Abschied von den Freunden

Wie erfreulich und schön aber auch im Vergleich mit der frühern Zeit, besonders durch den auf Übereinstimmung idealen Strebens gegründeten Verkehr mit jüngern und altern Freunden, während der letzten Jahre für Theodor das Leben in Strelitz sich gestaltet hatte, für die Dauer konnte es seinem rastlos weiter strebenden Geiste nicht genügen. Und als er von Semester zu Semester einen trauten Genossen nach dem andern voll des Feuereifers, den er selbst in ihnen hatte anfachen und schüren helfen, seine Vaterstadt verlassen und der Hochschule zueilen sah, und für ihn selbst die Aussicht auf das gleiche Ziel sich immer noch nicht zur Genüge lichten wollte, da erzeugte die unbefriedigte Sehnsucht in ihm zu Zeiten eine tiefe Schwermut, welcher er im Briefwechsel mit seinen entfernten Freunden Luft zu machen suchte, oder es fuhren ihm verzweifelte Pläne durch den Kopf, von welchen sich freilich bei der ihm damals schon geläufigen Ironie nicht wohl sagen lässt, wie weit sie ernstlich gemeint waren. Die vor ihm abgegangenen Kameraden bedauern ihn in ihren Briefen, „dass er immer noch gebannt sei in die Klause, welche seinem nach dem Edelsten und nach echter Wissenschaft strebenden Geiste fürwahr nicht fromme,“ und sie sprechen ihm Trost und Mut zu: „Verzage nicht; lass deinen sonst so kühnen Mut nicht sinken, wenn sich auch Alles gegen dich auflehnt. Rechne auf die Freunde, die gern ihr Leben mit dir teilen. Nur vor dem Soldatwerden nimm dich in Acht.“ Mit diesem Plane hat es damals wohl keine andere Bewandtnis gehabt als mit jenem Wunsche, welchen er etwa vierzig Jahre später von Hofwyl aus, als die dortigen Erziehungsanstalten aufgehoben waren, an seinen Freund Holzinger in Aarau schrieb: „Ich wollte, die Berner Regierung stellte mich provisorisch als Straßeninspektor an; das ist kein übler Posten im Sommer.“

Im Frühjahr 1810 endlich kam die Erlösung. Die im Hause des Herrn v. Oertzen gemachten Ersparnisse reichten dazu freilich bei weitem nicht aus; aber der zur Unterstützung wissenschaftlich aufstrebender Jünglinge seines Landes jederzeit bereitwillige Herzog Karl, von verschiedenen Seiten her auf den talentvollen und kenntnisreichen Schreibersohn aufmerksam gemacht, setzte ihm zur Ermöglichung seiner akademischen Studien aus seiner Privatkasse ein vierteljährlich auszuzahlendes Stipendium von je fünf Louisd'or aus, und zugleich verpflichtete sich der wohlhabende Vetter Amtmann in G*, zu demselben Zwecke während dreier Jahre je hundert Thaler beizutragen. Dies war zunächst freilich nur eine Gegenleistung für einen von der Müller'schen Seite geleisteten Dienst. Der junge Sohn des Amtmanns nämlich war seit mehreren Jahren, während er die öffentliche Schule in Neustrelitz besuchte, Pensionär in dem Müller'schen Hause, und Theodor hatte ihn zugleich in seiner geistigen Pflege gehabt. Es hatte sich aber noch ein innigeres und zarteres Band zwischen den beiden Familien geknüpft. Der Herr Amtmann besaß unter andern Schätzen auch eine liebenswürdige Tochter, für welche Theodor eine jugendlich schwärmerische Neigung hegte. Auch war Fräulein Minchen dem muntern und gemächlichen Vetter von ganzem Herzen zugetan, und die beiderseitigen Eltern hatten die jungen Liebenden bereits vor dem Abgang des künftigen Pfarrers Theodor vom Gymnasium, wie dieser in spätern Jahren selbst eingestand, im Stillen mit einander verlobt. Den Kameraden war dieses Verhältnis nicht ganz unbekannt geblieben, und sie deuteten wohl zuweilen mit scherzhaften Sticheleien darauf hin, welche der schüchterne und verschämte Liebhaber unter verräterischem Erröten abwies, um so mehr, da der festere Bund, welcher seine Liebe krönen sollte, noch in so weiter Ferne lag. Diesen damals heiß ersehnten Bund, welcher Müllers ganzem Leben ein wesentlich anderes Gepräge aufgedrückt haben würde, hat die Ungunst der äußern Verhältnisse, die freilich mit der freiwillig eingeschlagenen Lebensrichtung enge zusammenhing, nicht zu Stande kommen lassen. Auch stieg den Liebenden in ruhigern Stunden schon damals die Ahnung eines solchen Ausgangs auf und verbitterte ihnen die letzte Zeit ihres Zusammenseins.


