In der öffentlichen, sogenannten großen Schule

Diese hatte in dem Umfang und auf der Stufe, auf welcher sie sich zur Zeit von Theodor Müllers Eintritt befand, noch gar nicht lange bestanden. Neustrelitz war vom Jahr 1730 an, wo es sich nach dem Brande des herzoglichen Residenzschlosses zu Strelitz allmählich um ein kaum eine halbe Stunde entferntes Jagdschloss zu Gliencke gesammelt hatte, in stetem Anwachsen begriffen. Dem gemäß ging die Einrichtung und Erweiterung der Schulen auch nur allmählich von Statten, und rascher erst seit 1794, als der durch Kraft, Einsicht und ächte Humanität gleich ausgezeichnete Herzog Karl Ludwig Friedrich (geb. 1741), der ehrwürdige Vater der Königin Louise von Preußen, der jedem ächt deutschen Herzen unvergesslichen Gemahlin Friedrich Wilhelms III., die seit Jahren nur locker und lässig geführten Zügel der Regierung ergriff und durch energische Maßregeln die zerrütteten Finanzen des Landes ordnete und emporhob. Mit unermüdlichem Eifer nach allen Seiten hin für Belebung der Wissenschaft und der Kunst gleichwie des Handels und der Gewerbe tätig, rief er auch für seine Residenz tüchtige, geistvolle und hochgebildete Männer herbei, welche die genannte „große Schule“, Anfangs nur eine höhere Bürger- oder Realschule, mit einer neuen Abteilung für solche junge Leute verbinden sollten, die sich Universitätsstudien zu widmen gedächten. Unter der Leitung des ersten Lehrers, Visbeck, welcher seine Schulbildung in Winckelmanns Geburtsort Stendal erhalten und dann in Halle gründliche theologische, philologische und philosophische Studien gemacht hatte, eines Mannes von tiefem Gemüt und ausgezeichneten Geistesgaben, hob sich die neue Anstalt, das später sogenannte , bald zu einer solchen Höhe, dass die angesehensten adeligen Familien, welche den herzoglichen Hof umgaben, ihre Söhne, deren Unterweisung bis dahin zunächst von Hauslehrern betrieben worden war, derselben übergaben und es sich herausstellte, dass sie nicht minder gut zu den höhern Studien vorbereitet wurden, als in den seit langen Jahren bestehenden Gelehrtenschulen zu Friedland und Neubrandenburg. — In der literarischen Welt ist Visbeck nur einmal hervorgetreten, als Verehrer der kritischen Philosophie, welche er 1794 nach Reinholds Auffassung gegen die Angriffe des Änesidemus (Ernst Schulze, 1792) in Schutz nahm. Er lebte und webte eben ganz in seiner Schule, in der wissenschaftlichen und sittlichen Bildung der Jugend, für die er ein echtes Lehrerherz hatte. Wie er alles Niedrige, Gemeine und Schlechte in tiefster Seele verabscheute, so suchte er es auch aufs eifrigste und sorglichste von seinen Pfleglingen abzuwehren. Das Studium der Philosophie und der Mathematik, des klassischen Altertums und der Geschichte betrieb er mit der Begeisterung eines „Schulmeisters von Gottes Gnaden.“ Sein Vortrag war lebendig und schwungvoll, und wenn er auch durch Mangel an Maß und an Ruhepunkten langsame, bequeme und unbeholfene Geister wohl hie und da niederdrücken und entmutigen mochte, so wirkte er doch um so segensvoller und nachhaltiger auf diejenigen Schüler, welche ihm strenge Aufmerksamkeit zuwandten und mit Lust und Liebe darin ausharrten. Um solche, durch geistige Regsamkeit sich auszeichnende Schüler bemühte sich Visbeck mit der liebevollsten Sorge, während die Trägen nicht selten mit den langen, knöchernen Fingern seiner Linken oder auch wohl mit dem Cicero regaliert und angetrieben wurden. Die Letztern benahmen sich freilich oft recht unartig in seiner Klasse und störten den Unterricht durch Nötigung zu Untersuchungen, welche um so langwieriger und ärgerlicher zu werden pflegten, da Visbeck sehrkurzsichtig war und ohnehin im Feuer des Vortrags der Dinge um sich her wenig achtete. Diesem Übel zu steuern verfiel einer seiner schärfer sehenden und beobachtenden Kollegen auf ein jedenfalls wohlgemeintes und auch nicht erfolgloses Mittel. Er bohrte durch die Türe zwischen seinem und Visbecks Klassenzimmer ein Löchlein, durch welches er, sobald es jenseits unruhig wurde, die Schuldigen herausforschte. Diese wurden dann nach dem Ausgang der Stunde ohne Weiteres vor sein strenges Gericht gezogen und „nach preußischer Manier“, wie es hieß, d. h. mit dem Röhrchen nachdrücklich gezüchtigt. Solche Ungehörigkeiten taten übrigens Visbecks Ansehen und Wirksamkeit keinen wesentlichen Abbruch, und durch die tätige Mitwirkung zweier trefflichen Kollegen, Horns und K. Müllers, sowie durch den mittelbaren Einfluss von fünf bis sechs Kandidaten der Theologie, welche gleichzeitig als Privatlehrer in adeligen Häusern tätig waren, bildete er sich bald eine Classis selecta von zehn bis zwölf Schülern, mit welchen er die höhern Gymnasialstudien so recht nach Herzenslust und mit ausgezeichnetem Erfolge betrieb.

