodez-, Oktav-, Quart- und Foliobänden aus den verschiedensten Jahrhunderten. Solche Schulversäumnisse wurden von den Lehrern ausnahmsweise ihm nachgesehen, um so mehr, da sie wussten, dass er oft seinem kränkelnden und vielbeschäftigten Vater im Abschreiben der Akten behilflich sein musste. Dieser Arbeit unterzog er sich zwar jederzeit mit kindlichem Gehorsam willig und ohne zu murren; weil ihm aber diese wie jede rein mechanische Arbeit — denn der Inhalt der Akten ließ seinen ideal strebenden Geist gänzlich unbewegt — in den Tod zuwider war, so versüßte er sie sich dadurch, dass er sich einen seiner Lieblingsklassiker, namentlich Homer, Plato, Horaz oder Tacitus neben die Akten legte und während er diese, und zwar fehlerlos, kopierte, sich mit seinem Geiste ganz in jene vertiefte.

Dies blieb in die Länge nicht unbekannt, und während es als auffallender Beweis seiner geistigen Energie und Beweglichkeit angesehen wurde, erwarb es ihm zugleich nach vielen Seiten hin rege Teilnahme und Achtung. Seitdem beeiferten sich Lehrer und Mitschüler, dem armen, gedrückten Schreibersohn freundlich entgegenzukommen und aufzuhelfen. Visbeck, der ihn um seiner geistigen Regsamkeit und seiner ausgezeichneten Leistungen willen sehr bald in die Reihe seiner Lieblinge erhoben hatte, ließ ihn jetzt vollends nicht aus den Augen und Verdoppelte seine Sorge um ihn; er versah ihn zur Unterstützung seines Privatstudiums mit Büchern aller Art und unterhielt sich auch außerhalb der Schule mit ihm viel und stets in ebenso gemütlicher als belehrender Weise, wobei er sein oft wunderliches, exzentrisches Gebaren und seine teils bewussten, teils unbewussten Verstöße gegen die gewöhnlichen Formen des geselligen Verkehrs gern übersah. Auch die übrigen Lehrer behandelten ihn mit gleicher Teilnahme und Nachsicht, namentlich K. Müller, welcher 1806 nach Horns Eintritt in das Pfarramt zu Alt-Käbelich zweiter Lehrer geworden war, wogegen der geistreiche und hochgebildete Kämpfer in seine Stelle einnickte und den jungen Philologen Corty zum Hilfslehrer beigesellt erhielt. Wahrhaft herzerhebend ist die Anhänglichkeit, welche jener geist- und gemütvolle Lehrer seinem gleichnamigen Schüler auch nach dessen Abgang vom Gymnasium stetsfort bewiesen hat und von welcher eine Anzahl treu bis zum Tode aufbewahrter Briefe das sprechendste Zeugnis gibt. Der späteste, welcher sich vorgefunden hat, ist 1827 von Stargard aus geschrieben, wo Müller seit 1821 als Präpositus die Schulen des Landes zu verbessern und zu heben mit dem heiligsten Eifer bemüht war. Wir werden dem trefflichen Manne noch wiederholt als dem getreuen Mentor seines jungen Freundes begegnen, der von ihm bis in die tiefsten Falten seines Herzens durchschaut wurde.

Mit der lebhaftesten Dankbarkeit und dem vollsten Vertrauen erwiderte Theodor das ihm von seinen Lehrern und von allen bessern Mitschülern bewiesene Wohlwollen. Dass die Letztern ihn nunmehr bei immer wachsender Anerkennung seiner trefflichen Eigenschaften eifrig aufsuchten, trösteten, ermutigten und gegen fernere Unbill kräftigst schützten, das war mehr als Balsam auf die Wunden des so lange fast von allen Seiten her verwahrlosten, verachteten und misshandelten Knaben: es rief in ihm einen Trieb wach, der sich seitdem zu einem Hauptzuge seines Charakters ausbildete und sich innig verschlingend mit feinem ganzen geistigen Streben wesentlich dazu beigetragen hat, sein Leben bis ans Ende zu heben, zu verschönern und zu erheitern. Das in stille Einsamkeit zurückgezogene Leben, welches er zu Zeiten führte, war bei allem Anteil, den sein Trieb zu geistigem Forschen und Sinnen daran hatte, doch wesentlich eine durch die äußern Verhältnisse und Erlebnisse seiner Kinder- und Knabenjahre erzeugte und ausgebildete Gewohnheit; tief in seiner eigensten Natur aber wurzelte zugleich ein ungemein starker Geselligkeitstrieb, welcher, durch die Ungunst der Umstände lange zurückgedrängt, nunmehr in dem angehenden Jüngling zum reinsten Freundschaftssinn erhoben und veredelt mit hinreißender Gewalt in ihm hervorbrach. Mit der innigsten Hingebung schloss er sich seinen guten Kameraden an, und indem er mit dem Feuer seiner eigenen Gefühle ihre Brust durchwärmte und seine Begeisterung für Wahrheit, Schönheit und Sittlichkeit auch ihnen einflößte, fand er in ihrem Umgang Trost für die Leiden und Ersatz für die Mängel seines sonstigen Lebens.