Am meisten aber wurde ihm die Freude über die so lange herbeigewünschte Eröffnung der akademischen Laufbahn durch den Gedanken an die Trennung von seinen teueren Schulgenossen getrübt. Noch einmal feierte er mit ihnen unvergessliche Weihestunden. Am Abend des 13. März standen sie alle in traulichem Kreise auf der Höhe des nahen Glambecksees; Hand in Hand gelegt, mit entblößten Häuptern, hinaufschauend in den klaren, mondbeleuchteten Himmel, und tief ergriffen von dem Augenblicke des Scheidens aus der holden, gemeinsam verlebten Jugendzeit, schwuren sie sich mit hocherhobener und fester Stimme ewige Liebe und Freundschaft und riefen, Wehmut im Herzen und Tränen im Auge, den Herrn über den Sternen an, dass er ihnen verleihen möge, recht bald in Treuen und Ehren einzustehen für das hart bedrängte und schmählich geknechtete Vaterland und dereinst nach mannhaft erfüllter Pflicht sich an derselben Stätte wiederzufinden und dankend und lobpreisend aufs neue Brust an Brust zu schmiegen, zum Zeugnis vor Gott, dass ihr Bund ein heiliger, in seinem Geiste geschlossener sei.*)

*) „Der Herr hat's anders gefügt; unsere Gedanken waren nicht seine Gedanken!“ So ruft nach fünfzig Jahren einer jener Freunde, K. Horn, am Schlusse seines Berichtes über jenen Abend in heiliger Wehmut aus. „Du, teurer Alexander von der Osten, starbst nach wenigen Jahren den Heldentod fürs Vaterland in der Schlacht bei Bautzen; du, Mutmann, reihtest dich zu den Vätern nach kurzem, segenvollem Dienste im Pfarramt, und auch du, herrlicher Karl von Behr, welktest früh dahin, geknickt von den Anstrengungen des unter Lützow begonnenen Feldzuges. Und wo magst du weilen, freundlicher Sydow? Und ihr Übrigen, die ihr zerstreut wurdet hierhin und dorthin und die Stätte nicht zu erreichen vermöget? Nun sieht das sterbliche Auge auch unsern lieben Theodor nicht mehr — wie soll sich das jugendlich frische Gelübde erfüllen? Lasst uns, die Überlebenden, uns beugen unter die gewaltige Hand Gottes, dass er gleich unserm Theodor auch uns erhöhe zu seiner Zeit!“ —

Nach jenem Abend litt es Theodoren nicht mehr in der Nähe der Freunde, von welchen er scheiden sollte. Um sich wenigstens von dieser einen Seite den Abschied zu erleichtern, eilte er ohne ihr Vorwissen noch einmal zu der Familie der Geliebten nach G* und kehrte nach einigen Tagen in das väterliche Haus nur zurück, um rasch sein Bündel zu schnüren und sich nach Jena auf den Weg zu machen. Die Hoffnungen und Segenswünsche seiner Eltern und Verwandten, Lehrer und Freunde folgten ihm nach. Wie tief von den zurückbleibenden Mitschülern sein Verlust empfunden wurde, davon geben die hinterlassenen Briefe Zeugnis. Sie vermissen in ihm die Seele ihrer abendlichen Zusammenkünfte. „Du fehlst uns beständig, heißt es, um dem Gespräch mehr Unterhaltung und Feuer zu geben. Umschwebe uns oft mit deinem Geiste!“ „Möge der Himmel — so ruft sein Busenfreund K. Horn im Namen Aller ihm nach — die aufrichtigsten Wünsche unserer Herzen erfüllen und dein begonnenes Werk zu einem herrlichen Ausgang führen! Möge er unsern heiligen Bund segnen und uns einst auf einem erwünschten Standplatz des Lebens vereint im wahren Geiste der Humanität für das Wohl der leidenden Menschheit wirken lassen! Das ist der Ausbruch unserer gepressten Herzen; das sind die Gedanken, die sich so oft in traulicher Unterhaltung deine entfernten Freunde mitteilen, treu bestrebt, deiner würdig zu bleiben.“ Und mit brennender Ungeduld und in banger Ungewissheit wegen seines Wohlseins und seiner Zufriedenheit mit dem jetzigen, so lange ersehnten Zustande erwarten sie den ersten Brief des Jenenser Studenten. —