Dieser Selekta sollte nun auch unser Theodor zusteuern; aber ohne das entschiedene Einschreiten des Vaters wäre er gleich Anfangs beinahe in ein abweichendes Fahrwasser geraten. Dem lebhaften und ungeduldigen Knaben wollte nämlich der nach dem „kleinen Bröder“ erteilte, dürre und pedantisch strenge Unterricht in den Elementen der lateinischen Grammatik, deren eigentlicher Zweck und Nutzen ihm nicht einleuchtete, gar nicht munden. Ganz besonders ärgerte ihn die dritte Deklination mit ihren endlosen und unverantwortlichen Ausnahmen, deren keine ihm sowie manchem Kameraden ohne zahlreiche Ohrfeigen und sonstige Hiebe in den Kopf zu bringen war. Als er aber seinem Vater erklärte, er möge das Ding nicht weiter treiben, wurde dieser, welcher zwar von dem Latein spottwenig verstand, aber einen desto gewaltigeren Respekt davor hatte, sehr unwillig und schärfte ihm den Vorteil und die Notwendigkeit dieser Sprache mit den Worten ein: „Das Latein ist eine sehr brauchbare Sache; denn man lernt casum ponere. Verstehst du mich?“ Der brave Alte hatte freilich einen ganz besondern Grund, gerade hierauf das Hauptgewicht zu legen, denn als guter Plattdeutscher verwechselte er regelmäßig Dativ und Akkusativ. Überhaupt rechnete er darauf, dass ihm sein gescheites Söhnlein recht bald das eben nicht mustergültige Deutsch in seinen Skripturen berichtigen solle. Diese Erwartung ist denn auch ebenso richtig in Erfüllung gegangen wie die wohl nicht durchaus wunderbare Prophezeiung eines alten Hausfreundes, „der kleine Theodor werde noch einmal ein sehr geschickter und nützlicher Mann werden.“


Dieser Prophezeiung hatte freilich der Vater eine geraume Zeit hindurch keinen Glauben schenken wollen, weil es mit dem Schönschreiben, auf welches er ihn als auf eine „feine Kunst“ wohl zu früh und allzu strenge hingewiesen, nicht recht gehen wollte. Auch auf der großen Schule mutete unsern Theodor der Unterricht in dieser Kunst, welcher mit einer pedantischen Förmlichkeit betrieben wurde, gar nicht an; ja er bekam dagegen allmählich einen solchen Widerwillen, dass er später als Hauslehrer das Schönschreiben in die Reihe der Strafmittel stellte. Ebenso wollte er von dem Zeichnen, welches eben nicht über das Kopieren hinausging, auf der Schule nichts wissen. Auch im Französischen brachte er's nicht weit. Hieran war freilich zunächst der von einem ganz ungeschickten Lehrer erteilte, im Frühling fast beständig durch aufburrende Maikäfer, in andern Jahreszeiten durch andern Mutwillen unterbrochene Schulunterricht Schuld; hier konnte nur durch gleichzeitig mitwirkenden Privatunterricht einiger Erfolg erzielt werden, ein Mittel, welches unserm Theodor in seiner ärmlichen Lage nicht zu Gebote stand. Freilich suchte er, die Nützlichkeit der Kenntnis dieser Sprache wohl einsehend, sich durch häusliche Lektüre nachzuhelfen und stellte zu demselben Zwecke, wie er sich wenigstens eine Zeit lang einredete, späterhin selbst häufige Wanderungen nach einem benachbarten Dorfe G*, zu einem ihm verwandten Amtmann an, welcher für seine Töchter eine französische Gouvernante hielt. Es bleibt aber zweifelhaft, ob die von dieser ihm erteilte Unterweisung, welche er allerdings freundlichst entgegennahm, oder die Unterhaltung mit ihren Schülerinnen ihn stärker dorthin gezogen habe. Jedenfalls konnte er für die französische Sprache nie ein rechtes Herz fassen, um so weniger, je früher und lebhafter das Interesse an dem politischen Geschick seines Vaterlandes in ihm erwachte und je eifriger und ernster er sich mit der Zeit dem Studium der Meisterwerke des griechischen und römischen Altertums zuwandte.

Nachdem nämlich des Vaters Machtspruch den elfjährigen Gymnasiasten wieder der lateinischen Sprache zugewandt und die früher noch zu Hause als in der Schule begonnene Lektur historischer Anekdoten und sinnreicher Aussprüche bedeutender Männer (Apophthegmata) seinen Widerwillen in entschiedene Vorliebe verwandelt hatte, ging's in diesem Fache mit Riesenschritten vorwärts, und da Theodor außerdem im Griechischen sowie in der Mathematik, welche nach seiner Versicherung vortrefflich gelehrt wurde, mit nicht geringerem Erfolge tätig war, so brachte er es schon in seinem fünfzehnten Jahre dahin, dass er in Visbecks Selekta aufgenommen wurde.