Im Hause des Staatsministers von Oertzen

In dieser Not eröffnete der damals vielvermögende Kämpfer dem armen Theodor, welcher sich mit der Zeit an ihn ebenso innig angeschlossen hatte wie an Visbeck und K. Müller, eine wenn auch einstweilen noch ziemlich ferne Aussicht auf Erfüllung seines Lieblingswunsches. Er war im Hause des hochgebildeten, edeln und humanen Staatsministers von Oertzen, dessen Gemahlin den Verkehr mit geistreichen Männern liebte, hochgeschätzt und wusste es daher leicht zu vermitteln, dass die Wahl eines Führers des einzigen, damals acht Jahre alten Sohnes Karl von Oertzen auf Theodor Müller fiel. Auch war dieser dem Herrn v. Oertzen, welcher als Hauptgründer und Förderer des Gymnasiums auch auf die Schüler desselben ein aufmerksames Augenmerk hatte, als solcher bereits vorteilhaft bekannt geworden, unter Anderem durch einen größeren deutschen Aufsatz, welcher unter dem Titel: „der deutsche Jüngling“ damals in Strelitz großes Aufsehen machte, für uns aber leider verloren zu sein scheint.

So trat Theodor, freilich nicht ohne ein gewisses Zagen, aber ermutigt durch die Hoffnung, sich von dem zu erwerbenden Honorar einen Zehrpfennig für die Universität zurückzulegen, in das vornehme Haus ein, in welchem er bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahre verblieb. Hier wurde ihm sogleich ein dem neuen Verhältnis angemessener Rock nebst erforderlicher Zutat, sowie auch eine feinere Wäsche angelegt. Die Führung des von der Natur reich begabten Zöglings, welcher zu den schönsten Hoffnungen berechtigte — er lebt zur Zeit noch als Justizbeamter zu Schönberg im Ratzeburgischen — ließ dem strebsamen Theodor hinreichende Muße zur Fortsetzung seiner philologischen, historischen und philosophischen Studien, welche letztern besonders durch den Umgang mit dem die Werke eines Johannes von Müller eifrig studierenden und in die Schelling-Hegelsche Schule sich tapfer hineinarbeitenden Kämpfer einen neuen und nachhaltigen Aufschwung erhielten.


Anderseits entwickelte sich unter den nunmehrigen Verhältnissen rascher und merklicher als bisher Theodors Anlage zum Witz und Humor. Die heitere und feingesponnene Satire seines Lieblings Horaz, welche infolge natürlicher Wahlverwandtschaft und eifrigen Studiums bei ihm in Saft und Blut übergegangen war, lenkte den kecker gewordenen Blick des Jünglings auf das ihm jetzt näher gerückte Leben der zum Teil arg französierten Hofkolonie, welche das erweiterte Schloss des im Grunde so kräftigen, geraden und biedern Herzogs allmählich umlagert hatte. Die damalige Einwohnerschaft der Residenz bestand außer den im Schlosse und in einigen kleinen Palästen befindlichen Gliedern des uralten Fürstenhauses größtenteils aus einem dem Hofe zunächst stehenden, durch amtliches Ansehen oder Reichtum hervorragenden Adel und aus Personen bürgerlichen Standes, welche von diesem infolge tief in das ganze Leben einschneidender Abhängigkeit durch Tracht, Haltung und geselligen Verkehr ziemlich schroff geschieden waren. Eilfertige Friseure und Barbiere, Heiducken, Zwerge, Läufer und Mohren durchsausten in Dienstgeschäften eifrig die belebte Schlossstraße vom frühen Morgen bis in die Nacht hinein; neu- und altmodische Karossen mit reicher Gold- und Wappenverzierung rasselten auf und ab; Bankette, Konzerte, Bälle und Schauspiele wechselten in dem engen Umkreis des Städtchens rasch nach einander. Da sammelte sich denn in Scharen die Residenz-Jugend, stand gaffend, jubelnd, spottend umher, schleuderte unheimelige Witzworte, nicht unbedräut, doch dem strafenden Arm listig und gewandt sich entziehend. Was irgend bei Hofe getan oder gesprochen wurde, verbreitete sich, meist durch horchende Dienstboten, wie ein Lauffeuer durch die sieben, sämtlich nach dein Markte auslaufenden Straßen der Sternresidenz, machte die Runde in Gasthöfen und Kneipen, in geselligen Tee- und Kaffeezirkeln und ward mit oder ohne Witz durchgehechelt. Dem Interesse des Hofes diente, um den Hof drehte sich Alles, oft in der lächerlichsten und abgeschmacktesten Weise, sei es im Schauspielhaus oder an andern öffentlichen Orten, und nicht leicht verging ein Tag ohne Bericht von irgend einem pikanten Auftritte. Die üppige Hofluft drang aber auch in die Wohnungen der höhern und niedern Bürgerschaft ein, deren nur zu viele mit ihren erkünstelten und ungeschickt nachgeahmten Manieren eine possenhafte Karikatur des Hoflebens darstellten. Das Alles bot nun unserm Theodor reichen Stoff zu sarkastischer Satire oder zu feinen und gröbern Witzen, insbesondere zu komischen Wortspielen in Versen und in „ungebundener“ Rede. Da war es denn höchst ergötzlich hineinzuschauen in sein schmunzelndes Gesichtchen mit den schlau markierten Zügen und der sinnvollen Miene, deren Linien sich alle bis in die Mundwinkel zusammenschlossen, ehe er sich in einem lustigen „Hü, hü!“ Luft machte.