Wir aber können von jenen Jünglingen nicht scheiden, ohne ihrer schwunghaften Begeisterung für alles Ideale im Menschenleben, dem reinen und heiligen Ernst ihres Strebens unsere Anerkennung zu zollen. Und wenn sich darin eine jugendliche Überschätzung der eigenen Kraft, ein träumerisches Hinausschweifen in nebelhafte und unerreichbare Fernen, eine romantische Überschwänglichkeit kundgibt, über welche Altklugheit, Niedertracht und schmutzige Selbstsucht vornehm lächeln mag: wir erkennen in jenem Träumen und Sehnen bereits den Vorboten des Geistes, welcher wenige Jahre später unter der kräftigsten Mitwirkung der akademischen Jugend die äußern Ketten Deutschlands zerbrach und die Sündenspuren der Fürsten und Fürstendiener mit dem Blute des deutschen Volkes wegschwemmte. Die boden- und schrankenlosen idealen Räume, in welchen jene Jünglinge herumschwärmten, waren nur das einstweilige Asyl, in welches die edleren Geister Deutschlands damals aus dem Kerker des realen Lebens sich flüchteten und in welchem allein sie noch Trost, Erquickung und Ermutigung fanden in jener Zeit der schmachvollen Erniedrigung und Ohnmacht, wo der eiserne Druck der französischen Militärdespotie jede Regung zu volkstümlicher Tat daniederhielt. Sobald einmal die Flammen Moskaus in die Nacht der deutschen Knechtschaft hineinleuchteten und Yorks kühner Entschluss den Anbruch des Befreiungsmorgens ankündigte, ballte sich jener romantische Nebel zu der Sturmwolke des tatkräftigsten Patriotismus zusammen, welche mit Blitz und Donner von Ost nach West über die deutschen Gaue dahinfuhr bis ins Herz Frankreichs und Luft und Boden des Vaterlandes von den fremden Elementen rein fegte. In diesem Gewittersturme werden wir die Jünglinge, welche am Abend des 13. März auf der Höhe des Glambecksees um Theodor Müller versammelt waren, samt den ihnen zur Hochschule vorangegangenen Kameraden wiederfinden, siegend oder fallend, alle wacker kämpfend, sei es mit der Waffe des Wortes oder mit dem Schwerte.

Anmerkung.

Zu den älteren Schulgenossen Müllers gehörten unter andern: Ludwig Fischer, eines Goldarbeiters Sohn, nach einigen Jahren schon in Petersburg gestorben, ein vielversprechender philosophischer Kopf, Fr. Rose, Sohn eines Hofchirurgus, als Arzt in Berlin gestorben, L. Flotow, eines armen Schulhalters Sohn, eine Zeit lang Lehrer in Pestalozzis Anstalt zu Ifferten, zuletzt Pfarrer im Preußischen, L. Corty, früher Philolog, später Direktor der Phönix-Assekuranz in Hamburg, Friedrich Horn, als Geh. Sekretär und Hofrat in Neustrelitz gestorben;— zu denen aus den letzten Jahren: K. Horn, des Letztern Bruder, 1812 Student in Jena, 1813 Lützower, 1815 nach Jena zurückgekehrt, einer der Hauptstifter und ersten Vorsteher der Jenaer Burschenschaft, jetzt Pfarrer zu Badresch in Mecklenburg-Strelitz, derselbe, welchem der Verfasser die umfangreichsten Mitteilungen aus Theodor Müllers Jugendleben verdankt, K. Wernicke, ging 1813 mit zu Felde, jetzt Gutsbesitzer von Helmsdorf bei Berlin, Alexander von der Osten, Sohn eines Gutsbesitzers in der Nettmark, in der Schlacht bei Bautzen gefallen, K. von Behr-Negendank, bald nach dem unter Lützow mitgemachten Feldzuge auf seinem Gute Semlow in Vorpommern gestorben, Ulrich Becker, schon vor Müller Lehrer in Hofwyl, zuletzt Direktor der Domschule zu Ratzeburg, Walther, Lützower, dann eine Zeit lang privatisierend in Friedland, jetzt Gutsbesitzer bei Danzig, Adolf Götze, jetzt Pastor in (J. H. Vossens) Grünow, Friedrich Zander aus Altstrelitz, späterhin allgemein geachteter und beliebter Gerichtsrat in seiner Vaterstadt, Ludwig Zander aus der Nähe von Güstrow in Mecklenburg-Schwerin, seit Ulrich Beckers Tode Direktor der Domschule zu Ratzeburg. Auch die drei Letztern nahmen als Lützower Jäger an dem Feldzuge gegen Napoleon Teil.