Am reichlichsten aber sprudelte die Quelle seines Witzes gewöhnlich bei den hier und da auf der Stube eines Schulkameraden veranstalteten, den akademischen Brauch antizipierenden und darum vor dem Späherblicke des Direktors Siefert sich nach Möglichkeit versteckenden Kneipereien, bei welchen Freund Theodor trotz seines schwächlichen Magens eben nicht der Letzte und Müßigste war, und wenn dann der unter seinem blonden Krauskopf hausende Kobold sich regte und die Kameraden nicht nur mit den drolligsten Mienen und Sprüngen und Reden belustigte, sondern zuweilen auch neckte und foppte und mit scharfer Lauge begoss, so ward dergleichen von Allen ebenso gut aufgenommen wie von seinem damals bereits zum Studium der Medizin nach Berlin abgegangenen Freunde Fr. Rose, von welchem sich in Theodors Nachlass noch ein Brief an sein „trautes Brüderchen“ mit folgendem Eingang vorfindet:

„Ich schicke Dir einen mehr als bogenlangen Brief und erhalte von Dir einen Zettel voll Schimpfwörter, mit denen ich zuerst gar nichts anzufangen wusste. Endlich fielen mir die an einer benachbarten Ecke sitzenden Fischweiber ein, die wegen ihres Auswackens berühmt sind und Shakespeare weit übertreffen. Ich ging zu ihnen und zeigte ihnen den Schatz. Sie rissen sich darum und gaben mir ein gewaltiges Gericht Karpfen dafür.“

Theodor durfte aber auch getrost seinen damaligen Kameraden mehr bieten, als sie sich von irgend einem andern hätten gefallen lassen; denn selbst der Geschmack des grobkörnigsten und beißendsten Salzes, welches er ihnen zuweilen auftischte, wurde gedeckt und überwältigt durch die wohltuende Würze des Humors, der heitern und harmlosen Gemütlichkeit, welche alle seine Genien durchdrang. Auch waren jene Ausbrüche natürlicher Lebenslust und jugendlichen Mutwillens eigentlich nur Zwischenspiele in dem Gesamtverkehr jenes Freundeskreises, dessen Grundzug vielmehr ein hoher sittlicher Ernst war, entsprechend dem tief empfundenen Ernste der Zeit, der bedrängten Lage des engern und weitern Vaterlandes. Tief in dem Gemüte Theodors und seiner Freunde haftete der Eindruck der Schrecknisse und empörenden Gräuel des Krieges von 1806, welcher in ihrer Vaterstadt auf dem Schlossplatze des tief gekränkten Fürsten die feindlichen Wachtfeuer angezündet, die von Hohenlohes Hauptkorps abgeschnittene Schar des tapfern Blücher vorübergedrängt, wie anderswo so auch hier wehrlose Dörfer trotz der in spottender Großmut gewährten Losung „pays neutre!“ mit Raub und Plünderung heimgesucht und das ausgesogene Land unter die Gewaltherrschaft des Rheinbund-Protektors gezwungen hatte.

Angesichts solcher Erlebnisse und bei dem unabweislichen Gedanken an die allgemeine Schmach Deutschlands war das Hofleben nach französischem Muster, welches nach und nach das gesamte Stadtleben beherrschte, für Theodor nicht bloß um seiner Unwahrheit, Hohlheit, Torheit und Verschrobenheit willen eine Fundgrube heitern Witzes und scherzender Satire, sondern auch als Gegensatz zu dem vaterländischen Sinn, welcher in den noch unverdorbenen Herzen der Jugend lebte, ein Stein des schmerzhaftesten Anstoßes und der ernstesten Ärgernis, eine ekelhafte Seuche, deren Anblick und Eindruck zu entfliehen er sich desto enger an seine guten Kameraden und an die nunmehr auch außerhalb der Schule gewonnenen Freunde anschloss. In ihrem Kreise machte er nicht nur seinem gepressten, von Widerwillen und Entrüstung übervollen Herzen Luft, sondern hauchte auch in die gleichgestimmten Herzen seine reichen Ahnungen des Wahren, Schönen und Guten, des Höhern und Dauernden im Menschenleben, vor Allem sein warmes, inniges Freundschaftsgefühl, welches mit schwunghafter, hier und da bis zur Schwärmerei gesteigerter Begeisterung erwidert wurde. In diesem Verkehr, von welchem uns die Berichte seines noch lebenden Freundes K. Horn und die treu aufbewahrten Briefe einiger auf andere Gymnasien oder zur Hochschule abgegangener Freunde zuverlässige Kunde geben, treten schon ganz deutlich mehrere Grundzüge hervor, welche Theodor Müllers späteres pädagogisches Verhalten ankündigen und kennzeichnen. Wie er alle Gegenstände des Wissens nicht bloß mit dem Gedächtnis und dem Verstande, sondern mit seinem ganzen, tiefen Gemüt erfasst und festhält, so ist es ihm dringendes Bedürfnis und höchste Lust, über Alles, was ihn geistig beschäftigt, sich in lebendiger Rede seinen Freunden mitzuteilen und sie für seine Ideen zu gewinnen. Und diese fühlen sich durch seine Worte mächtig hingerissen. Er ist das Orakel, zu welchem sie in Zweifeln und Skrupeln ihre Zuflucht nehmen, und er steht ihnen bei ihren wissenschaftlichen Arbeiten und Bestrebungen, sowie in schwierigen Fällen des praktischen Lebens freundlich, liebevoll und unverdrossen ratend, helfend, hebend bei. Mit der herzlichsten Teilnahme und einer bis ins Kleinste eingehenden Sorgfalt erkundigt er sich nach den Beschäftigungen der in die Ferne gezogenen Mitschüler und treibt sie an zu getreuem Ausharren in ihrem Streben, und sie legen ihm ebenso getreulich Rechenschaft ab über ihr ganzes Treiben. Das Lehrhafte in seinem damaligen Verkehr erklärt sich um so mehr aus dem Umstande, dass fast alle Kameraden während der beiden letzten Jahre seines Schullebens im Gegensatz zu dem anfänglichen Verhältnisse jünger waren und die strebsamsten unter ihnen sich vertrauensvoll und lernbegierig um den kenntnisreichen Gymnasial-Veteranen drängten.

In diesem engern Freundeskreise verbrachte Theodor fast allabendlich seine Mußestunden bei des Herzogs vertrautem Kammerdiener Lunecke, welcher nach Verrichtung seines großenteils mechanischen, Kopf und Herz aushöhlenden Dienstes am liebsten mit gemütvollen und gebildeten Jünglingen wie Theodor verkehrte. Dieser äußerst gutmütige und gefällige Mann legte ihnen die neuesten Werke der Literatur, welche der geistig immer weiter strebende Fürst bis in sein höchstes Greisenalter zu seiner Privatlektur anschaffen und dann der öffentlichen Bibliothek einreihen ließ, zuvor in seinem Zimmer zu gemeinsamer Benutzung bereit. Dort wie an andern Abenden auf dem einsamen Zimmer des nicht minder strebsamen und patriotisch begeisterten, Wetzstein, eines Gehilfen in der Hofbuchhandlung, verlebte Theodor mit seinen Freunden Geist und Herz erquickende und für seine literarische Fortbildung wichtige Stunden.

Auf Lunecke's Stube fand regelmäßig auch an je zwei Abenden in der Woche eine musikalische Unterhaltung statt, an welcher außer einigen Mitgliedern der herzoglichen Kapelle auch Theodor selbst als Geigen- oder Bratschenspieler tätigen Anteil nahm. Der Sinn für Musik hatte sich in ihm teils bei diesen Gelegenheiten, teils bei den Konzerten entwickelt, welche von einer trefflich besetzten Kapelle im Schlosse aufgeführt wurden und zu welchen der leutselige Fürst den Bewohnern der Residenz den Zutritt oft bis zur Überfüllung des Saales gestattete, und bald erweckten in ihm besonders die Mozartschen und Beethovenschen Streichquartette ein brennendes Verlangen, Violine spielen zu lernen. Gleich die ersten Versuche, welche er ganz allein für sich und dann unter der bereitwilligen und unentgeltlichen Leitung des auf sein Talent aufmerksam gewordenen Hofkapellisten von Peier, eines Mitgliedes der Lunecke'schen Gesellschaft, anstellte, gelangen vortrefflich, und wie er denn Alles, was er von freien Stücken ergriff, mit leidenschaftlichem Eifer und eine Weile fast ausschließlich betrieb, so hatte er es in unglaublich kurzer Zeit auf seinem Instrumente so weit gebracht, dass er nicht nur sich selbst damit manche Stunde der Muße erheiterte, sondern auch an den Musik-Aufführungen bei Lunecke teilnehmen konnte und seinen Freunden den Genuss eines überaus zarten Spieles gewährte. Namentlich erinnert sich Lunecke in den Briefen, die er ihm nachmals nach Jena schrieb, der Bocksoli, die er von Keinem mehr so reizend habe vortragen hören wie von Theodor. Seine musikalischen Leistungen erwarben ihm damals einen Spitznamen, welcher ihm noch während seiner Jenenser Studienzeit geblieben ist. Die Strelitzer Freunde nämlich verwandelten seinen von der Mutter plattdeutsch in „Thedur“ korrumpierten Taufnamen scherzend in „C Dur“, und Theodor mochte sich denselben wohl um so eher gefallen lassen, da die entsprechende Tonart von allem Kreuz frei und überhaupt nichts ihr vorgeschrieben ist. Waren ihm doch die Vorschriften von väterlicher und das Kreuz, insbesondere das Hauskreuz, von mütterlicher Seite tief verhasst.

Hatte er durch sein Saitenspiel die Herzen seiner Freunde einmal recht weit geöffnet und gehoben und zur Andacht gestimmt, und der Abendhimmel war hell und reich besternt, dann eilte er am liebsten mit ihnen hinaus auf eine Anhöhe, das Fernrohr und die Bode'schen Himmelscharten unterm Arm, zeigte und beschrieb den minder Kundigen die Sternbilder, erklärte ihnen den Lauf der Himmelskörper und wusste schließlich das lehrreiche Gespräch mit begeisterten Worten auf das unermessliche Gebiet menschlichen Forschens zu lenken und die Geister über den Glanz der sichtbaren Welt hinaus in das Gebiet des Glaubens aufzuschwingen, „wo der Thron des allmächtigen Schöpfers und Ordners der Welt stehe, vor dessen Allweisheit jede menschliche Zunge verstummen müsse und der ohnmächtige, trotz alles Wissens in seinem Nichtswissen sich erkennende Erdensohn sich in tiefster Demut zu beugen habe.“ Auch das waren recht selige Freuden und Hochgenüsse für den gemütlichen Theodor selbst wie für die Freunde, in welchen er sie anzuregen und zu pflegen wusste.